Zum Entstehungszusammenhang des postrevolutionären Umbruchs im Iran als Nachholeffekt des sozialen Habitus*

Einleitung

 

In diesem Beitrag sollen einige Aspekte des nachrevolutionären Umbruchs im Iran als praktische Kritik der Islamisierung der Revolution und der nachrevolutionären Staatsgesellschaft diskutiert werden. Diese Kritik ist zurückzuführen auf die allgemeine Erfahrung dieser Islamisierung, deren Sinn und Bedeutung für die Mehrheit der Bevölkerung in ihrer sukzessiven Enteignung  und Erniedrigung bestand. Sie ist zugleich begleitet gewesen durch praktische alltägliche Versuche der Wiederaneignung der inzwischen durch einige der immer kleiner werdenden Kerngruppen der Herrschaft monopolisierten Macht- und Statusquellen.

 

Die überraschenden Ergebnisse der letzten Präsidentschafts- und Kommunal- und Parlamentwahlen sind die bisher umfassendsten und sichtbarsten Ausdrücke dieser praktischen Kritik und des Aneignungsversuches. Bei den Präsidentschaftswahlen wurde mit der Ablehnung des konservativen Kandidaten des Establishments zugleich der letzte Islamisierungsversuch der Staatsgesellschaft verhindert. Beabsichtigt war nämlich, die endgültige Eliminierung der republikanischen Komponente der Verfassung und die Errichtung eines „“gerechten Islamischen Staates“ als adäquate Form der „absoluten Rechtsgelehrten Herrschaft“[1] Damit sollte die Islamisierung der Staatsgesellschaft im konservativen Sinne abgeschlossen werden.

 

Berücksichtigt man einige andere weniger spektakulären Aspekte eines solchen Umbruchs (Bayat, S. 43ff.) wie Urbanisierung der Städte, den intellektuellen Revivalismus der islamisch orientierten Gebildeten und den  islamischen Feminismus, erweist sich der Umbruch vor allem als ein Nachholeffekt des sozialen Habitus der Menschen, die einst mit Khomeini an der Spitze die Islamisierung der Revolution und der Gesellschaft im Sinne einer institutionellen Ent-Demokratisierung ermöglichten. Er ist Folge der nachgeholten Transformation ihrer Perönlichkeitsstruktur: Die Transformation der gemeinsamen gesellschaftlichen Ausprägung ihres individuellen Verhaltens, ihrer Sprache und Denkweise, ihrer Gefühlslage und vor allem ihrer Gewissens- und Idealbildung hat die relativ rascher vorausgeeilte soziale Differenzierung mehr oder weniger nachgeholt.

 

1. Die Erfahrung der Islamisierung der Gesellschaft als eine sukzessive Enteignung  und Abwertung bzw. Erniedrigung der Mehrheit

 

Diese  Diagnose wird nachvollziehbar, wenn man sich daran erinnert, daß die Islamistische Republik selbst als Nackhinkeffekt des sozialen Habitus entstand.(Gholamasad, 1997, S. 357ff.)[2] Sie ist Folge einer chiliastisch[3] geprägten nativistischen[4] Revolution, die von Khomeinismus dominiert wurde(Gholamasad 1985). Sie ging hervor als Konsequenz eines Umschlages kollektiver Trauer der islamisch geprägten marginalisierten, stigmatisierten und erniedrigten Massen in einen Hegemonialrausch.

 

Mit der Übergabe der in kurzen bewaffneten Auseinandersetzungen erbeuteten Waffen an die Moscheen, wie Khomeini es forderte, wurde die eroberte Staatsmacht nicht nur symbolisch einer Geistlichkeit übergeben, welche die Menschen ausdrücklich als unmündig erklärte und im Gottes Namen die absolute Herrschaft für sich beanspruchte. Mit diesem Schema von Selbstwerten,- dem empfundenen Wert eines Menschen für sich und für andere - und gestützt auf dieser Machtquelle, leiteten sie eine Islamisierung der Gesellschaft ein, die als sukzessive gewaltsame Enteignung und Monopolisierung weiterer Macht- und Statusquellen zu einer mehrschichtig überlagerten Etablierten-Außenseiter-Beziehung auf allen Integrationsebenen mit der khomeinistischen Geistlichkeit an der Spitze führte.

 

Diese Islamisierung der Staatsgesellschaft bedeutet nicht nur die allgemeine Erniedrigung aller muslimischen Staatsbürger durch ihre Entmündigung, sondern auch die Enteignung des gleichberechtigten Rechtsstatuses der Nichtmuslime als iranischer Bürger und ihre Umwandlung in Schutzbefohlene mit gewissen Minderheitenschutz. Diese Konfessionalisierung der Apartheid kommt nicht nur durch die Islamisierung der Symbole wie der Flagge, der Nationalhymne und entsprechender rechtlicher Regelungen zum Ausdruck sondern auch durch Davidsstern ähnlichen Stigmas, wie obligatorische Hinweisschilder der nicht-muslimischen Gastronomen, die indirekt auf ihre „Unreinheit“ („nadjest“) aufmerksam machen sollen.

