Iran's Zukunft - von Königen, Insekten und Patrioten

 

mehriran.de - Das im Folgenden veröffentlichte Essay mündet in dieser Kernthese: "Die Tradition des vorrevolutionären Verfassungspatriotismus könnte daher der einzige Bannerträger einer solchen demokratischen Alternative zur Monarchie und Hierokratie sein." - Gegenentwürfe oder ergänzende Aspekte können gerne zur Veröffentlichung eingesandt werden (info@mehriran.de).

 

 

Warum man auf Könige verzichten kann, wenn man den iranischen Staat nicht mit einem Insektenstaat verwechselt.

 

 „Wer anders denkt sieht anders, und wer bisher nicht Geschautes plötzlich zu sehen imstande ist, fängt an, anders zu denken.“ (Gerald Hüther, Die Evolution der Liebe)

 

Man kann Menschen klassifizieren, wie man will. Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch ihre Glaubensaxiome und Werthaltungen. Ihr Menschenbild ist daher der Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung als Einzelne und Gruppen und Objekt ihrer Hingabe. In diesem Sinne kann man seit der „konstitutionellen Revolution“ (1906) im Iran drei Traditionslinien solcher Selbsterfahrungen unterscheiden, die sich vor allem in ihren totalitären, autoritären und demokratischen „Staatsauffassungen“ manifestieren[1]:

 

1. Der Totalitarismus manifestiert sich im Islamismus, der mit dem Chomeinismus zur Entstehung der „Islamischen Republik“ führte, nachdem ihre Befürworter der „konstitutionellen Revolution“ der Verfassungsparteien unterlagen. Sie strebten damals als „Islamische Legitimisten“ (مشروعه خواه) eine Etablierung der „Scharia“ als Verfassung an. Für sie ist die Hierokratie eine unentbehrliche Herrschaftsform, weil Menschen unmündig seien und eines Vormundes bedürften. Diese Vormundschaft stehe nur den „Schriftgehrten“ zu, weil nur sie Menschen nach der Scharia zu führen berechtigt seien. Denn Scharia seien die ewig gültigen Gesetze Gottes, die das Menschenleben von der Geburt bis zum Tod regeln. Ohne diese totale Durchdringung des Menschenlebens würde sonst eine Unordnung, eine „Anarchie“ auf Erden herrschen. Der Geistlichkeit komme diese Aufgabe der Führung von Menschen zu, weil sie als Schriftgelehrte die Scharia zeitgemäß interpretieren können. In diesem Sinne begreifen auch die Islamisten nicht nur die Menschen als Herdentiere, die wie Schafe eines Hirten bedürfen. Sie verstehen auch die Scharia als Gottes ewig gültige Gesetze wie Naturgesetze bzw. genauso starr und unflexibel wie genetische Programme, die das Verhalten von Herdentieren steuern.

 

2. Der Autoritarismus wird durch die „National Modernisten“ vertreten, die als "Royalisten" (1921) dem "Kosakenoffizier" Reza-Khan durch einen von Großbritannien unterstützten Putsch zur Krone verhalfen. Diesen glorifizieren sie immer noch als „Reza-Schah den Großen“, Vater der Modernisierung sowie Integrationsfigurund Garant der nationalen Einheit Irans als „Nationalstaat“. Dieser angebliche Garant der nationalen Souveränität wurde allerdings während des zweiten Weltkrieges durch die Alliierten abgesetzt und durch seinen Sohn Mohamad-Reza Schah ersetzt. Zur Glanzleistung der „Royalisten“ gehört auch ihre Kooperation mit dem „CIA-Putsch“ von 1953 gegen die einzige demokratische Regierung Irans von Mossadegh, um Mohamad-Reza-Schahs Regime zu sichern. Sie waren als Träger des technokratischen Modernismus bis zur „Islamischen Revolution“ die hegemoniale Macht, die die autoritäre Herrschaftsform „seiner Majestät“, des „Königs der Könige“, immer noch mit „seinen Modernisierungsleistungen“ legitimiert. Sie versuchen ihre national-modernistisch legitimierte Hegemonie wieder durch die Etablierung des Sohnes des verstorbenen Schahs Reza Pahlavi als künftigen Schah wiederherzustellen. Für diese scheint die Etablierung der Institution eines Königs als Integrationsfigur unverzichtbar, weil sie den Schah als einzigen Garanten der nationalstaatlichen Einheit verherrlichen. Somit verwechseln sie implizit die iranische Staatsgesellschaft mit einem „Insektenstaat“.

 

Ihr Autoritarismus impliziert jedoch eine autoritäre Form von Herrschaft, die zwischen Demokratie und diktatorischem Totalitarismus liegt, sich aber sichtlich von Letzterem klar unterscheidet. Sie verfügt vor allem über keine umfassend formulierte Ideologie, weswegen sie  keine extensiven und intensiven Mobilisierungschancen enthält. Dennoch ist sie durch die erinnerte Erfahrung des begrenzten vorrevolutionären Pluralismus für breite Teile der iranischen Gesellschaft attraktiv, deren Alltagsleben durch die islamistische Gleichschaltung unerträglich geworden ist. Dies bedeutet nicht, dass die dadurch propagierte Herrschaftsform über eine Mobilisierungsfähigkeit verfügen würde. Andernfalls wäre das Schahregime nicht so leicht gestürzt worden, wie es 1979 geschah. Der Bevölkerung fehlte nämlich eine emotionale Bindung an das Herrschaftssystem, wie sie bei den Islamisten vorhanden ist, weil sie wie alle autoritären Strömungen ihre Politik nur pragmatisch formulieren und gleichzeitig allgemeine Wertvorstellungen wie Nationalismus, Modernisierung, und wirtschaftliche Prosperität propagieren. Durch diese fehlende einheitlich formulierte Ideologie unterscheiden sie sich vom Totalitarismus des Islamismus. Sie repräsentieren eher eine „Mentalität“ bzw. eine psychische Prädisposition, die formlos funktioniert. Diese Prädisposition kann aber die Grundlage jeder Ideologie bilden, die autoritätsfixiert ist und zu einem Gruppencharisma neigt. Diese autoritäre Fixierung legt anscheinend die Annahme einer Selbstverständlichkeit des „Royalismus“ nahe, der eine gewisse unbewusste Verwechselung des iranischen Staates als erinnertes Wandlungskontinuum mit einem „Insektenstaat“ zugrunde legt.

