Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Einige Thesen zum Islamismus als globaler Herausforderung

Seit dem Zerfall der Sowjetunion und dem damit einhergehenden Wegfall der bipolaren Spannun­gen in den zwischenstaatlichen Beziehungen ver­ging kaum ein Tag, an dem es nicht Meldungen über radikale Aktionen der Islamisten in irgendei­nem Teil der Welt und die entsprechenden Reak­tionen darauf gab. Jedoch waren es bis zum 11. September vor allem die Regierungen der isla­misch geprägten Gesellschaften, die die Islamisten als ernsthafte Bedrohung der dort bestehenden Herrschaftsverhältnisse empfanden. Seit den Ter­roranschlägen in den USA werden sie nunmehr als globale Bedrohung empfunden, gegen die die gesamten mentalen Energien und materiellen Res­sourcen der Völkergemeinschaft unter amerikani­scher Führung mobilisiert wurden.

Die Schwierigkeit dieses als „Krieg des Jahrhun­derts" deklarierten Kampfes gegen die islamisch geprägten Terrororganisationen liegt in seiner neuen Qualität, die es äußerst unwahrscheinlich macht, ihn mit konventionellen Mitteln zu gewin­nen, selbst wenn einige militärische Schlachten gewonnen werden. Diese Bedenken spüren sogar Teile der US-Regierung. Zugleich äußerte der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Zweifel, ob die USA das Hauptziel ihres Feldzuges gegen Afghanistan erreichen und Osama Bin Laden fas­sen werden. In einem Interview sagte er: „Die Welt ist groß. Er hat viel Geld, er hat viele Unter­stützer. Ich weiß nicht, ob wir Erfolg haben wer­den."[1]

Dieser Zweifel ist vor allem deswegen berechtigt, weil in der Regel die Sozio- und Psychogenese des Islamismus nicht angemessen berücksichtigt wird, den man bereits als neueste Form des Totalitaris-mus vom Islam als wahrer Religion der Muslime unterscheidet. Folgen sind die Simplifizierung des Problems in Form der Personifizierung einer sozia­len Bewegung in Gestalt von einigen Terroristen­führern, begleitet durch das mangelnde Verständ­nis für die zunehmende Massensympathie für ihre inzwischen weltweit vernetzten Organisationen. Die Erfahrung dieser zunehmenden Sympathie scheint inzwischen auch zu einer Änderung der Wahrnehmung in den USA geführt zu haben, denn der amerikanische Nahostexperte Daniel Pipes stellte fest: „Der weite und tiefe muslimische Enthusiasmus für Bin Laden ist eine extrem wich­tige Entwicklung und sollte verstanden und nicht ignoriert werden."[2] Pipes legt das Ergebnis mehre­rer Umfragen in verschiedenen islamisch gepräg­ten Gesellschaften zugrunde und schätzt, dass Bin Laden inzwischen bereits die emotionale Unter­stützung der Hälfte aller Muslime der Welt genießt. Man darf nicht vergessen, dass Muslime 20 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Folglich sympathisieren jetzt schon global etwa zehn Pro­zent aller Menschen mit Bin Laden. Sie setzen ihn an Stelle ihres Ich-Ideals, identifizieren sich als Massenindividuen miteinander und bilden so eine Masse im psychologischen Sinne.[3]

Aus der bisherigen Vernachlässigung der sozialen Basis des Islamismus ergibt sich eine problema­tische Orientierung der gemeinsam getragenen Lösungsstrategien der Allianz, die wahrscheinlich längerfristig sogar unabsehbare Folgen haben dürften. Ohne eine angemessene Umorientierung und die Abkehr von einer bisher dominanten Dop­pelmoral der Alliierten würden sich daher die bestehenden Spannungen und Konflikte mögli­cherweise sogar verschärfen. Die bisher zu beob­achtende Eskalation der Gewalttätigkeit in den islamisch geprägten Gesellschaften bestätigen diese Prognose. Diese Dynamik der Entwicklung wäre nachvollziehbar, wenn man nicht die Struk­turähnlichkeiten der inner- und zwischenstaatli­chen Spannungen und Konflikte vernachlässigen würde. In der Regel werden jedoch nicht nur diese Strukturähnlichkeiten vernachlässigt, son­dern auch ihre Interdependenzen.

Um eine mögliche Richtung der Umorientierung zu thematisieren, mit der man die beschriebenen Verständnismängel überwinden und die Eskala­tion des Konfliktes verhindern könnte, möchte ich hier einige Thesen kurz diskutieren:

Es wäre der Realität angemessener, den Islamis­mus nicht als eine totalitäre Ideologie der extrem gewaltbereiten Muslime zu begreifen, die den Islam missbrauchen, im Unterschied zum Islam als der wahren Religion der sonst friedfertigen Mus­lime. Mit dieser Stigmatisierung eines als bedroh­lich empfundenen Gegners und der Unterstellung eines rationalen Kalküls der Islamisten kann man zwar die eigenen Reaktionen legitimieren, behan­delt aber nur die Symptome. Eine radikale Behandlung des Phänomens als ein soziales Pro­blem setzt also voraus, den Islamismus genauso wie den Islam als ein Glaubenssystem im Sinne eines mehr oder weniger gefühlsbetonten Orien­tierungsmittels der islamisch geprägten Menschen zu begreifen, die keineswegs verrückt sind - selbst wenn ihre Handlungen scheinbar einer anderen Rationalität folgen. In diesem Sinne ist der Isla­mismus - wie jedes Glaubenssystem - vor allem ein mehr oder weniger von Gefühlen besetztes Begriffssystem, mit dessen Hilfe sich eine bestimmte Gruppe von Menschen vor allem die Gesellschaft vorstellt, die sie miteinander bilden, sowie die größtenteils unbewussten, mehr oder weniger engen emotionalen Bindungen, die sie mit ihr haben. Sein Hauptziel ist nicht, diesen Men­schen eine Interpretation der physischen Welt zu geben.[4] Wäre das der Fall, dann wäre die religiöse Orientierung vieler Naturwissenschaftler nicht zu erklären. Zudem könnte man nicht verstehen, wie es möglich ist, dass natur- und ingenieurwissen­schaftlich ausgebildete Menschen die Kerngruppe der Islamisten bilden, aus der sich die Selbstmord­attentäter vom 11. September rekrutierten. Was die Selbstmordattentäter jedoch manifestieren, ist eine Ambivalenz der Orientierung als einen we­sentlichen Aspekt des Glaubenssystems, der schon dadurch denkbar ist, dass zweierlei Typen von Bin­dungen nebeneinander bestehen können, auch wenn sie sich im Konflikt miteinander befinden.

Als Glaubenssystem hat der Islamismus - wie jede andere Glaubensvorstellung - neben der verhal­tenssteuernden Funktion zugleich identitätskonsti­tuierende und -regulierende Funktionen: Er gibt den Menschen Antworten auf die Fragen, wer sie sind und wofür es sich zu leben bzw. notfalls zu ster­ben lohnt, wenn es das Überleben der sozialen Ein­heit als Bezugsrahmen erfordert. Er verleiht ihnen das Gefühl für den eigenen Sinn und Wert als Einzelne und zugleich als Angehörige ihrer sozialen Überlebens- und Sinneinheit. Als Teilhabern an einer solchen sozialen Einheit wird ihnen nicht nur das eigene physische Überleben gesichert, sondern es wird den Menschen ein Weiterleben nach dem physischen Tod in der Erinnerung der Menschen möglich gemacht. Als ein religiöses Glaubenssys­tem unterscheidet der Islamismus sich von säkulari­sierten Glaubenssystemen durch den Grad seines Phantasiegehaltes bzw. seiner Realitätsangemes­senheit. Er verspricht den Menschen für den hohen Preis, den sie als Angehörige der Glaubens­gemeinschaft zu zahlen haben, mehr als die eher säkularisierten Glaubenssysteme, nämlich einen Wert und Sinn, der das eigene Leben transzendiert.

Der Islamismus stellt den Orientierungsrahmen einer sozialen Bewegung dar, die den Verhaltens­und Erfahrenskanon einer älteren islamischen Führungselite als Islam idealisiert und zu Gottes unveränderbarem Gesetz macht. Er ist eine Ent­wicklungsform des normativen Bildes, das eine bestimmte Gruppe von Muslimen von der sozialen Welt hat und das auf die erinnerte Epoche einer islamischen Vormachtstellung zurückgeht. Der Islamismus repräsentiert in diesem Sinne eine nor­mative Vorstellung einer gottgefälligen Macht- und Statusbalance, die nur zugunsten der Muslime geneigt sein darf. Folglich erscheint den Islamisten vor allem die gegenwärtige zwischenstaatliche Verteilung der Macht- und Statusquellen als unge­recht, weil sie eine mit Gruppencharisma ausge­stattete Gemeinschaft der gottesfürchtigen Mus­lime benachteiligt.

Das gemeinsame Erfahrungsbild aller Muslime von der sozialen Realität stellt die gemeinsame Wurzel des Islam und Islamismus dar. Doch obwohl deren Wurzeln in den früheren Schriften und Denktraditionen liegen mögen, ist der Islamis­mus ein Phänomen der Gegenwart. Dementspre­chend kann man auch nicht leugnen, dass er eine Reaktion der im Modernisierungsprozess involvierten Menschen gegen moderne Probleme ist. Die Frage ist jedoch, welche Probleme?

Meiner Ansicht nach sind islamistische Bewe­gungen nativistisch[5] orientierte chiliastische Erhe­bungen[6]6. Sie entstanden als Umschlag des chiliastischen Quietismus der islamisch geprägten Menschen in ihren chiliastischen Aktivismus. Begreifen wir den als „Prinzip Hoffnung" bekann­ten Chiliasmus als kollektive Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung paradiesischer Glückszustände auf Erden, wie sie sich religiös im Glauben an ein Reich der Gerechtigkeit nach der Wieder­kehr des Erlösers ausdrückt, und verstehen wir unter Quietismus im Unterschied dazu eine Orientierung der Menschen auf eine Verschmel­zung mit Gott durch wünsch- und willenloses Sichergeben in seinen Willen, die sich in ihrer apokalyptischen Weltabgeschiedenheit und völli­ger Ruhe ihres Gemüts manifestiert, dann sind islamistische Bewegungen Ausdruck des Umschlagens einer kollektiven Aufbruchsbereitschaft der islamisch geprägten Menschen für die Herstel­lung paradiesischer Glückszustände bzw. Gerech­tigkeit auf Erden in einen kollektiven Aufbruch von nativistisch orientierten Menschen, d.h. von Menschen, die ihren eigenen Selbstwert als Gruppe demonstrativ hervorheben. Als nativistische Bewegung ist der Islamismus also eine der aktiven Durchsetzungsformen eines neuen Vertei­lungsschemas der Symbole der Überlegenheit, an denen das Selbstwertgefühl der aufstiegsorientier­ten, islamisch geprägten Menschen haftet.