 

Mit der Islamisierung der Gesellschaft im Sinne einer „Gemeinschaft der Muslime“, „Umma“, wurden auch die Autonomiebestrebungen aller zumeist sunitischen ethnischen Gruppen gewaltsam unterdrückt. Die mit der Unterdrückung der föderativen Komponente der Revolution entstandene „islamische Republik“ bedeutet auch die ethnische Enteignung der Macht- und Statusquellen und damit Verschärfung der Ethnisierung und Regionalisierung sozialer Konflikte bzw. der Etablierten-Außenseiter-Beziehungen.[5]

 

Die Etablierung der „Islamischen Republik“ ging zudem einher mit der Islamisierung des Alltagslebens durch gewaltsame Durchsetzung partikularer Anstandsregeln der Khomeinisten als allgemein geltendes Muster von Trieb- und Affektkontrolle. Sie wurde aber nur möglich durch die Monopolisierung der gesellschaftlichen Definitionsmacht. So wurde der harte Kern, um den herum sich ihr  Selbstwertgefühl aufbaute, nämlich ihr, vor der Revolution als rückständig stigmatisierten Verhaltens- und Erlebensmuster zum islamischen Muster der Trieb- und Affektkontrolle definiert. Durch eine selbstbewußte Gegenstigmatisierung zum Kernstück ihres sozialen Stolzes erhoben, wurde ihr gruppenspezifisches Zivilisationsmuster dann demonstrativ zum nachrevolutionären Bewertungsmaßstab aller Menschen erhoben. Mit dieser außeralltäglichen Selbsterhöhung, versuchten sie nicht nur die anders empfindenden und verhaltenden Menschen gewaltsam zur Annahme ihres Zivilisationsstandards zu zwingen sondern auch sie demonstrativ zu erniedrigen. In diesem Sinne wurde „die Einhaltung der Islamischen Erscheinung“ zu ihrer Hauptforderung, der sie brutal Geltung zu verschaffen versuchten; im Sinne der Einschränkung der praktischen alltäglichen individuellen Entscheidungs- und Handlungsspielräume der Menschen, wurde dies zum praktischen Symbol der Unterwerfung und Erniedrigung vor allem der Frauen und der Jugendlichen.

 

Bereits unmittelbar nach dem Sturz des Schahregimes wurde die Zwangsverschleierung für die konservativeren Khomeinisten zur symbolisch wichtigste Maßnahme zur Islamisierung der Gesellschaft. Zum Inbegriff der angemessenen kleidung erhoben, wurde der schwarze Schleier als äußerlich wahrnehmbares Symbol der Islamischen Republik.  Mit der Parole „entweder Kopftuch oder Kopfhiebe“, wurden als erste die Frauen unmißverständlich aufgefordert, sich ihrer sozialen Weltordnung zu unterwerfen. Vermittels dieser Zwangsverschleierung wurde außerdem versucht die religiös geprägte Identität der vor der Revolution als „Ommol“, Altmodisch stigmatisierten Frauen zur Identität der iranischen Frau zu erheben und ihre eigene Scham- und Peinlichkeitsschwelle als Islamische Grenzen des Anstandes gemeinhin zu glorifizieren.

 

Gemeinsam mit der Zwangsverschleierung der Frauen und der permanenten Kontrolle der Geschlechterbeziehungen durch die Moralhüter, die keine Privatsphäre respektierten, wurden auch viele vor der Revolution verabschiedeten liberaleren Gesetze aufgehoben. Dies betraf sowohl das Familienrecht als auch die beschäftigung- und bildungspolitische Bevorzugung der Frauen. Kindertagesstätten und Familienplanungsprogramme wurden als imperialistische Konspiration verteufelt. Polygamie wurde toleriert und Männer bekamen erneut das Sorgerecht für die Kinder sowie das automatische Scheidungsrecht.

 

Diese institutionelle Ent-Demokratisierung und De-Zivilisierung[6] der Gesellschaft ging einher mit Versuchen umfassender Islamisierung des Freizeitverhaltens der Menschen. Sie umfaßte die Regelung des Trinkverhaltens, der Kleiderordnung, der Musik-, der Film- und, Fernsehproduktion und  -konsumtion, der Beschränkung der Parabolantennen und  Islamisierung der Feiertage.

 

Von all diesen Restriktionen wurden vor allem die Jugendlichen in Mitleidenschaft gezogen; in Gestalt eines Übermaßes vom gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang beeinträchtigten sie massiv ihr individuelles Vermögen zur Trieb- und Affektfreude.[7] Vor allem mit der eingeführten moralischen Restriktionen, die von einem Zeitalter überliefert wurde, in der die Menschen bereits in ihrer Adoleszenphase vermählt wurden, wurde jungen Menschen über eine sehr lange Ausbildungszeit hindurch jeder außereheliche Kontakt untersagt. Überdies wurde mit der Sexualisierung aller affektiven Valenzen der Menschen, jeder Kontakt zwischen Jungen und Mädchen untersagt. Mit der Geschlechtersegregation wurde nicht nur die Freude an Gesellschaft anderer Menschen unterdrückt, sondern auch alle nicht-sexuellen affektiven Bindungspotentiale der Menschen und damit die Differenzierung ihrer Persönlichkeitsstruktur.[8] 