 

3. Dem gegenüber steht der demokratische Patriotismus, der durch Mossadegh prominent personifiziert wird. Diese Traditionslinie repräsentiert eine Bewegung, die mit ihrem Verfassungspatriotismus seit der „konstitutionellen Revolution“ erfolglos für die Einhaltung der Verfassung gekämpft hat. Sie ist immer noch Träger der institutionellen Demokratisierungsbestrebungen der iranischen Gesellschaft. 

 

Zur Autoritätsfixierung als Gemeinsamkeit von Islamismus und National-Modernismus

 

Was Islamismus und National-Modernismus gemeinsam haben, ist, trotz ihrer unübersehbaren Unterschiede, ihre Fixierung auf zwar unterschiedliche, aber scheinbar unveränderbare Staatsformen, das „Islamische Reich“ bzw. das „Kaiserreich“. Sie sehen, trotz ihrer unterschiedlichen Glaubensaxiome und Werthaltungen, diese zwei glorifizierten Herrschaftsformen als unvergänglich an. Sie verwechseln damit anscheinend den iranischen Staat als ein erinnertes Wandlungskontinuum  mit einem „Insektenstaat“ oder einer „Herde“, weil sie sich keinen Staat ohne charismatisches Oberhaupt oder Führer vorstellen können - sei es einen Schah oder einen Ajatollah.

 

Für die Islamisten ist kein Staat ohne Hierokratie vorstellbar, weil die Scharia – nach Chomeini - nicht nur zu Lebzeiten des Propheten galt, sondern als ewig gültige soziale Regeln der menschlichen Gesellschaften Weisungscharakter hat – und dies nicht nur im Iran. Ihr Menschenbild entspricht daher dem eines Herdentieres, das eines Herdenführers bedarf.

 

Für die „Royalisten“ ist ein iranischer Staat ohne einen König als Staatsoberhaupt unvorstellbar, weil dieses als glorifiziertes „Erfolgsmodell“ schon seit 2500 Jahren existiert habe. Dabei unterschlagen sie die wahre Geschichte Irans, die einem Schrumpfungsprozess der glanzvollen Königreiche bis zum gegenwärtigen Rumpfstaat der "Islamischen Republik" gleichkommt. Sie identifizieren den Iran mit einer glorifizierten Vergangenheit, an die sie sich nur selektiv erinnern möchten. Mit dieser mystifizierten Geschichtsbetrachtung Irans als einem 2500 jährigem Königreich erscheint ihnen der Royalismus als Bestandteil des Genoms der Iraner – quasi wie deren „Software“. Sie glauben daher, dass in der Mobilisierung dieser „Software“ die politische Lösung für die Iraner läge. 

 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einem „Insektenstaat“ und Staatsgesellschaften

 

Damit verwechseln die Royalisten den iranischen Staat mit einem „Insektenstaat“ wie z.B. einem Ameisenstaat. Denn alle bekannten Ameisenarten sind in Staaten organisiert. Sie stellen die bedeutendste Gruppe staatsbildender Insekten dar. Ameisenstaatliche Mitglieder bestehen aus einigen Dutzenden bis Millionen Personen. Sie sind arbeitsteilig organisiert und bestehen immer aus wenigstens drei „Kasten“: Arbeitern, Weibchen (Königin) und Männchen. Vor allem ist die selbstlose Hingabe ihrer Arbeiterinnen gegenüber dem Staat außerordentlich beindruckend, weil sie sich selbst nicht fortpflanzen. Dafür arbeiten sie „uneigennützig“ darauf hin, dass die Königin ihre Gene an die Nachkommen weitergeben kann.

 

Allerdings hält die Millionen Ameisen tatsächlich nichts weiter zusammen als ihr genetisch programmierter Instinkt. Was ihren Staat zusammenhält, sind chemische Signalstoffe, Pheromone, die von ihren Mitgliedern gebildet werden. Wenn sich die Zusammensetzung des im ganzen Bau umherfliegenden Duftcocktails ändert, machen Königin, Arbeiter, Soldaten und andere Trupps instinktiv genau das, was dazu führt, dass die alte Ordnung erhalten oder wiederhergestellt wird. Sie verhalten sich wie von unsichtbaren Kommandos gesteuerte Roboter. Es ist ein durchaus erfolgreiches Verhalten, aber eben passiv, gelenkt von Instinkten und Verschaltungen ihrer wenigen Nervenzellen sowie durch ein festgefügtes genetisches Programm. Ihr Verhalten ist daher genauso starr und so unflexibel wie die Programme, die sie steuern.[2]

 

Anders ist es bei Tieren, die in großen Kolonien leben, ganz zu schweigen von den Menschen. Diese Tiere verfügen über kein Programm, das sie zwingt, eine Kolonie zu bilden. Sie bleiben aber einfach dort, wo sie aufgewachsen sind. Sie sind sozusagen der Kolonie verhaftet, weil sie u.a. während ihrer Kindheit und Jugend so sehr auf die in ihrer Kolonie herrschenden Bedingungen geprägt worden sind, dass sie immer dort bleiben. Darüber hinaus verfügen sie über kein angeborenes Programm für ihre Eingliederung in eine Kolonie. Wem sie später nachlaufen, hängt davon ab, bei wem sie aufgewachsen sind. Sie versuchen aber deshalb instinktiv, den Menschen in ihrer Welt zu folgen, weil sie diese als ihre Welt betrachten. Diese Prägung entsteht, weil Menschen ihnen durch ihre Anwesenheit Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Dieses Gefühl verfestigt sich aber durch die Verlustangst, die sie heimsucht, sobald sie sich entfernen. 

 

Zur sozialen Funktion der Emotionen 

 

Die nachhaltigsten Erfahrungen, die ein Vogel oder ein Säugetier machen kann, sind daher Erfahrungen, die ihm helfen, seine Ängste und die mit ihnen einhergehenden Stressreaktionen zu bewältigen. Denn Angst hat jedes Neugeborene, wenn man es seiner Mutter wegnimmt. Diese Trennungsangst und das Begleitverhalten gehen allerdings mit einer Stress-Reaktion einher. Die im Verlauf dieser Reaktion ausgeschütteten Transmitter und Hormone tragen dazu bei, dass alle Nervenwege und Verschalungen, die von diesem Tier zur Bewältigung seiner Angst benutzt werden, gebahnt, d.h. gefestigt und in ihrer Effizienz verbessert werden.  So-bald das Tier zu seiner Mutter gesetzt wird, ist die Angst bewältigt, und all die Verschalungen in seinem noch unfertigen Gehirn, die aktiv wurden, sind nun besser ausgebaut und effektiver gemacht worden. Seine Stress-Toleranz hängt auch von solchen Trennungserfahrungen und Wiedervereinigungen ab, die alle Nervenbahnen festigen, die es mit seiner ihn schützenden Mutter verbinden: ihrem Geruch, ihrem Aussehen, ihrem Verhalten. Es wird seine Mutter deshalb in Zukunft noch ein klein bisschen besser erkennen und bei ihr Schutz suchen können.