Gegenwärtig zeigt sich die Kraft der lebensstei­gernden Funktion des Selbstwertgefühles unter anderem in der Neigung, den Wert der eigenen Gruppe auf Kosten des Wertes anderer zu erhö­hen.[7] Der Selbstwert, sowohl in den eigenen Augen als auch in den Augen anderer sozialer Formationen, bestimmt sich daher durch die Machtkämpfe zwischen verschiedenen Menschen­gruppen. Folglich ergibt sich die zwingende Kraft der Selbst- und Fremdwertbeziehungen nicht zuletzt aus der Furcht der Menschen voreinander, vor der physischen Vernichtung, Versklavung, Ausbeutung, Abhängigkeit bzw. Vernichtung der Sinngebung. Die Angst vor einem drohenden Sinnverlust ruft schließlich nicht selten Gefühle extremer Feindschaft hervor - derart, dass die Gläubigen bereit sind, die als Gegner empfunde­nen Andersgläubigen zu vernichten, um ihr eige­nes Glaubenssystem und ihre Tradition bzw. ihre Höherwertigkeit zu garantieren.

Diese Deutung wird einem nahe gelegt, wenn man diesen Menschen aufmerksam zuhört und ihr Anliegen ernst nimmt, anstatt sie zu pathologisieren und so als sprachlose, extrem gewaltbereite Verrückte zu stigmatisieren, die keine andere Sprache mehr verstehen als die der Gewalt. Nur so kann man sie, samt ihrem Leidensdruck, verste­hen. Denn wo es Leiden gibt, ist auch Leiden­schaft. Es ist ihr unerträglicher Leidensdruck, der diese Aktivisten dazu treibt, für die Herstellung neuer   Selbstwertbeziehungen,   im   Sinne   der Umkehrung der bestehenden Macht- und Status­ordnung, sogar sich selbst zu opfern. Die Notwen­digkeit dieser destruktiven Tendenzen wird z.B. durch Ayatollah Chomeini hervorgehoben, der bereits in den sechziger Jahren seine berühmte Formel prägte: Der Islam sei ein Baum, der nur wachsen könne, wenn er durch das Blut der Jugend genährt werde. Zu lange schon hatten sei­ner Auffassung nach die Muslime den Tod gefürchtet, und um ihn zu umgehen, einen hohen Preis bezahlt - den des unwürdigen Lebens in einer Tyrannei.[8]

Mit der Ablehnung der passiven Geisteshaltung der Quietisten, die besonders durch das Streben nach einer gottergebenen Frömmigkeit und Ruhe des Gemüts gekennzeichnet ist, unterscheiden sich die chiliastischen Aktivisten also dadurch, dass sie nicht mehr auf den Erlöser warten können. Der Höhepunkt dieser Selbsterlösung ist das Selbst­mordattentat, das man als ein Umschlagen der kol­lektiven Trauer der islamisch geprägten, aufstiegs­orientierten Menschen in einen Hegemonialrausch interpretieren kann.

In dieser affektiven Enthemmung manifestiert sich das Umschlagen von der Bereitschaft zum Auf­bruch in den praktischen Aufbruch zur Herstel­lung der Gerechtigkeit. Dieses Umschlagen ist Folge des Wandels der Bedürfnisstruktur der sie­gesgewissen chiliastischen Aktivisten, die von Achtung und Selbstachtung dominiert wird. Die­ser Strukturwandel ist aber das Ergebnis der zunehmenden Befriedigung der ökonomischen Be­dürfnisse, welche die nichtökonomischen Bedürf­nisse in den Vordergrund drängt und so zunächst die wohlhabenderen Schichten zur Kerngruppe der islamistischen Selbstmordattentäter werden lässt. Ihre affektive Enthemmung dokumentiert zugleich einen Ent-Zivilisierungsschub ihres Ver­haltens und Empfindens als Bumerangeffekt einer erfahrenen unerträglichen Demütigung durch die Etablierten dieser Welt, die sie als eine Kriegser­klärung begreifen. Diese als Kriegszustand erfah­rene Konfliktlage, die sich aus einer bestimmten Machtbalance zu ihren Ungunsten ergibt, ruft diesen Strukturwandel der Bedürfnisse hervor. Diesen Zusammenhang möchte ich kurz ausfüh­ren.

Wie in jedem zivilisationsbegründeten normativen Selbstbild der Menschen als Einzelne und Gesell­schaften im Sinne eines Orientierungs- und Kon­trollmittels ist die Anwendung von Gewalt gegen sich selbst und andere Menschen auch im Islam untersagt. Selbstmord wird daher als Todsünde betrachtet. Allerdings gibt es auch in diesen Gesellschaften, genauso wie in allen anderen, eine heilige Pflicht zum altruistischen Selbstmord. Im Unterschied zum egoistischen Selbstmord, also Intihar, heißt diese individuelle Aufopferung für die Gemeinschaft Ishtihad. Sie ist in einem als hei­lig erklärten Krieg, Djihad, eines der höchsten Gebote, für dessen Erfüllung der direkte Zugang zum Paradies versprochen wird.

Hier unterscheiden sich die kulturell unterschied­lich geprägten Gesellschaften nicht in der Hero­isierung des altruistischen Selbstmordes im Einsatz zur Verteidigung der Gemeinschaft, sondern nur in der Art ihrer „Belohnung". Mit der zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaften wird auch diese verweltlicht. Aus diesem Grunde werden Kriege stets als Akte der kollektiven Selbstverteidigung legitimiert, in der der Einsatz jedes Mittels erlaubt zu sein scheint. Aus dieser blutigen Erfahrung he­raus entstanden internationale Konventionen, die solchen destruktiven Tendenzen zivilisatorisch definierte Grenzen setzen, deren Einhaltung die Weltgemeinschaft institutionell zu sanktionieren versucht.