 

Neben dieser Islamisierung ihres Kontrollmittels wurde außerdem versucht ihr Orientierungsmittel zu islamisieren. In diesem Sinne wurde mit der Islamischen Kulturrevolution in den früheren 1980er Jahren eine Islamisierung des Bildungssystems eingeleitet. Ihr offizielles Ziel war vor allem die Produktion und Reproduktion der Islamischen Staatsbürger. Abgesehen von der „Säuberung“ bzw. Enteignung der vorhandenen Positionsinhabern durch Khomeinisten, manifestierte sich diese Islamisierung primär in der Erweiterung und Intensivierung der Fremdzwänge in den Bildungseinrichtungen.

 

Mittels der Islamisierung der Gesellschaft wurde nicht nur versucht, überlieferte konfessions- gruppen--, berufs-, geschlechter-, und generationsspezifische Selbtswertbeziehungen im Sinne der Selbsterhöhung des khomeinistischen Establishment zu reproduzieren; als Attribute ihres individuellen und sozialen Stolzes hervorgehoben, wurde das khomeinistische Schema der Selbstwerte, zugleich zum Schema der Verteilung der Privilegien.

 

Von den Diskriminierten wurde daher die Islamisierung der Gesellschaft zugleich erfahren nicht nur als gewaltsame Durchsetzung dieses Schemas der Verteilung der Ingredienzen der Selbstachtung, der Verteilung der Symbole der Überlegenheit, an denen das Selbstwertgefühl der islamisch geprägten Menschen haftet. Als eine Neuverteilung der Macht- und Statusquellen ging sie daher mit einem permanenten Enteignungs- und neuen Verteilungsprozeß der begrenzt vorhandenen Macht- und Statuschancen einher.[9]

 

Noch von der bipolaren Hauptspannungsachse zwischenstaatlicher Beziehungen des kalten Krieges und damit einhergehender bipolarer Orientierung sozialer Bewegungen des vorrevolutionären Irans geprägt, wurde von den ersten nachrevolutionären Tagen an die Forderung nach einer „Islamischen Ökonomie“ erhoben. Eine Wirtschaftsordnung, die auf der „Islamischen Gerechtigkeit“ basierend, weder kapitalistisch noch sozialistisch sein dürfte. Ihr Eckstein sollte die Neudefinition des Eigentumsrechts, d.h. des gerechten Eigentumstitels im Sinne der Shari´a (Malekijt-e Maschru´a) sein. Der Wohlstand der mustaz´afin, der Benachteiligten sollte ihr Ziel sein. Zahlreiche Seminare wurden für die Diskussion der „islamischen Ökonomie“ organisiert. Da keine definitive Antwort auf die Frage gefunden werden konnte, was Islamisch sei, wurden nur jene Entscheidungen getroffen und umgesetzt, die unter den Kerngruppen der sich etablierenden Herrschaft Konsens fähig waren. So wurde der Kapitalzins nur in Theorie aufgehoben und das Arbeitsrecht so verändert, das praktisch kein Unternehmer sich traute, jemanden einzustellen[10], Islamische Andacht am Arbeitsplatz durchgesetzt, als „unislamisch“ gebrandmarkte Geschäftsleute eliminiert, verhaftet, oder enteignet, und ausländische Kapitalinvestitionen verhindert.

 

Mit dem Verlust der allgemeinen Rechtssicherheit als unabdingbare Voraussetzung jeder längerfristigen Kapitalinvestition schufen diese Maßnahmen eine allgemeine Geschäftsunsicherheit und einen empfindlichen Investitions- und Produktivitätsrückgang und damit eine allgemeine Verarmung der Gesellschaft[11]. Sie wurde noch verstärkt durch die Verdoppelung der Bevölkerungszahl[12] und erheblichen Rückgang der Erdöleinnahmen[13], der Haupteinnahmequelle des Landes, das zudem durch mangelnde Kompetenz und Vetternwirtschaft größten Teils vergeudet wurde.

 

Die Notwendigkeit der Reaktion auf diese ökonomischen Entwicklungstendenzen rief eine Debatte zwischen den „Spezialisten“ (takhassosgerajan) und den ideologisch verpflichteten (Maktabis) hervor. Sie ging einher mit den ersten gewaltsamen Ausscheidungskämpfen zwischen den Kerngruppen der Macht,  nachdem bereits die säkular orientierte „Nationalfront“ und die islamisch orientierte liberale „Freiheitsbewegung“ in den ersten Monaten nach der Revolution aus der revolutionären Koalition ausschieden. Die von dem ersten Präsidenten, Banisadr repräsentierte Gruppe der mehr sachorientierten „Spezialisten“, betonten die Fachkompetenz als Selektionskriterium der Verantwortlichen und ihrer Entscheidungsgrundlage für die angemessene Behandlung der ökonomischen und technischen Probleme. Die eher ideologisch orientierten Maktabis bestanden auf dem besonderen Stellenwert der Islamischen Verpflichtung verglichen mit der Sachkompetenz. Diese scheinbar autonomen bzw. heteronomen Bewertungmaßstäbe als einer der Aspekte der Zivilisationsdifferentialen wurden bestimmt durch ihre unterschiedlichen Selbstbewertungsmodi; sie bestimmten u.a. die ersten Formationen der khomeinistischen Kerngruppen der Macht und in diesem Zusammenhang auch mehr oder weniger des weiteren sozialen Feldes.