 

Je früher sich die prägenden Erfahrungen im Umgang mit der Angst in das Gehirn eingraben können, je verformbarer die Verschalungen des Gehirns also zu dem Zeitpunkt sind, zu dem diese Erfahrungen gemacht werden, desto besser sind sie für den Rest des Lebens verankert. Sie sehen dann aus wie angeborene Instinkte. Sie sind aber keine angeborenen Instinkte, sondern die im Gehirn gemachten Erfahrungen bei der Bewältigung von Angst und Stress.[3]

 

Überlebensfunktion der sozialen Ängste 

 

Die sozialen Ängste sind wie alle anderen Ängste und Befürchtungen auch beim Menschen mit einem archaischen physiologischen Reaktionsmuster verbunden. Einige seiner körperlichen Symptome sind inzwischen gut bekannt, weshalb ich sie hier nicht auszuführen brauche.

 

In seiner archaischen Form ist dieses physiologische Reaktionsmuster mehr oder weniger stereotyp. Verbunden mit Emotionen wie Angst oder Wut passt es die innere Situation eines Organismus automatisch an eine äußere Gefahrensituation an. Sein primitiver Rhythmus ist einfach: akute Gefahr, akute Spannung, die den Organismus auf sofortiges Handeln vorbereitet, schnelles Lösen von Spannung durch Aktion, zum Beispiel Kampf oder Flucht.

 

Beim Menschen ist dieses uralte Reaktionsmuster mit seiner erheblich gesteigerten Fähigkeit, sich an vergangene Gefahren zu erinnern und zukünftige Gefahren zu antizipieren, außerordentlich formbar geworden. Es kann modifiziert werden, um einer Vielzahl von hoch differenzierten Gefahrensituationen gerecht zu werden. Es kann entsprechend den vielfältigen Gefahren, die Menschen als Mitglieder einer Gruppe zu vermeiden lernen müssen, erweitert, verzögert und fein abgestuft werden. Die ursprüngliche Angst-Spannung mit ihrem scharfen Einsetzen und ihrer schnellen Entspannung kann in langsame Druck-Spannungen von langer Dauer umgewandelt werden, ohne dass sie sofort durch Handlung oder mit einem Wort in Ängste aufgelöst werden. Daher kommt es darauf an, wie differenziert die betroffenen Menschen die Gefahrensituation erleben und wie fein abgestuft ihre Affektkontrolliertheit ist.[4] Diese zivilisatorische Differenzierung ihrer Erlebens- und Verhaltensmuster wäre ohne ihre gruppenspezifischen Sprachen und Gewissen nicht möglich gewesen. 

 

Menschen verfügen neben raum-zeitlichen Dimensionen über eine fünfte, die symbolische Dimension ihrer Existenz

 

Menschen unterscheiden sich von allen subhumanen Ebenen durch zwei wesentliche Merkmale. 1. Sie kommen mit einem besonders unfertigen Gehirn auf die Welt, das noch länger auf es veränderbare Erfahrungen angewiesen ist. 2. Die Welt, in der sie geboren werden und aufwachsen, sind Gruppen mit ihren gruppenspezifischen Sprachen. Diese sind erweiterte Familienverbände, Großfamilien, Dörfer, Stämme, Städte und Staaten. 

 

Jedes Neugeborene, das in einer solchen Gruppe aufwächst, wird durch die hier vorgefundenen, ihm Sicherheit und Geborgenheit bietenden Gegebenheiten geprägt. Und dies ohne ein genetisches Programm, das ihm irgendwelche Verschaltungen ins Gehirn baut. Allerdings ist es, wegen seines unfertigen Gehirns, viel länger auf Prägung angewiesen als alle andere auf prägende Erfahrungen angewiesenen Lebewesen. Diese existentielle Angewiesenheit des Neugeborenen macht es viel länger von den ihm Schutz und Geborgenheit bietenden Bezugspersonen abhängig. Weil diese Prägung bei den Primaten aber wesentlich komplexer ist, heißt sie Bindung. Sie ist Gegenstand der Bindungstheorie[5], die Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung zusammenfasst, die nicht nur belegen, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen. Ihr Forschungsgegenstand und damit zugleich jener der Bindungsforschung ist der Aufbau und die Veränderung enger Beziehungen im Laufe des Lebens. 

 

Die erste und zeitlebens stärkste Bindung des Neugeborenen ist in der Regel zwangsläufig die an die Mutter. Wenn alle anderen Mitglieder der Kern- und Großfamilie in der Lage sind, dem Kind ebenfalls ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben, weitet sich die primäre Mutterbindung auch auf diese aus. Sein einmal entstandenes Gefühl der Bindung erweitert sich je größer die Gruppen sind, die wie der Stamm ihm als Ganzes dieses Gefühl zu vermitteln vermögen. Dieses einmal entstandene Gefühl der Bindung bleibt erhalten, wenn es nicht durch widrige Umstände und Erfahrungen wieder gelockert wird. Deshalb sind alle erwachsenen Mitglieder einer solchen Gruppe gefühlsmäßig aneinander gebunden, d.h. sie identifizieren sich gegenseitig miteinander. Diese Bindung ist der natürliche Kitt, der die Gruppe zusammenhält. 

 

In diesem Sinne ist auch der „Staat als Schutz- und Trutz-Einheit“ anzusehen, auf den sich das Gefühl der Bindung erstreckt. Diese staatliche Bindung ist allerdings nur durch die als gemeinsam geteilte Kultur und Moral möglich, die allein über eine gemeinsame Sprache vermittelbar ist. Dieses ist in Frankreich durch die Zentralmacht durchgesetzt worden. Deshalb werden Menschen nur zu einem vollwertigen Mitglied einer Gesellschaft durch das Erlernen einer Sprache, durch die sie auch verbal miteinander verbunden sind. 