Es wäre daher eine „pars pro toto Verzerrung"[9]der Realität, zivilisatorische Standards verletzende Taten einer Gruppe kulturspezifisch zu reduzie­ren. Doch die kriegerischen Aggressionen und die damit freigesetzten affektiven Enthemmungen sind gegenwärtig Aspekte der nationalstaatlichen Organisationsform der Menschheit als Angriffs­und Verteidigungseinheiten, die in sich wiederum zumeist ethnisch und konfessionell differenziert werden. Diese Organisationsform ist einerseits gekennzeichnet durch zunehmende Zivilisierung innerstaatlicher Beziehungen im Sinne der Suspen­dierung der physischen Gewalt als Regulations­prinzip der Konkurrenz- und Ausscheidungs­kämpfe um die verfügbaren Macht- und Statuschancen. Sie geht aber andererseits einher mit einer gleichzeitigen Heroisierung der physi­schen Gewalt in zwischenstaatlichen Beziehungen, deren Notwendigkeit als Selbstverteidigung legiti­miert wird. Der Krieg ist samt seinen Begleiter­scheinungen Ausdruck der Abwesenheit einer effektiven Gewaltkontrolle in den zwischenstaatli­chen Beziehungen. Die sich ausschließenden Glau­bens- und Verhaltenstraditionen sind ihrerseits einer der Hauptgründe für die Wiederkehr einer wachsenden reziproken Bedrohung und Furcht auf der internationalen Ebene, bis hin zum Krieg.[10] Die affektive Enthemmung der involvierten Men­schen in Jugoslawien, die einherging mit einer Eth­nisierung und Konfessionalisierung der Konflikte, zeigte zuletzt eindeutig, dass solche entzivilisieren­den Tendenzen nicht kulturspezifisch erklärbar sind, sondern nur aus der Abwesenheit einer effek­tiven Gewaltkontrolle. Eine solche Suspendierung der physischen Gewalt als Folge der zentralstaat­lichen Gewaltkontrolle ergibt sich in der Regel durch Monopolisierung der Gewaltandrohung und Gewaltanwendung in einem reversiblen Staatsbil-dungsprozess. Bei der Abwesenheit dieser effek­tiven Gewaltkontrolle ebenso wie bei ihrem fort­gesetzten unregulierten Missbrauch geht die affektive Enthemmung der Menschen aus ihren feindlichen Beziehungen hervor. Dabei hängt der Grad der Enthemmung vom empfundenen Grad der Bedrohung ab. Es ist also die wahrgenommene Gefahrensituation, die solche affektiven Enthem­mungen hervorruft, die als zivilisatorischer Verfall der Sitten empfunden und wie im Falle der Angriffe vom 11. September als barbarischer Akt verurteilt werden. Die Affektivität der Handlungs­zusammenhänge erzeugt einen Teufelskreis der Bedrohung, welcher ständig die Affektivität der Handlungen erhöht - mit tödlichen Folgen für Tau­sende von unschuldigen Menschen. Aber selbst dies liegt in der Natur jedes Krieges, der die zivilisa­torisch kontrollierten destruktiven Tendenzen frei­setzt.

Kriege sind kollektive Angriffs- und Verteidi­gungshandlungen der Menschen, die sich durch die Reichweite ihrer Identifikation mit Menschen zivi­lisatorisch voneinander unterscheiden. Die Natio­nalisierung, Ethnisierung und Konfessionalisie­rung sozialer Konflikte manifestieren also die Reichweite der Identifikation der involvierten Menschen mit Menschen unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit auf unterschiedlichen Inte­grationsebenen. Im Falle der Islamisten erstreckt sich die Reichweite ihrer Identifikation auf ihre Glaubensbrüder, auf die idealisierten Muslime als eine Gemeinschaft, an die sie sich als eine Hegemonialmacht erinnern.

Für die Wiederherstellung dieser erinnerten hegemonialen Machtposition der Muslime sind sie zu jedem Opfer bereit, weil sie sich am idealisierten Bild aus der Zeit ihrer Größe ausrichten und dieses für sie als verpflichtendes Modell weiterlebt. Ihr als heilig erklärter Krieg, den sie mit dem Einsatz ihres eigenen Lebens führen, ist daher die radikalste Form der Erfüllung dieser Verpflichtung. Sie wird damit zum Motor ihrer kollektiven Aufbruchsbe­reitschaft. Die handlungssteuernde Macht dieses verpflichtenden Modells ist nur dann nachvollzieh­bar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Wir-Bild und Wir-Ideal eines Menschen ebenso ein Bestandteil seines Selbstbildes ist, wie das Bild und Ideal seiner selbst als der einzigen Person, zu der er „Ich" sagt. Hinzu kommt, dass in solchen weniger individualisierten Gesellschaften das Verhältnis des Gefühlsgewichts von Wir- und Ich-Identität durch die enorme emotionale Bedeutung der Wir-Identität dominiert wird.[11] In diesen Gesellschaften erfordert daher die Teilhabe am Gruppencharisma, an den erinnerten vergangenen und gegenwärtigen Erfolgen und Leistungen der eigenen Gruppe, von jedem Einzelnen, dass er sich sogar physisch opfert, um die vorgestellte eigene Größe wiederherzustel­len bzw. zu sichern. Das hohe Selbstbild bzw. die zu verwirklichenden Gruppenziele haben dabei eine höhere Bedeutung für den einzelnen Menschen als die eigene physische Existenz, da die eigene Exis­tenz bzw. die eigene Sinnerfüllung viel mehr an das Bestehen der Gruppe gebunden ist.