 

Bis zum Ende der 80er Jahre waren die ideologisch verpflichteten Maktabis und ihre Vorstellungen dominant; sie begriffen den als Islam definierten eigenen Orientierungsrahmen als ein umfassendes soziales, ökonomisches, politisches und moralisches System, das Lösungen für jedes menschliche Problem besitzt. Diese zu finden, hinge bloß ab von den „wahren“ Muslimen sowie ihrem  Verpflichtungsgrad und ihrer Beharrlichkeit.

 

Solche affektive Besetzung eines als Islam definierten eigenen Orientierungsmittels führte mit der Monopolisierung der Wahrheit zur praktischen Aufhebung jeglicher Koexistenzmöglichkeit der konkurrierenden Vorstellungen und dadurch zur Entstehung einer scheinbar einhelligen Gesellschaft. Diese Selbstwertbeziehung der Maktabis manifestierte sich als Intoleranz gegenüber den und ein permanenter gewaltsamer Ausschluß der Andersdenkenden, die stigmatisiert und unterdrückt, ja gar physisch eliminiert wurden.

 

Diese gewaltsam durchgesetzte soziale Weltordnung, an deren Spitze die Khomeinisten sich kraft ihres relativ höchsten menschlichen Selbstwertes  zu setzen glaubten, dominierte bis zum Ableben Khomeinis, Ende der 1980er Jahre. Der von Khomeini als „Gottes Segen“ begrüßte Krieg (Gholamasad, Sep. & Dez. 1989) gegen Irak trug erheblich zur Dominanz dieses Islamisierungsschubes bei.

 

Er wurde - trotz erheblicher Opposition eines großen Teils der Bevölkerung - vor allem getragen von der armen Stadtbevölkerung, die größten Teils aus den marginalisierten landflüchtigen Bauern bestand; hinzu kamen das traditionelle städtische Kleinbürgertum, Teile der städtischen Jugend, vor allem die zweite Generation der Migranten und Teile des modernen Bürgertums, vor allem Teile des Berufsbürgertums. Sie wurden integriert in gruppenspezifischen islamischen Organisationen, deren Kohäsionsgrad ihnen eine zusätzliche Machtquelle zur Verfügung stellte.

 

Eine große Anzahl der Jugendlichen wurde integriert durch Kriegsanstrengungen, und revolutionäre Institutionen, wie die „Revolutionswächter“ (Pasdaran), Paramilitärische Jugendorganisationen der Basieji, und Jahad-e sazandegi[14]. Bei diesen, in der Regel aus der Unterschicht stammenden Jugendlichen, riefen die moralischen Restriktionen keine Loyalitätskrise hervor, zumal sie selbst diese exekutierten.  Im Gegenteil, ihre moralisch eingeschränkte Trieb- und Affektfreude konnte durch solche Integration in den „revolutionären Institutionen“ und als somit als Teilhaber an der Macht- und Statusquellen kompensiert werden. Eine der Kompensationsformen dieser alltäglichen Einschränkungen der Trieb- und Affektfreude bestand z. B.  in der außeralltäglichen Möglichkeit mancher von ihnen, sich an den zum Tode verurteilten und ihnen schutzlos ausgelieferten weiblichen politischen Gefangenen schadlos zu halten. Nach ihrer Überzeugung gehen die Jungfrauen als Ausgleich für ihre versagte sexuelle Triebfreude automatisch nach dem Tod ins Paradies. Um dies zu verhindern gingen sie in der Nacht vor ihrer Hinrichtung eine Zwangsehe mit ihnen ein, um ihre Unschuld zu nehmen. In der Regel klopften sie am nächsten Tag an der Tür der Hinterbliebenen, um ihnen die Habseligkeiten der vergewaltigten und hingerichteten jungen Mädchen  auszuhändigen. Dabei erwähnten sie, daß sie praktisch ihr Schwiegersohn wären; zugleich ließen sie auch noch die Kosten der, bei der Hinrichtung „verschwendeten“ Kugeln von den Hinterbliebenen erstatten.[15] Dies deutet darauf hin, wie relativ triebdurchlässig, ungleichmäßig, labil und wenig autonom ihre Selbstzwangsinstanzen gewöhnlich sind. Sie bedürfen daher der ständigen Unterstützung und Verstärkung durch Fremdzwänge. Zu diesen Fremdzwängen gehören nicht nur die realen Zwängen anderer Gruppenmitglieder, die sie z. B. in Gestalt der absoluten Schriftgelehrtenherrschaft verteidigen, sondern auch die Zwänge kollektiver Phantasien in der Form von Geistern und den dazugehörigen Mythen, wie sie in der Islamischen Republik alltäglich reproduziert werden. Zu deren Funktionen gehört die ständige Hilfestellung für und Verstärkung der relativ fragilen persönlichen Selbstzwangsinstanzen dieser Menschen, die als „Parteigänger Gottes“ („Hizbollah“) für die Aufrechterhaltung der Herrschaft jederzeit mobilisierbar bleiben. Mit diesen Großmachtphantasien, empfinden sie als Teilhaber an Gottes Allmacht jede Verletzung dieser als heilig empfundenen Mythen als existentielle Bedrohung, worauf sie mit islamisch legitimierter Gewalt reagieren. Ihre mangelnde Toleranz, ihre Gewalttätigkeit und ihr Fanatismus sind zurückzuführen auf diese Erfahrung existentieller Bedrohung. Diese leicht mobilisierbare Furcht ist die Psychogenese der Reproduktion der „absoluten Schriftgelehrten Herrschaft“.