 

Sie mit anderen nicht menschlichen Lebewesen gleich zu setzen, übersieht den wesentlichen Unterschied zwischen tierischen und menschlichen Gesellschaften, der darin besteht, dass Menschen durch eine gemeinsame Sprache als ihr Kommunikations-, Orientierungs- und Kontrollmittel miteinander verbunden sind. Sie unterscheiden sich also durch ihre sprachlich erworbenen und auf diese Weise differenziert erfassbaren Emotionen und ein Gewissen, zumal es permanent intuitiv das Verhalten jedes sozialisierten Menschen steuert. Um dies nachvollziehen zu können, erwähne ich hier beispielhaft einige sozialen Aspekte dieser emotionalen Zusammenhänge. 

 

Gelernte Emotionen als sozialer Kitt

 

Der Stellenwert der Emotionen im menschlichen Leben ist nur dann nachvollziehbar, wenn man begreift, dass, Erstensmit dem Auftreten des Menschen im Evolutionsprozess eine Wende im Verhältnis zwischen angeborener und gelernter Verhaltenssteuerung stattgefunden hat. Zweitens: Der einzelne Mensch hat nicht nur die Fähigkeit zu lernen, sondern ist gezwungen zu lernen, um ein vollwertiger Mitglied seiner Gesellschaft zu werden. Drittens: Die Emotionen erwachsener Menschen sind niemals völlig ungelernte genetisch fixierte Reaktionsmuster. Zudem darf man die Emotionen erwachsener Menschen nicht auf eine ihrer drei Komponenten, d.h. ihrer Gefühlskomponente reduzieren. Denn mit der Vernachlässigung ihrer physiologischen Komponenten und Verhaltenskomponenten verkennt man die besondere Funktion der Emotionen in den menschlichen Verflechtungszusammenhängen. Erst ihre Differenzierung durch Lernen und ihre gegenseitige Mitteilung ermöglicht das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft und damit das Entstehen von Kultur.[6]

 

Jedes voll funktionsfähige, interaktive Bewusstsein erfordert nämlich Emotionen, die nur handlungsbedürftige neurologische Programme“[7] sind, deren Handhabung gelernt werden muss. Ihre angemessene Identifizierung und die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Handhabung müssen jeweils gelernt werden. Sie sind daher ohne ein zunehmend differenziertes Emotionsvokabular nicht identifizierbar, da sie sich in den Zivilisationsprozessen herausbilden; deren Kontrolle bedarf einer individuellen Zivilisierung[8]jedes Neugeborenen in einem Liebes- und Lernprozess, die man als Sozialisierung jedes einzelnen Kindes begreift. 

 

In diesem Zusammenhang erfolgt eine  „emotionale Alphabetisierung“, d.h. die Fähigkeit zur Identifizierung der Emotionen als „handlungsbedürftige neurologische Programme“ und ihre erforderliche sozial zulässige Handhabung. In diesem Sinne erfordert z.B. Angst, dass man Maßnahmen ergreifen muss, um sich an Veränderungen und Neuheiten zu orientieren oder physischen oder seelischen Schaden zu vermeiden. Dabei scheinen Ängste grob gesehen eine doppelte Wurzel zu haben: die Angst vor der physischen Vernichtung und die Angst vor dem Verlust der Selbstliebe. Daher werden z.B. relativ schnelle soziale Transformationsprozesse wie im vorrevolutionären Iran als eine Anomie erfahren, die als ein mögliches Reaktionsmuster zum Islamismus führen. Dieser für die überforderten Menschen als fehlender bzw. schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung erlebte Zustand ist deswegen so beängstigend, weil er mit den Transformationen sozialer Beziehungen z.B. in den Geschlechterbeziehungen, das vorherrschende Schema des Selbstwertes der involvierten Menschen und somit deren Selbstwertbeziehungen gefährdet. Somit ist entscheidend zu wissen, worauf sich die Selbstliebe der Betroffenen bezieht: Worauf sind sie so stolz? Was sind die Zutaten ihres Selbstwertes, die sie durch die Modernisierung gefährdet sehen? Welches sind der Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrungund das Objekt ihrer Hingabe, die sie mit dem Einsatz ihres Lebens zu verteidigen sich gezwungen fühlen? Schaut man genau hin, sieht man, dass das, was sie mit dem Einsatz ihres Lebens als „Islam“ definiert verteidigen, nichts anderes ist als die von ihnen als ihre eigenen definierten Werte, also ihre hoch geschätzten und tief verwurzelten, d.h. affektiv besetzten Verhaltens- und Erlebensmuster. Was sie als Objekt ihrer Hingabe im Namen des „Islam“ verteidigen, sind also ihre überlieferten Glaubensaxiome und Werthaltungen.

 

Will man ihre blutig ausgetragenen internen fraktionellen Differenzen  angemessen begreifen, kann man sie nicht nur auf ihre ideologischen Meinungsverschiedenheiten reduzieren bzw. fragen, wie sie kognitiv unterschiedlich  „den Islam“ als ein erinnertes Wandlungskontinuum definieren, sondern man muss auch ihre Zivilisationsdifferentiale betrachten, die u.a. in ihrem unterschiedlichen Reaktionsmuster gegenüber ihren Opponenten zum Ausdruck kommen.Denn auch sie reagieren beängstigt und verärgert auf ihre Widersacher aber nicht alle in gleicher Weise, obwohl es die Aufgabe von Wut ist, ihnen dabei zu helfen, effektive zwischenmenschliche Grenzen für die wertgeschätzten Dinge und Ideen zu setzen und aufrechtzuerhalten. Denn auf ihrer subtilsten Ebene hilft Wut Menschen auch, gegenseitigen Respekt zu wahren und die Kommunikationswege in ihren Beziehungen offen zu halten.

 

Charakteristisch für  die zivilisierte Wut ist daher vor allem, Herausforderungen in dem Zusammenhang zu sehen, den man wertschätzt: den eigenen Standpunkt, die eigene Position, die zwischenmenschlichen Grenzen oder das eigene Selbstbild. Ihre Aufgabe ist es, eigene „Werte“  wiederherzustellen, ohne die Grenzen anderer zu verletzen. Diese Wut tritt auch dann auf, wenn andere Menschen herausgefordert oder abgewertet werden. Ihre Aufgabe ist es, das Vergehen zu explizieren und zu bekämpfen und dadurch die Grenzen aller Parteien und somit die ihrer „Integrität“ wiederherzustellen. 