Zu dieser Gefühlslage der Islamisten trägt vor allem ihre Erinnerung an herausragende und zugleich idealisierte Errungenschaften der Mus­lime während der ersten sechs Jahrhunderte der islamischen Herrschaft bei: Die islamisierten Gesellschaften waren in dieser Periode eine der entwickeltsten. Sie lieferten die fortschrittlichsten wissenschaftlichen und technischen Errungen­schaften und schufen ungewöhnlich siegreiche Armeen. Die islamisch geprägten Menschen erin­nern sich gern an dieses Erfolgsmuster der Mus­lime, das ihnen selbstverständlich erscheint, ver­ließ doch der Prophet Muhammad Mekka im Jahre 622 als Flüchtling, um acht Jahre später als Herrscher zurückzukehren. Man erinnert sich daran, dass schon 715 die muslimischen Eroberer ein Imperium errichteten, das von Spanien im Westen bis Indien im Osten reichte. Aus diesem Grunde schien ihr Glaube für eine lange Zeit ebenso ein Unterscheidungsmerkmal ihres höheren sozialen Ranges gegenüber anderen Gruppen zu sein. So bedeutete ein Moslem zu sein, zugleich Angehöriger einer siegreichen und dominanten Gemeinschaft von Menschen zu sein, die sich durch ihr Zivilisationsmuster von anderen abhob. Kein Wunder also, dass heutzutage manche Muslime nachträglich eine Korrelation zwischen ihrem Glauben und ihrem seinerzeitigen sozialen Aufstieg als Hegemonialmacht herstellen und sich daher als charismatische Gruppe im Sinne einer von Gott bevorzugten Gemeinschaft begreifen.

Ihre Jahrhunderte lange kollektive Trauer ist Folge der Erfahrung des sozialen Abstiegs der isla­mischen Welt seit dem 13. bzw. 15. Jahrhundert, ohne dass Muslime sich dessen bis zum 18. Jahr­hundert bewusst wurden. Während man sich im Westen auf neue Entdeckungen begab, versank die islamische Welt in dieser Zeitperiode in einer Art selbstgefälliger Ignoranz. Dies wird z. B. durch den berühmten muslimischen Intellektuellen, Ibn Khaldun, ausgedrückt, der um 1400 über Europa schreibt, „Ich höre, dass sich einiges im Lande der Römer entwickelt, aber nur Gott weiß, was dort passiert." Diese Ahnungslosigkeit machte die Muslime verwundbar, als sie nicht mehr ignorieren konnten, was in Europa inzwischen stattgefunden hatte, nämlich ein Anstieg der Machtchancen, der sich aus der Entwicklung der Triade der Grund­kontrollen ergab: der Naturkontrolle in Gestalt der technologischen Entwicklung, der sozialen Kontrolle in Gestalt der Nationalstaatsbildung und der Trieb- und Affektkontrolle in Gestalt der zunehmenden Zivilisierung des Verhaltens und Erlebens der Menschen in Europa. Es war also die fortschreitende Entwicklung dieser Triade der Grundkontrollen, die den Muslimen entging - eine Entwicklung, die schließlich zur Verlagerung der Machtbalance zwischen den islamisch und den christlich geprägten Gesellschaften und damit zu ihrem sozialen Auf- bzw. Abstieg führte.

Der dramatischste Wendepunkt der Machtbalance zu Ungunsten der Muslime wurde im Juli 1798 deutlich, als Napoleon Bonaparte in Ägypten lan­dete und so das Zentrum der muslimischen Welt mit erstaunlicher Leichtigkeit eroberte. Andere Angriffe folgten in den nächsten beiden Jahrhun­derten. Nach der zionistischen Besetzung Palästi­nas und den demütigenden Niederlagen der arabi­schen Staaten im Sechstagekrieg von 1967 scheint der wohl tragischste dieser Angriffe für Muslime wie Bin Laden die US-amerikanische Präsenz in Saudi-Arabien seit der irakischen Invasion Kuwaits zu sein: „Die größte Katastrophe, welche die Muslime seit dem Tod des Propheten erlitten haben, ist die Besetzung des Heiligen Landes von Ka'ba und die Qible durch die Christen und ihre Verbündeten"[12], verkündete Bin Laden bereits im August 1996. Zur Bekämpfung dieser „Besetzung des Bodens der heiligen Stätte"[13] fühlen sich die Islamisten deswegen verpflichtet, weil sie ihrer Wehrhaftigkeit und damit ihrer Ehre gerecht wer­den müssen: „Unser Terrorismus gegen sie, die unser Land bewaffnet besetzt halten, ist unsere Pflicht. Sie sind wie eine Riesenschlange, die in unser Haus eingedrungen ist, die man töten muss." Im Bezug auf den saudi-arabischen Herrscher fährt er fort: „Er, der ihnen erlaubt, bewaffnet in seinem Land herumzugehen, obwohl sie Frieden und Sicherheit genießen, ist ein Feigling."[14]