 

Diese gewalttätige soziale Basis des Regimes entstand vor allem durch die narzißtische Verschmelzungsfantasien der durch die Modernisierung entwurzelten, marginalisierten und erniedrigten Menschen, die sich über Khomeini mit einander identifizierten und die Massenbasis des Khomeinismus bildeten. Khomeinis Charisma sorgte auch mehr oder weniger für ihre Integration, so lange er noch am Leben war. Mit dem nicht besonders glorreichen Ende des Krieges (1988) und seinem Ableben (1989), setzte ein Veralltäglichungsschub der Revolution ein, der die Grundlage der bestehenden Herrschaft erschütterte(Gholamasad, 1999, S. 27ff.).

 

2. Einige Aspekte des Umbruchs als Veralltäglichung der Islamisierten Revolution

 

Mit dem einsetzenden Veralltäglichungsschub der Revolution seit Kriegsende (Gholamasad, 1988) und dem folgenden Ableben Khomeini, verdrängten die banalen Anforderungen des Alltagslebens wie Einkommenssicherung, Lebensmittelversorgung, Unterkunft, usw. die revolutionäre Ideologie, den Altruismus und alles, was heilig zu sein schien. Nicht nur solche grundlegende Veränderung der sozialen Wertstruktur,[16]sondern auch Probleme der allgemeinen politischen Apathie, Jugend- und  Bevölkerungsprobleme u. a. drängten sich in Vordergrund. Die Einschätzung dieser Probleme und die unterschiedliche Reaktionen darauf führten zur verschärften Differenzierung der noch übrig gebliebenen Kerngruppen des Establishments und zur Umorientierung Teile davon.

 

Manche von Ihnen befürchteten die zunehmende Gleichstellung des erlebten gesellschaftlichen Übels mit dem Islam schlechthin und die sich daraus folgende massenhafte Abwendung davon. Die Probleme der Jugend, der Kinder der Revolution erschienen ihnen als das dringendste aller Probleme. Sie mußten eingestehen, daß die Islamisierung der Bildung im Sinne der Reproduktion der islamisch orientierten Jugend versagt hatte. [17]

 

In der Tat machte die Gleichstellung der „Islamischen Republik“ mit der erfahrenen Einschränkung ihrer individuellen  Trieb- und Affektfreude die Jugendlichen nicht gerade zu ihrer sozialen Basis. Vor allem dann nicht, wenn sie ihnen auch keine rosige Zukunftsperspektive versprechen konnte. Nicht nur die alltäglichen Restriktionen, sondern auch die katastrophale ökonomische Entwicklung  und damit einhergehende düstere Zukunftsperspektive schuf eine frustrierte Jugend, die mit der Unterdrückung aller sonst möglichen alternativen Orientierungsmöglichkeiten in einem ideologischen Vakuum lebt. Das Ergebnis war und bleibt die Expandierung der Armee der frustrierten und demoralisierten Menschen.

 

Mit der Internalisierung solcher Bedingungen, entwickelten Teile der Jugendlichen nihilistische Tendenzen. Viele wendeten sich der Gewalttätigkeit zu, wofür die Ausschreitungen in Anschluß an Massensportveranstaltungen wie beim Fußballspiel in Tabriz 1994 als Beispiel steht. Die mehr ambitionierten fanatisieren permanent über Migration in die westliche Welt.

 

Die Integration dieser entfremdeten Jugendlichen, der Mehrheit der Bevölkerung ist gegenwärtig ein Anliegen nicht nur der liberaleren Teile des Establishments, die mit Khatami an der Spitze und mit massenhafter Unterstützung der Jugendlichen die weitere Islamisierung im Sinne der Enteignung von Chancen ein Ende setzen will und ihre demokratischere Verteilung anstreben. Der Sieg Khatamies, eines Außenseiters innerhalb des Establishments  wäre ohne eine allgemeine Umorientierung und entsprechend aktive Mobilisierung, insbesondere der Frauen, Jugendlichen und des Berufsbürgertums nicht möglich gewesen.