 

Dieser „ehrenwerte Wachposten“ ist indes vor allem die „heilige Praxis“ des Zorns. Dieser setzt aber die Erweiterung der Reichweite der emotionalen Bindungen der involvierten Menschen miteinander jenseits ihrer Gruppenzugehörigkeit voraus. Die Aufgabe von Zorn ist es, dabei zu helfen, effektive zwischenmenschliche Grenzen der Verletzung der wertgeschätzten Dinge und Ideen zu setzen und aufrechtzuerhalten.

 

Scham als Angst erfordert, dass man Maßnahmen ergreift, um andere oder sich selbst nicht durch ungebührliche Taten zu verletzen, zumal sie als ein zum Selbstzwang verinnerlichter Fremdzwang zur Einhaltung der sozialen Gebote und Verbote wirkt und somit als ein Kontrollmechanismus funktioniert.

 

Es ist daher wichtig zu lernen, zwischen Schuld als einem Tatsachenbestand und Scham als einem Gefühl zu unterscheiden. Scham ist nämlich ein schmerzhaftes Gefühl der Demütigung oder Bedrängnis, verursacht durch das Bewusstsein von falschem oder „dummem“ Verhalten. Schuld dagegen ist das Wissen und die Anerkennung von Fehlverhalten. Sie ist ein Umstand: man ist entweder schuldig oder nicht schuldig in Bezug auf den von einem selbst geschätzten Rechts- oder Moralkodex (Gewissen). Dieser setzt einen Rechtssinn voraus; eine Tugend, die lediglich fordert, sich nichts zuschulden kommen zu lassen. Sie begnügt sich also mit einer Rechtstreue, die in ihrer sachlichen Gestalt aus Angst vor Strafen, in der anspruchsvollen Form aber aus innerer Bereitschaft darin besteht, aus freien Stücken den gegebenen Gesetzen zu folgen. In diesem Falle hat man einen Fremdzwang als Selbstzwang verinnerlicht. Die verinnerlichte Angst vor Strafen ist als Selbstzwang handlungssteuernd geworden. Man kann sich daher nicht schuldig fühlen, weil Schuld ein konkreter Zustand ist - kein emotionaler! Dabei sind Gefühle irrelevant. Wenn man etwas „Falsches“ im Sinne der Rechtswidrigkeit gemacht hat, ist man schuldig, und es spielt keine Rolle, ob man glücklich, wütend, ängstlich oder deprimiert ist. Wenn man nichts „Falsches“ macht, ist man nicht schuldig.

Es kann allerdings auch vorkommen, dass manche Menschen, obwohl vollkommen unschuldig, unter gewissen Ängsten leiden, die mit einem vagen Gefühl verbunden sind, dass sie eines Verbrechens schuldig wären, das sie nicht definieren können. Aus diesen Angstphantasien kann man schließen, dass Scham die emotionale Folge von Fehlverhalten ist. Wenn die Scham-Angst gut funktioniert, wird durch ihre Intensität Grenzverletzungen vorgebeugt oder es werden verletzte Grenzen wiederhergestellt, wenn man sie selbst übertreten hat. Peinlichkeit entsteht, wenn die Grenzverletzung durch andere vollzogen wird. Sie wird dann zu einer Angstreaktion auf das fremde Fehlverhalten. 

 

In diesem Zusammenhang sieht man die Bindungskraft der Emotionen als Kommunikations-, Orientierungs- und Kontrollmittel der Menschen in ihren sozialen Gruppierungen. Denn es entsteht zwar Scham, um das eigene Verhalten verfeinert zu kontrollieren und sicherzustellen, dass man sich selbst oder andere nicht verletzt, in Verlegenheit bringt, destabilisiert oder entmenschlicht. Entscheidend ist aber, wer dabei verletzt wird und welches Verhaltensmuster angemessen ist. Die Beantwortung dieser Fragen hängt von der Reichweite der Identifizierung der Menschen mit anderen Menschen ab: wen erkennt man als gleichwertigen Menschen an, wessen Wertschätzung ist mir wichtig. Mit anderen Worten, Scham-Angst ist vom Grad der Demokratisierung der sozialen Beziehungen abhängig und von dem sich damit möglicherweise entwickelnden Gerechtigkeitssinn. Beides findet seinen Ausdruck im Transformationsprozess der Selbstwertbeziehungen und der sich entwickelnden Scham vor Diskriminierung. Insofern sind Scham und Peinlichkeit konstitutiv für Inklusion und Exklusion als Etablierten- und Außenseiter-Beziehungen, für die Bildung von Wir- und Sie-Gruppen. Es kommt also auf die Reichweite der emotionalen Bindung mit den Menschen an, deren Gemeinwohl man teilt. Diese Reichweite der Identifizierung kann sich auf bestimmte soziale, ethnische, konfessionelle oder nationale Gruppierungen genauso erstrecken wie auf die Menschheit, deren Rechte respektiert werden sollen. Das Ethos der Menschenrechte setzt also die Reichweite der Identifizierung der Menschen mit Menschen jenseits ihrer Gruppenzugehörigkeit voraus. Genauso setzt die Respektierung der Grundrechte die Respektierung der Menschen als Staatsbürger voraus, mit denen man sich emotional verbunden fühlt

 

Deswegen wird ein Nationalstaat nicht zusammengehalten durch irgendwelche „charismatischen Führer“, sei es ein König oder Ajatollah, sondern durch die symbolisch vermittelten Bildungen der Menschen als Staatsbürger. Zu diesen Einheit vermittelnden Symbolen gehören die Sprache, der Moral- und Rechtscodex, die Menschen miteinander teilen. So können sie zusammen einen Rechtsstaat als ihre „Schutz- und Trutzeinheit“ bilden: Eine moderne Gruppierung jenseits traditioneller Gruppierungen wie Stämme, die ihnen nach dem Zerfall der traditionellen Einheiten das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Als solche wird diese neue soziale Einheit zum Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung und Objekt der Hingabe: zur Schutz- und Verteidigungseinheit.

 

Ähnlich erfüllen andere Emotionen ihre sozialen Funktionen. So erfordert Traurigkeit, dass man Maßnahmen ergreift, um etwas loszulassen, das sowieso nicht mehr funktioniert, wie die traditionellen Vergemeinschaftungsformen; Trauer bedingt, dass man aktiv um etwas trauert, das unwiederbringlich verloren gegangen ist. Dabei kann die Unfähigkeit zu trauern zu solchen nostalgischen Phantasien der Royalisten und Islamisten führen. Es sind Manifestationen der Unfähigkeit, um längst verloren gegangene glorreiche Reiche wie das  „Perserreich“ oder das „islamischen Reich“ trauern zu können. 