Aus diesem Unvermögen des saudischen Herr­schers, das staatliche Gewaltmonopol zu behaup­ten, das zugleich zu seiner Legitimationskrise führt, leiten also Islamisten wie Osama Bin Laden die Legitimation ihres Kampfes nicht nur gegen die USA ab, sondern auch zugleich gegen die als ungerecht empfundene Herrschaft im eigenen Land. Dies wird auch religiös untermauert, näm­lich durch die alternativen Fatwas - Rechtsgutach­ten - der mit der etablierten Staatsgeistlichkeit konkurrierenden Geistlichen, wie z. B. Sheikh al-Shuaibi, welche den Djihad als gegen die fremden Ungläubigen gerichteten Heiligen Krieg zu einem Kampf gegen das als ungerecht erfahrene eigene Regime ausweiten.[15] Verallgemeinert man dies, scheint die Unfähigkeit der etablierten nachkolo­nialen Staaten unterschiedlicher Prägung (wie z. B. wahabitische in Saudi-Arabien, arabisch-nationalis­tische oder arabisch-sozialistische in eher säkula­risierten Staaten wie Ägypten, Syrien, Irak) die Legitimationsgrundlage für die nativistisch orien­tierten chiliastischen Bewegungen zu liefern.

Diese Verstärkung der Legitimationskrise der bestehenden Herrschaftsverhältnisse in den isla­misch geprägten Gesellschaften ist nachvollzieh­bar, wenn man den Staat als Organisationsform allgemeiner Reproduktionsbedingungen der Ge­sellschaft begreift. Zu diesen allgemeinen Repro­duktionsbedingungen gehört vor allem der Schutz der physischen Existenz und der Integrität der Staatsbürger gegen Angriffe sowohl im Innern durch die Monopolisierung der physischen Gewalt als auch nach außen durch entsprechende Vertei­digungsbemühungen. Aus dieser existenziellen Funktion heraus wird der Staat zur Angriffs- und Verteidigungseinheit und damit zum Bezugs­rahmen der Selbsterfahrung der Menschen als Wir-Gruppe. Nur durch die Erfüllung solcher Schutz- und Trutzfunktionen können auch die Regierenden eine Legitimation beanspruchen. Ihr Versagen führt zu ihrer Legitimationskrise. Doch das Versagen der Staaten in islamisch geprägten Gesellschaften ist Ausdruck ihrer relativen Macht­schwäche gegenüber den entwickelteren Staatsge­sellschaften Europas und Amerikas - trotz ihres Zugewinns an Macht im Zuge der Transformation der Interdependenzen, die u. a. auf die Entstehung der OPEC und die neue Multipolarität zwischen­staatlicher Beziehungen seit dem Zerfall der Sowjetunion zurückzuführen ist.

Die Frustration der Muslime, die jederzeit in Aggression umschlagen kann, ist angesichts dieser für sie ungünstigen Macht- und Statusverhältnisse enorm. Dieses um sich greifende, unerträgliche Gefühl der Demütigung wird z. B. ausgedrückt durch den Imam einer Moschee in Jerusalem, wenn er hervorhebt: „Früher waren wir die Herren der Welt und jetzt sind wir nicht einmal Herr unse­rer eigenen Moschee."[16]

Aus dieser Erfahrung heraus sind vor allem die vergangenen zwei Jahrhunderte des sozialen Abstiegs der islamisch geprägten Gesellschaften gekennzeichnet gewesen nicht nur durch eine kol­lektive Trauer um eine verherrlichte Vergangen­heit, sondern auch durch Erklärungsversuche für den Verlust der einstigen hegemonialen Position der Muslime und entsprechende Überwindungs­strategien. Dabei entwickelten sich im Wesent­lichen drei Strömungen, die jeweils ein breites Spektrum umfassen. Neben säkularem Modernis­mus und islamischem Reformismus ist der Islamis­mus eine der Erklärungs- und Reaktionsmuster der islamisch geprägten Menschen.

Als sich als Folge der Industrialisierung in Europa die Machtbalance endgültig und unübersehbar zu Ungunsten der Muslime verschob, verbreitete sich zunächst ein allgemeines Gefühl der Fassungslo­sigkeit unter ihnen. Sie fragten sich, was verkehrt gelaufen sei. Die Islamisten fühlten sich dabei von Gott verlassen, und fragten sich, warum sich Gott von ihnen abgewendet habe. Sie führten dies auf die Vernachlässigung der islamischen Gesetze im Sinne der normativen Struktur einer von Gott bevorzugten Gesellschaft der Muslime zurück, wie sie sich durch die Modernisierung im Sinne der Verwestlichung beschleunigte. Dies vor allem des­wegen, weil sich der soziale Abstieg der Muslime nicht nur auf die militärische und ökonomische Macht bezog, sondern auch auf die Definitions­macht über die normative Ordnung der sozialen Realität. Damit ging eine Transformation der Ver­haltens- und Erlebensstandards einher, die als überlegene westliche Standards und als Ausdruck des höheren eigenen Selbstwerts der Nicht-Mus­lime ostentativ hervorgehoben wurden.

Die Islamisten sehen folglich die Lösung des Prob­lems in einer Bekämpfung der Verwestlichung der islamisch geprägten Gesellschaften, während sie die Muslime zu einem gottgefälligen Leben nach dem islamischen Gesetz, der Sharia, auffordern und es in Gestalt einer Re-Islamisierung der eige­nen Staatsgesellschaften durchzusetzen versuchen. Der Islamismus ist daher eine Religion dieser auf­stiegsorientierten und als solche chiliastisch geprägten Nativisten, wie es z.B. Ajatollah Chomeini hervorhebt: „Der Islam ist die Religion der Kämpfer, die für Recht und Gerechtigkeit eintre­ten, die Religion derer, die nach Freiheit und Unabhängigkeit streben, die Schule der Kämpfer gegen den Kolonialismus."[17] Ihre militanten Angriffe sind daher auf eine Überwindung von als ungerecht und entwürdigend empfundenen Macht- und Statusverhältnissen gerichtet.