 

Von nicht geringer Bedeutung für die jüngste Entwicklung ist die quietistische Umorientierung großer Teile der Geistlichkeit. Sie geht hervor aus ihrer paradoxen nachrevolutionären Erfahrung. Erstens führte die Islamisierung des Staates zur Säkularisierung von „fiqh“, der Islamischen Rechtsprechung. Die absolute Schriftgelehrtenherrschaft gibt dem „faqih“, dem herrschenden Rechtsgelehrten die Machtchance, das sonst als göttlich geltende Recht zu ändern, ja gar außer Kraft zu setzen. Sogar die als „wajibat“, religiöse Pflichten geltenden Vorschriften sind nicht davon ausgeschlossen. Diese Machtchance wird legitimiert durch die Priorität von „valayt“, der Erhaltung der  Islamischen Herrschaft gegenüber allen anderen religiösen Pflichten. Ihre Aufrechterhaltung ist nach Khomeini die absolut höchste religiöse Pflicht. Dies beutet nicht nur die Vernachlässigung all dessen, was sonst heilig ist im Interesse der profanen Erfordernissen des Islamisierten Staates, sondern auch eine Einschränkung des Vorrechtes der Geistlichkeit auf autonome Interpretation von Shari´a. Zweitens bedürfen die „fetvas“, die Rechtsgutachten der Geistlichkeit über öffentliche Angelegenheiten der Zustimmung des herrschenden Rechtsgelehrten; außerdem ist ihr Anrecht auf  Abgaben der Gläubigen, „haq-i Imam“, von seinem Erlaubnis abhängig. Schließlich hat die Verschmelzung von Staat und Religion die spirituelle und soziale Legitimation der Geistlichkeit beeinträchtigt, da viele der Gläubiger das Versagen des Staates mit dem der Geistlichkeit identifizieren. So verliert die Geistlichkeit zum ersten Mal in der modernen iranischen Geschichte ihre Unabhängigkeit und  Machtchancen und das ausgerechnet in einem Islamischen Staat.

 

Diese veränderte Lage der Geistlichkeit beunruhigt vor allem viele Geistliche der jüngeren Generation über ihre eigene Zukunft und die der Institution der Geistlichkeit. Sie denken, es wäre in ihrem Interesse, sich nicht auf Politik als ein schmutziges Geschäft einzulassen.

 

3. Einige Aspekte des nachrevolutionären Umbruchs als Revision der Islamisierten Revolution

 

Die Islamisierung der Staatsgesellschaft, wie sie allgemein erfahren wurde, führte also zu grundlegenden Veränderungen im sozialen Habitus der in den nachrevolutionären Ereignissen verwickelten Menschen; sie haben, trotz Unterschiedlichkeit ihrer sozialen Position etwas gemeinsam: den Wunsch nach Wiederaneignung der im Islamisierungsprozeß enteigneten Macht- und Statusquellen und die Aufhebung des herrschenden Schemas von Selbstwerten.[18]Dieser Wunsch setzt eine Veränderung der Selbtswertbeziehungen der Menschen voraus; sie  bedeutet die Überwindung der eigenen Minderwertigkeitsgefühle und Depression und die Erhöhung der Selbstachtung und Selbstsicherheit. Er ist primär Folge einer Transformation der Selbsterfahrung der Menschen, die einst mit Khomeini an der Spitze zur Islamisierung der Revolution und der ihr folgenden Republik beitrugen.In diesem Sinne ist die Überwindung der eigenen Minderwertigkeitsgefühle und Depression und die Erhöhung der Selbstachtung und Selbstsicherheit der Menschen eine nachgeholte Transformation ihrer Selbsterfahrung. Von daher sind die wahrnehmbaren Veränderungsschübe nicht nur als praktische Kritik der bestehenden Herrschaftsverhältnisse, sondern auch als Nachholeffekt des sozialen Habitus der in den Ereignissen verwickelten Menschen zu begreifen.

 

Zu den erkennbaren grundlegenden Veränderungen gehören u.a. die Urbanisierung der Städte, der intellektuelle Revivalismus der islamisch orientierten Gebildeten und der  islamische Feminismus. Sie möchte ich hier kurz exemplarisch skizzieren.

 

3.1. Der nachrevolutionäre Urbanisierungsschub als Verfeinerung des Lebensstils am Beispiel Teherans

 

Iranische Städte entstanden in der Regel als Agro-Städte und Verwaltungszentren. Selbst Teheran besaß als Hauptstadt einen solchen agro-städtischen Charakter. Ihre durch die Modernisierung beschleunigte vorrevolutionäre Urbanisierung wurde auf der einen Seite überschattet durch eine Verdörflichung als Folge der Massenmigration der durch die Landreform freigesetzten Bauern; auf der anderen Seite wurde sie nicht nur von den islamisch orientierten konservativen Schichten als „Verwestlichung“ verteufelt. Die unglaubliche und grausame Brandstiftung in einem Kino in Abadan in der Anfangsphase der Revolution dokumentiert diese blindwütige Feindseligkeit gegen eine solche Urbanisierung des städtischen Lebens im Sinne der Verbesserung der Lebensqualität als einer „Manifestation des Kulturimperialismus“. Mit dem Sieg der Islamisierten Revolution wurde die Verfeinerung des urbanen Lebensstiles partiell rückgängig gemacht. Selbst Musizieren wurde nach der Revolution untersagt, während Musiksendungen, mit Ausnahme der klassischen Musik abgestellt wurden.