 

Im Falle des Islamismus handelt es sich um eine nachgetrauerte Selbstwertbeziehung der Muslime um ihre glorifizierte Vergangenheit, die sie mit allen Mittel wieder herzustellen versuchen. Ihre Gewalttätigkeit ist Ausdruck der Destruktivität ihrer Ideale, für deren Realisierung sie über ungenügende Machtquellen verfügen. Im Falle der Royalisten manifestiert sich ihr Bestreben nach Wiederherstellung ihrer erinnerten Hegemonialmacht allerdings mit ihrer verinnerlichten pragmatischen Logik der Zweck-Mittel-Relation, wobei das Ziel jedes Mittel heiligt.

 

Keine Orientierung ohne Orientierungswissen

 

Wunschbilder, glorifizierte Vergangenheiten, die man wieder herstellen will, sind Orientierungsmittel. Daraus ergibt sich, dass nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft eine erinnerte ist. Denn auch die Projektion der Zukunft ist auf Erinnerungen aufgebaut. Man kann, im Sinne der mentalen Probehandlung, nicht denken ohne kategorial gespeicherte Erinnerungen. Das ist, was Emanuel Kant als „Kategorien a priori“ bezeichnete, die jeder Erfahrung vorausgehen müssen. Allerdings nahm er an, dass sie natürlich vorgegeben sind, weil er mit seiner „homo clausus Selbsterfahrung“, - seinem Bild vom Menschen, der in seinem „Inneren“ von der „Außenwelt“ abgeschlossen ist -  die soziale Vererbung  mit der genetischen Vererbung verwechselte. Menschen erben nämlich nicht nur genetisch sondern auch sozial. Sie erben die Erfahrungen der früheren Generationen durch den Erwerb ihrer gruppenspezifischen Sprache als ihrem Kommunikations-, Orientierungs- und Kontrollmittel. Ohne Orientierungswissen ist keine Orientierung möglich. Jede so geerbte Weltanschauung ist der Bezugsrahmen jeglicher Erfahrung. Man könnte nichts hören, sehen, riechen, schmecken ohne ein gespeichertes Bild von dem sinnlich wahrzunehmenden Objekt der Erfahrung. Die der Erfahrung vorausgehenden Kategorien sind jene als neuronale Verknüpfungen gespeicherten eigenen und sozial vermittelten Erfahrungen, ohne die keine Orientierung und damit keine Handlungssteuerung möglich wäre. Orientierung ist die handlungs- und bedeutungsbezogene, menschliche Sicht der Welt. Charakteristisch für Menschen ist, dass für sie nicht die Wahrnehmung als Abbildungsbeziehung von Welt von Bedeutung ist, sondern die bewertende Wahrnehmung hinsichtlich der Handlungsbedingungen und Handlungsangebote. Die Welt ist also nicht „an sich“, sondern als die mit emotionaler Bedeutung versehener Welt „für mich“ als Handlungssubjekt interessant, als meine Valenzfiguration. Genauso vollzieht sich auch ihre Orientierung in ihrer sozialen Welt. Denn Menschen bedürfen sozialer Stimulationen, ohne die sie nicht lebensfähig wären. Sie sind von Natur aus auf Gesellschaft anderer Menschen angewiesen.  Diese sind Objekte ihrer emotionalen Bildungen. Als solche haben sie entsprechende Gefühlswerte für sie so wie die Gebrauchswerte, die ihre sonstigen Bedürfnisse befriedigen. Sie stimulieren sie zu unterschiedlichen Verhaltensmuster. Sie haben also unterschiedliche „Aufforderungscharakter“ für sie. Diese Stimuli manifestieren sich in ihrer Valenzfiguration und entsprechenden Verhaltensmuster. Deswegen sind Menschen Ensembles ihrer gesellschaftlichen Beziehungen, ihrer Werthaltungen bzw. ihrer Valenzfiguration.

 

Es gibt zwar auch ambivalente Beziehungen zur wahrgenommenen Realität, dennoch sind auch sie meine Glaubensaxiome und Werthaltungen. Denn es geht bei der Wahrnehmung nicht um Dinge an sich, sondern um Verhältnisse als Angebote für menschliches Handeln. So bauen die Informationen der Wahrnehmung eine Bewusstheit zur Orientierung auf und aktualisieren sie. Deshalb werden gelernte Konstanten der Orientierung als Teil des Weltwissens im Gedächtnis gespeichert. Auf sie wird bei der Vorstellung, der Planung und der raumzeitlichen Schlussfolgerung zurückgegriffen. Orientierung entsteht somit als eine Leistung des Handlungssubjekts. Sie ist eine Erkenntnis, die jeder Mensch aktiv, handelnd im Umgang mit seiner Welt gewinnt und die auch nur in diesem Zusammenhang ihre Funktion hat. Denn die Welt ist, wie sie von Menschen erfahren wird.

 

Würde Menschen die Orientierungsfähigkeit teilweise oder ganz, zeitweise oder längerfristig fehlen, wären sie angesichts des fehlenden angeborenen Programms desorientiert, verwirrt. In solchen Fällen bedürften sie möglicherweise eines „Führers“, eines „Vorbildenden“, den sie vertrauend nachahmen und dem sie folgen können. Denn nur das erworbene mentale Orientierungsmittel ermöglicht die kognitive Fähigkeit, die es dem Menschen ermöglicht, sich zeitlich, räumlich und bezüglich seiner Person in seiner Welt zu orientieren. Ohne erworbene Orientierungsmittel wäre eine Zweitwahrnehmung, räumliche Orientierung sowie Bewusstheit der eigenen Person und ihrer Bezüge bzw. Situationsbewusstsein und Orientierung in sozialen Netzwerken unmöglich. Diese werden durch Spracherwerb und Erfahrungsgehalt der Wörter angeeignet und im weiteren Bildungsprozess weiter entwickelt. Ohne diese würde es nicht nur keine „kritische Vernunft“ geben, sondern auch keine „praktische Vernunft“, kein moralisches Urteilsvermögen – kein Gewissen.