Das Umschlagen der Trauer um eine idealisierte Vergangenheit in eine destruktive Wut gegen die personifizierten Urheber ihrer inferioren Lage ist nur nachvollziehbar, wenn man die individuelle und kollektive Identität der Menschen psycholo­gisch als ein „erinnertes Wandlungskontinuum" begreift. Die Erinnerung an den Machtverlust ihrer Staaten geht mit einer Identitäts- und Sinn-krise einher. Denn ihrem Verständnis nach bedeu­tet Machtverlust zugleich Sinn- und Wertverlust. Es ist die Erfahrung dieser Sinnkrise, die in Ajatol­lah Chomeinis rhetorischer Frage mitschwingt: „Waren die Gesetze, deren Darlegung, Propagie­rung, Verbreitung und Durchsetzung den Prophe­ten dreiundzwanzig Jahre Arbeit kosteten, nur für eine begrenzte Zeit?"[18]

Erst in diesem Zusammenhang begreift man, dass die Islamisten, angesichts des erfahrenen sozialen Abstieges, zum Kampf bereit sind. Kein Mittel erscheint ihnen zu grob und barbarisch, weil ihre Macht und ihr Bild von sich selbst als einer großen und großartigen Formation einen höheren Wert für sie hat als nahezu alles andere. Es wiegt für sie sogar schwerer als das eigene Leben. Da aber ihr kollektives Selbstbild nicht mehr der realen Ver­teilung der Macht entspricht, zwingt sich ihnen das Martyrium als das höchste Gebot für die Überwin­dung dieser Identitäts- und Sinnkrise auf. Damit scheint ihnen zumindest persönlich der Sieg gewiss zu sein - entweder in der Gestalt des Sieges im irdischen Kampf für die Gerechtigkeit oder durch den Einzug ins Paradies als Lohn für das Marty­rium. Der Versuch, den Schock der Erkenntnis der gewandelten Position der muslimischen Welt um jeden Preis zu vermeiden, und der heftige Wunsch, den Entwicklungsprozess umzukehren, fällt deswe­gen so extrem aus, weil die faktischen Ressourcen dieser Gesellschaften im Vergleich zu dem Ideal, für dessen Wiederherstellung sie von den Islami­sten eingesetzt werden, sehr gering sind. In diesem Sinne bestätigen die Selbstmordattentate nur die Regel, dass je schwächer, je unsicherer und verzweifelter die Menschen auf ihrem sozialen Abstiegsweg werden, je schärfer sie zu spüren bekommen, dass sie um ihren nur noch erinnerten Vorrang mit dem Rücken zur Wand kämpfen, desto roher ihr Verhalten wird, desto akuter die Gefahr ist, dass sie die zivilisierten Verhaltensstan­dards, auf die sie auch in ihrer eigenen Gesell­schaft durchaus stolz sind, selbst missachten und zerstören.[19]

Aber das Streben nach einer Veränderung des Selbstwertschemas verstärkte sich bei den macht­schwächeren Islamisten als Folge der funktionalen Demokratisierung, die sie im Sinne der Verschie­bung der Machtbalance zugunsten der Außensei­ter inzwischen sowohl innerstaatlich als auch zwi­schenstaatlich erfahren haben. Diese funktionale Demokratisierung manifestierte sich nicht nur in der Islamisierung der Revolution im Iran gegen ein als unbesiegbar erscheinendes Regime, das stets durch die westliche Welt unterstützt wurde. Sie zeigte sich auch in der Vertreibung der sowjeti­schen Armee aus Afghanistan. Diese Ereignisse sind die markantesten Beispiele der Verschiebung der Machtgewichte zugunsten der bisher macht­schwächeren islamisch geprägten Menschen. Selbst der gegenwärtige Kampf der Antiterrorkoalition um die Herzen der Massen ist Ausdruck einer funktionalen Demokratisierung im Sinne der Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Machtschwächeren.

Diese relative Zunahme der Macht der bisher vom Zugang zu den Macht- und Statusquellen weitge­hend ausgeschlossenen Menschen ist vor allem eine Folge der Modernisierungsprozesse der isla­misch geprägten Gesellschaften auf der einen Seite und der Entstehung der multipolaren Span­nungsachse zwischenstaatlicher Beziehungen nach dem Zerfall der Sowjetunion auf der anderen, ohne dass diese Verschiebung der Machtbalance jedoch von entsprechender Transformation des sozialen Habitus der involvierten Menschen und ihrer entsprechenden Institutionalisierung beglei­tet gewesen wäre. Der terroristische Charakter der islamistischen Bewegungen ist daher Folge der Verschiebung der Balance von der Kooperation zum Konflikt, weil nicht zuletzt die Etablierten -sowohl die machtstärkeren Staaten auf zwischen­staatlicher Integrationsebene als auch die Regie­rungen der islamisch geprägten Gesellschaften auf innerstaatlicher Ebene - die Konkurrenzkämpfe um die Macht- und Statuschancen ungeregelt, d. h. mit allen Mitteln führen. Die gewaltsame Unter­drückung der aufstrebenden sozialen Gruppen, verbunden mit einer Doppelmoral der Etablierten, die mit allen Mitteln ihre Macht- und Statuschancen verteidigten, verschärfte die Legitimations­krise der bestehenden Herrschaftsverhältnisse auf beiden Integrationsebenen und trug zur weiteren Brutalisierung der Konkurrenzkämpfe bei.