 

Es ist umso bemerkenswerter, daß die Urbanisierung nun mit der Veralltäglichung der Revolution einen enormen Schub erfuhr und vor allem voran getrieben wurde durch Islamisch orientierte Funktionsträger. Zum Beispiel wurde einer der gegenwärtig inhaftierten Islamischen „Pragmatisten“, karbastschi, 1989 zum Oberbürgermeister Teherans ernannt. Seit dem hat er die Hauptstadt so umgestaltet, daß sie einen gänzlich neuen Charakter bekommen hat, nicht aber im Sinne einer islamischen Stadt. Ihre räumliche Konfiguration und Symbole, Autobahnen, riesigen Reklameschilder, und Einkaufszentren erinnern den Besucher eher an Los Angeles als an die heiligen Städte wie Karbala oder Qom. Es gibt nicht einmal Spuren von den schnell dahin gekritzelten revolutionären Parolen und Poster, die Anfang der 80er Jahre  fast alle Mauern der Stadt schmückten. Sie wurden ersetzt durch Reklameschilder oder offiziell zugelassenen Parolen, ausgestattet eindrucksvoll mit bunten Mustern und Portraits.

 

Zwar entstand nach der Revolution ein Boom im Errichten von Moscheen, die in jedem Stadtteil wie Pilze aus dem Boden schossen. Ihnen folgte aber ein Säkularisierungsschub der Freizeitgestaltung der Menschen. Inzwischen gehören nicht nur die regelmäßigen Industriemessen zu den selbstverständlichen Einrichtungen dieser Stadt mit ca. 14 Mio. Einwohner, sondern auch ausgezeichnete Kulturzentren (Farhang-sara), sowohl in wohlhabender Nord- als auch in armer Südstadt; ständige Kunst- und  Musikveranstaltungen gehören zu den selbstverständlichen kulturellen Angebote. Dabei genießen die iranischen und westlichen klassischen Musikdarbietungen enorme Popularität unter der Jugend, die 75% der Konzertbesucher stellen. Nicht nur die Musikkonsumtion, sondern auch das private Musizieren hat sich trotz bzw. wegen des anfänglichen Verbots des musikalischen Vergnügens verbreitet. In jeder Familie, die sich Musikunterricht leisten kann, haben die Kinder angefangen, ein Musikinstrument  zu spielen.

 

Nicht übersehbar sind auch andere vielfältige Formen der säkularen und geselligen Freizeitgestaltung. Trotz Zwangsverschleierung  und Geschlechtertrennung, bringen die 500 neu entstandenen städtischen Parkanlagen nicht nur verschiedene soziale Schichten in einem öffentlichen Raum zusammen, sondern auch die Geschlechter in unterschiedlichem Alter. Es gibt auch andere räumliche Arrangements, welche die Geselligkeit von Jungen und Mädchen erleichtern, einschließlich Bergsteigen und Ski fahren im Nord-Teheran, sowie Fahrrad fahren in künstlich angelegten Wäldern.

 

Die Urbanisierung scheint mit der Säkularisierung und Vervielfältigung des Pressewesens einherzugehen. Letztere ist ein signifikanter Aspekt dieses Umbruchs und eine Reaktion auf die Monopolisierung der Massenmedien durch die konservativen Kerngruppen des Establishments. Diese Urbanisierung macht sich vor allem bemerkbar in der allgemeinen Akzeptanz der ersten säkular orientierten Tageszeitung; diese nach den Alltagsbedürfnissen der Menschen orientierte Zeitung wurde von der „pragmatisch“ ausgerichteten Stadtverwaltung als die auflagenstärkste Zeitung herausgegeben. Ihr Erfolgsrezept liegt vor allem in ihrer säkularen Ausrichtung und farbigen  Aufmachung und zwar in einer sonst durch schwarze Farbe dominierten Welt der Konservativen. Sie veröffentlicht neben Bürgerbeschwerden vorwiegend Beiträge, die sich mit säkularen Themen wie Kultur, Kunst, und Alltagsprobleme eines urbanen Leben beschäftigen. Diesem Rezept folgend, werden inzwischen zahlreiche Tageszeitungen sowie thematisch vielfältig differenzierte Zeitschriften publiziert, die sich als zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit begreifen[19]. Hinzu kommt eine Fülle von, in ihrer Zahl, Auflage und thematischen Orientierung einmaligen, Sachbücher neben der sonst üblichen literarischen Produktionen. Mit den aktuellsten Übersetzungen scheint der Büchermarkt einen Globalisierungschub erfahren zu haben. Sie kommen einer veränderten Bedürfnisstruktur der Menschen entgegen, die gekennzeichnet ist durch einen massiven Säkularisierungsschub.