 

Gewissensfreiheit

 

Durch das Gewissen hat der Mensch eine besondere „Instanz“ im Bewusstsein, die bestimmt, wie er praktisch urteilen soll und die anzeigt, ob eine Handlungsweise mit demjenigen übereinstimmt bzw. nicht übereinstimmt, was ein Mensch als für sich richtig und stimmig ansieht. Es drängt ihn, aus ethischen, moralischen und intuitiven Gründen, bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. Ohne Gewissen gäbe es kein Verantwortungsbewusstsein. Entscheidungen können nur im Wissen um ihre Voraussetzungen und denkbaren Folgen als unausweichlich empfunden bzw. mehr oder weniger bewusst getroffen werden. Je unbewusster die Verhaltenssteuerung vollzogen wird, desto stärker sind Empfindens- und Denkgewohnheiten als sozialer Habitus am Werk. Aus diesem Grunde ist das Gewissen zwar ohne Verantwortung blind, allerdings bliebe das Gewissen ohne eine ethische Orientierung auch inhaltlich leer. Daher entsteht das Gewissen als verinnerlichte Gebote und Verbote der Gesellschaft;  dessen Gehalt hängt aber – mit der zunehmenden sozialen Differenzierung und Individualisierung – immer mehr von den individuellen sittlichen Einstellungen der Person ab. Von daher ist das Gewissen eher ein „prämoralisches Wertverständnis“, das aller expliziten Moral wesentlich vorgängig ist – es ist das „ethisch Unbewusste“[9]. Selbst das, was Menschen als ihren Gott anbeten, ist nichts anderes als ihr externalisiertes eigenes Gewissen, das mit zunehmender Säkularisierung wieder internalisiert wird. Dies ist auch einer der Gründe, warum manche „Gottgläubige“ in der Lage sind, andere „Gottgläubige“ ruhigen Gewissens im Namen Gottes abzuschlachten, denn ihr Gott ist der einzig wahre „Oberste Richter“, dessen Gebote sind die einzige Wahrheit.

 

Gewöhnlich fühlt man sich gut, wenn man nach seinem Gewissen handelt. Das ist dann ein gutes oder reines Gewissen. Handelt jemand gegen sein Gewissen, so hat er ein subjektiv schlechtes Gefühl; ein schlechtes, nagendes Gewissen oder Gewissensbisse, was man auch als „kognitive Dissonanz“, als fehlende Harmonie im Bewusstsein begreift. Allerdings haben, mit zunehmender Individualisierung der Gesellschaft, die Scharia genauso wie die „Zehn Gebote“ ihren Geltungsanspruch zunehmend eingebüßt, was praktisch zur immer lauter werdenden Forderung nach „Gewissensfreiheit“ führte. 

 

Der Staat als Schutz- und Trutz-Einheit

 

Die Entstehung der monotheistischen Religionen deutet schon frühzeitig auf die Notwendigkeit symbolisch vermittelter Einheit der sich im Zerfallsprozess befindlichen „Gesellschaften“ hin. Die Einheit Gottes soll den Zerfall der Gemeinschaften verhindern. Die Propheten waren als charismatische Führer ihrer Zeit bzw. als „Botschafter des Schöpfers“ diejenigen, die seine „Untertanen“ zur Unterwerfung aufriefen. So sollte die Einheit der Gemeinschaften aufrecht erhalten werden. Später haben die Könige ihre Herrschaft als „Schatten Gottes“ legitimiert, um ihre Reiche zu vereinigen. 

 

Die Frage ist, ob die modernisierten Gesellschaften immer noch auf diese persönlichen Integrationsfiguren angewiesen sind.  Manche meinen ja, weil es seit Jahrhunderten so gewesen wäre. Sie vergessen, dass selbst diese Integrationsfiguren nur deswegen als Objekte der Hingabe funktionierten, weil sie gemeinsam geteilte Werte repräsentierten, die als Tugenden der Herrscher immer wieder hervorgehoben wurden. Diese waren aber solange notwendig, solange Menschen nicht über ein angemessenes Abstraktionsvermögen verfügten, um den geteilten Werten unabhängig von persönlichen Trägern als Orientierungsmittel zu folgen.

 

Es gibt keine Gesellschaft ohne gemeinsam geteilte symbolische Repräsentanten der Realität als Orientierungs- und Kontrollmittel. Sie müssen in zunehmend modernisierten und demokratisierten Gesellschaften nicht mehr persönlich vertreten sein. Die Notwendigkeit dieser symbolisch vermittelten Einheit der Gesellschaft wird umso notwendiger je größer die räumliche Erweiterung der Gesellschaften der Menschen wird. Ohne diese gemeinsam affektiv besetzten sprachlich vermittelten Kommunikations-, Orientierungs- und Kontrollmittel wäre keine millionenfache Bindung von Menschen mehr möglich. Jedoch wird die staatliche Organisationsform der Menschen als ihre Sicherheit und Geborgenheit gebende soziale Einheit nur effektiv integrativ vollzogen, wenn sie sich als Staatsbürger unpersönlich symbolisch vermittelt verbunden fühlen. Ihr Bürgersinn, Rechtssinn, Gerechtigkeitssinn und ihre Urteilskraft sowie ihr Gemeinsinn und ihre demokratische Integrität sind der Kitt in einer zunehmend sich demokratisierenden bürgerlichen Gesellschaft. Diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, denen eine solche moderne Gruppe kein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit bei der Bewältigung ihrer durch Anonymisierung der Gesellschaft entstehenden Ängste bietet, erleben eine dauernd unkontrollierbare Stressreaktion. Diese führt dazu, dass die einmal entstandenen neuronalen Verschaltungen gelockert<s>,</s> und ihre Bindungen an die anderen Gruppenmitglieder wieder gelöst werden. Diese Gesellschaft würde früher oder später zerfallen, wenn ihre bindungslosen Mitglieder zahlenmäßig zu groß werden. Denn Menschen sind keine Kartoffeln, die man in einem Sack sammeln und durch einen König zusammenhalten kann.