Die inner- und zwischenstaatlichen Beziehungen erfordern eine Neuordnung der Machtverteilung zwischen schwächeren und mächtigeren sozialen Gruppen, wenn es nicht zu einer Eskalation der Machtkämpfe zwischen diesen kommen soll. Ansonsten würden dieser Eskalation durch die zunehmende Massensympathie der Muslime für die islamistischen Bewegungen zusätzliche Ener­gien zugeführt werden. Die Angst vor einem dro­henden Sinnverlust könnte bei allen Muslimen zu extremer Feindschaft gegenüber den Nicht-Mus­lime führen, sodass auch jene bereit wären, diese zu vernichten, um ihr eigenes Glaubenssystem, ihre Tradition bzw. ihre Höherwertigkeit zu garantie­ren. Diese Gefahr ist gegenwärtig potenziert durch die sehr junge Altersstruktur dieser Gesellschaften, deren Bevölkerung durchschnittlich 18 Jahre alt und als solche emotional relativ erregbarer ist.

Die zunehmende Vermassung der islamisch geprägten Gesellschaften liefert gegenwärtig die soziale Bedingung der Möglichkeit dieses massen­haften chiliastisch geprägten Nativismus. Die Vermassung dieser Gesellschaften ist selbst eine der Folgen des Zersetzungsprozesses früherer Inte­grationsebenen dieser zumeist ethnisch und kon­fessionell orientierten und als solche segmentär organisierten Gesellschaften der bäuerlichen Be­völkerung - bei gleichzeitiger Unterdrückung der Entwicklung demokratischer Institutionen der Integration durch die Etablierten. Von daher liegt die Lösung des Problems in einer institutionellen Demokratisierung der inner- und zwischenstaat­lichen Integrationseinheiten der Menschen - als neuer Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung und ihrer institutionalisierten Kämpfe um die Neuver­teilung der Macht- und Statuschancen.

Die Zivilisierung der Beziehungen in Gestalt der Suspendierung der Gewalt im Sinne ihrer demo­kratisch kontrollierten Monopolisierung durch den Staat bedeutet nicht nur die Vergesellschaftung des Staates in den weniger entwickelten Gesell­schaften; sie bedeutet auch eine gleichzeitige Sus­pendierung der Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen in Gestalt einer entsprechenden Aus­stattung einer demokratisch reformierten UNO mit notwendigen Mitteln einer effektiven Kon­trolle dieser Beziehungen und ihrer gewaltfreien Regulierung.



[1] Zit. in: Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) vom 26.10.2001

[2] Daniel Pipes, On Bin Ladin's popularity; in: New York Post vom 22.10. 2001, (dplist-admin@danielpipes.org).

[3] Vgl. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Ana­lyse, in: Freud-Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M. 1974,
S. 61 ff. Hierbei muss beachtet werden, dass sich die Struktur der Identifizierung der islamisch geprägten Menschen von
derjenigen der eher individualisierten und säkularisierten Menschen der entwickelteren Gesellschaften unterscheidet.
Verschieden sind vor allem die Gestaltqualität des Identi­tätsgefühls und ihre Grenzen. Von daher vermag die Identi­fizierung der Menschen miteinander qua Islam bzw. als isla­misch   definierte   Ziele   mehr Menschen   miteinander zu verbinden als in der säkularen westlichen Gesellschaft.

[4] Vgl. Emile Durkheim, Die elementaren Formen des reli­giösen Lebens, Frankfurt/M. 1994.

[5] Nativismus bedeutet demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werte. Vgl. W. E. Mühlmann u. a., Chilias­mus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Berlin 1961.

[6] Vgl. Dawud Gholamasad, Iran - Die Entstehung der „Islamischen Revolution", Hamburg 1985.

[7] Vgl. Norbert Elias/John L. Scotson, Etablierte und Au­ßenseiter, Frankfurt/M. 1990, S. 312.

[8] Er fand Bestätigung durch eine Zeile des berühmten per­sischen Dichters Nasser Khosro, in der es heißt: Die Furcht des Volkes vor dem Tod ist eine Krankheit, die nur der Glaube heilen kann. Vgl. Amir Taheri, Chomeini und die is­lamische Revolution, Hamburg 1985, S. 144 f

[9] N. Elias/J. L. Scotson (Anm. 7), S. 13

[10] Vgl. Norbert Elias, Studien über die Deutschen, Frank­furt/M. 1989, S. 460

[11] Vgl. Norbert Elias, Wandlungen der Ich-Wir-Balance; in: ders., Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt/M. 1988, S. 207 ff.

[12] Extracts from the letters allegedly written by Osama bin Laden, in: The Guardian vom 18. Oktober 2001, S. 10.

[13] Vgl. CNN.com, Bin Laden, millionaire with a dangerous grudge, 13. September 2001

[14] Anm. 12

[15] Vgl. Gwenn Okruhlik, Understanding Political Dissent in Saudi Arabia, in: MERIP Press Information, Note 73 vom 24. Oktober 2001

[16] Daniel Pipes, Islam and Islamism - Faith and Ideology, in: The National Interest, (Spring 2000), (dplist-ad-min@danielpipes.org).

[17] Ajatollah Chomeini, Der islamische Staat, Berlin 1983, S. 16

[18] Ebd., S. 34

[19] Vgl. N. Elias (Anm. 10), S. 463