 

Die Funktionale Bindung der Menschen

 

Menschen bleiben nicht immer Kinder und unmündig, die - wie Chomeini annimmt - immer auf einen Vormund angewiesen seien. Als Erwachsene müssen sie sich weiter bilden und ernähren. Sie müssen vor allem einen Beruf erlernen, der sie ins Berufsleben integriert. Diese funktionale Bindung der Menschen aneinander ist materiell existentiell und unentrinnbar.  Mit der zunehmenden Arbeitsteilung und beruflichen Differenzierung der Gesellschaft verlängert sich die Kette ihrer gegenseitigen Angewiesenheiten auf einander und so ihre funktionalen gegenseitigen Abhängigkeiten von einander. Dadurch entsteht jene funktionale  Demokratisierung - d.h. die Verschiebung der Machtbalance zugunsten der zuvor Machtschwächeren - als unabdingbare Bedingung der Möglichkeit institutioneller Demokratisierung, die mit der Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft verbunden ist. Damit hat die Stunde des „Königs der Könige“ genauso geschlagen wie die der „Hierokratie“ – der „Schriftgelehrten-Herrschaft“ – sofern sich die Transformation der tradierten Verhaltens- und Erlebensmuster ebenso rasch vollzieht.

 

Dazu gehören eine zunehmende differenzierte Empathie und Emotionsregulation, die der zunehmenden funktionalen Demokratisierung entspricht, weil sich damit die gegenseitigen Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen verändern. Dementsprechend muss sich also eine Demokratisierung des sozialen Habitus vollziehen, wenn die Balance zwischen Kooperation und Konflikt zugunsten der ersteren gelingen soll. Denn wir alle sehnen uns danach, gesehen und verstanden zu werden, geschätzt und geehrt zu werden und genau so geliebt zu werden, wie wir sind. Entsprechend möchten wir uns auch emotional tief mit anderen verbinden, sie klar verstehen und gekonnt auf ihre Wünsche und Bedürfnisse reagieren. Wir wollen Schwierigkeiten und Konflikte mit Anmut bewältigen, und wir möchten, dass unsere Beziehungen eine Quelle der Heilung, Stärke, des Humors und der Liebe sind. Wir wollen Empathie, und wir wollen und müssen wissen, wie wir unsere Empathie anderen anbieten können.

 

Dazu ist eine entsprechende Emotionsregulation notwendig, d.h. die Fähigkeit, eigene Emotionen zu verstehen, mit ihnen zu arbeiten und eine Perspektive entwickeln, um in der Lage zu sein, sich auf andere konzentrieren zu können.Deswegen ist eine angemessene Emotionsregulation ein lebenswichtiger Aspekt von Empathie, denn wenn man die Emotionen anderer genau erfassen, identifizieren und nachfühlen kann, aber keine Fähigkeit besitzt, diese Emotionen in sich selbst zu regulieren, kann man sich nicht einfühlsam in andere hineinversetzen. 

 

Zur Entwicklung dieser Fähigkeiten sind Zwänge allein nicht ausreichend, die sich aus der funktionalen Demokratisierung ergeben. Sie müssen nicht nur familiär gezielt gefördert, sondern auch institutionalisiert werden. Dafür sind entsprechende Bildungsinstitutionen unabdingbar. Die modernen zivilgesellschaftlichen Organisationsformen sind u.a. moderne Träger solcher Transformationsprozesse von Verhaltens- und Erlebensgewohnheiten. 

 

Wird dagegen die Entstehung der modernen sozialen Verbände und Organisationen wie Berufsverbände, Gewerkschaften und politische Parteien unterdrückt, die traditionelle Organisations- und Integrationsformen der Menschen, wie Stämme und dörfliche Gemeinschaften, hätten ersetzen können, entstehen sich einsam und verlassenfühlende Massen von Menschen, die nach Sicherheit und Geborgenheit suchen. Es ist dieses Verlassenheitsgefühl der entwurzelten Massenindividuen, die solchen „charismatischen Führern“ wie Chomeini die soziale Basis ihrer Herrschaft bieten. Sie würden immer wieder jedem hergelaufenen „Führer“ hinterher laufen, solange sie nicht in die ihnen Sicherheit und Geborgenheit bietenden Gruppen wieder integriert sind, denn diese Organisationen vermitteln ihren Mitgliedern ein entsprechendes gruppenspezifisches Ethos wie z.B. ein Berufsethos als Bindungselement ihrer Mitglieder. Um den sich aus diesem organisatorischen Vakuum ergebenden Populismus und Totalitarismus zu verhindern, wäre die Demokratisierung der aus Alternativen bestehenden Wertegemeinschaft notwendig. Zudem wäre eine institutionalisierte demokratische Kontrolle der Macht jeglicher Zwangsbefugnis unabdingbar, die zugleich zeitlich begrenzt sein müsste. Die Tradition des vorrevolutionären Verfassungspatriotismus könnte daher der einzige Bannerträger einer solchen demokratischen Alternative zur Monarchie und Hierokratie sein. Nur diese Traditionslinie könnte als erfolgreicher Träger einer zeitgemäßen parlamentarisch-demokratischen Republik den Rückfall in Autoritarismus oder Totalitarismus verhindern und eine parlamentarische Republik etablieren, die mit dem Ethos der Menschen- und Grundrechte von einer effektiven Wertegemeinschaft getragen wird. 

 

Hannover, 11/10/2020

 

 


[1] Vergl. Weiter: gholamasad.jimdofree.com/artikel/nationalismus-islamismus-und-patriotismus-der-iraner-in-ihrem-langen-kampf-seit-der-konstitutionellen-revolution/

[2] Gerald Hüter, Die Evolution der Liebe, – Was Darwin bereits ahnte und Darwinisten nicht wahrhaben wollen, Göttingen 2003, S. 77ff.

[3] Vergl. Gerald Hüter, Biologie der Angst – Wie aus Stress Gefühle werden, Göttingen 2004. & derselbe., Die Evolution der Liebe – Was Darwin bereits ahnte und Darwinisten nicht wahrhaben wollen, Göttingen 2003.

[4] Vergl. Norbert Elias, Social anxieties, First published in the Member’s Bulletin (No. 3, October 1948) of the Institute for the Scientific Treatment of Delinquency (London)

[5] Diese Konzeption wurde von dem britischen Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby, dem schottischen Psychoanalytiker James Robertson und der US-amerikanisch-kanadischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelt. 

[6]Vergl.  Norbert Elias, Über Menschen und ihre Emotionen: Ein Beitrag zur Evolution der Gesellschaft, in Zeitschrift für Semiotik, Bd., 12, Heft 4 (199), S. 337 – 357)

[7]  Vergl. Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch: Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins München 2011

[8] Vergl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisierung, Frankfurt/M. 1976

[9] Vergl. Viktor E. Frankl, Der unbewusste Gott, München 1988, S. 23ff.