 

3.2. Der intellektuelle Revivalismus der islamisch orientierten Gebildeten in Gestalt der Bewegung der „degarandishan“, der „Andersdenkender“

 

Wenn gegenwärtig Khatami die Freiheit als Freiheit der Andersdenkenden propagiert, denkt er höchst wahrscheinlich vor allem an eine neue intellektuelle Bewegung, die als „Andere Denkrichtung“ (Andisheh-ye Diga´r) bezeichnet wird. Auf der intellektuellen Ebene, ist sie der Gipfel des nachrevolutionären Umbruchs. Sie wird angeführt von einem Professor für Philosophie, Abdul-Karim Soroush,[20] der einst eine der Träger der „Islamischen Kulturrevolution“ war.[21]

 

Diese Bewegung ist weder anti-Islamisch noch säkular; sie verkörpert eine Säkularisierung des Islam, indem sie die Kompetenzen der Religion in unserem Zeitalter neu zu bestimmen versucht. Erkenntnistheoretisch begründen die Protagonisten dieser Bewegung die Aufforderung zu einer „hermeneutischen Lesart“ von Koran (Schabestari, 19982), und lehnen eine „wahre Lesart  bzw. eine exklusive „Experten Lesart“ der Geistlichkeit ab. In der Tat versucht diese Bewegung, die Professionalisierung der Interpretation der religiösen Quellen durch die Geistlichkeit aufzuheben, die von der Monopolisierung des religiösen Wissens lebt. Durchdrungen von der „Aufklärung“, betreibt diese Bewegung eine implizierte Kritik der Theorie von valayat-e faqih, der Rechtsgelehrten Herrschaft, der Grundlage des Islamischen Staates im Iran.

 

Sie vertritt den Standpunkt, daß die Leitung der modernen Gesellschaften zwar möglich  und wünschenswert ist, nicht jedoch durch die Religion; sondern durch wissenschaftliche Rationalität und in demokratischen Strukturen.

 

Mit Soroush, Shabestari, Kadivar[22] u.a. glaubt diese Bewegung nicht nur, daß Islam und Demokratie kompatibel sind; sie hält ihre Verbindung sogar für unvermeidlich. In der Tat, fordern sie die Errichtung eines säkularen demokratischen Staates, der den Islam als einen individualisierten Glaube beherbergt.

 

Sie lehnt die Vorstellung vom „Islam als die Lösung“ aller Probleme (al-Islam huwa al-hat) kategorisch ab. Für sie hat die Religion Grenzen in Beantwortung der menschlichen Probleme. Sie sei keine Domäne der alltäglichen Angelegenheiten, sondern der Geheimnisse, Perplexitäten, Liebe und Hingabe. Nicht desto weniger müsse der religiöse Glaube angeregt werden, da sie nicht nur das Leben der Menschen erträglicher mache, indem sie ihnen helfe,  mit der harten Realität des Lebens zurechtzukommen; sie liefere auch ein externes Mittel der Selbstkontrolle der Menschen und erleichtere genauso wie die Institutionen der Demokratie als Fremdzwang die Selbstkontrolle. Deswegen begreift diese Bewegung die Religion als ein Recht  und nicht mehr als eine Pflicht. Zu dieser Verschiebung der Balance zwischen der Selbst- und Fremdkontrolle zugunsten einer zunehmend individualisierten Selbststeuerung der Menschen kommen andere zivilisatorische Transformationen des sozialen Habitus der Träger dieser Bewegung hinzu. Vor allem die Erweiterung der Reichweite ihrer Identifikation mit Menschen jenseits ihrer Gruppenzugehörigkeit. Dies manifestiert sich in ihrer ausdrücklichen Ablehnung der gegenwärtigen Teilung der Bürger in Menschen erster und zweiter Klasse bzw. in Wir- und Sie-Gruppen („Khodi“ und „Gheir-e Khodi“) und die entsprechende Einschränkung des Wir-Bezüges auf die etablierten Kerngruppen der Herrschaft. Hinzu kommt die Zivilisierung ihrer Gottesvorstellung, die sie in ihrer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit den konservativen hervorheben, welche die Gewalttätigkeit in den politischen Auseinandersetzungen bzw. die physische Gewalt als Mittel der Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe im Gottes Namen zu legitimieren versuchen. Für beide dient zwar der Koran als Quelle. Doch entsprechend ihrer Zivilisationsdifferentiale, betonen sie jeweils die entgegengesetzten Attribute Gottes, wie sie in diesem Buch stehen. Gegenüber dem grausamen, gewalttätigen, strafenden, rachsüchtigen und intoleranten Gott der konservativen stellen sie ihren Gott, „der Gütigste aller Gütigen“.

 

Die Bewegung genießt eine weitverbreitete Unterstützung unter der Jugend und Gebildeten, den religiös orientierten genauso wie den säkularen, vor allem unter den zum größten Teil marginalisierten modernen Mittelschichten. Sie verfügt vor allem über eine enorme Gefolgschaft unter den Theologiestudenten, und zwar viel mehr als irgendein Großajatollah.

 

Das Besondere an ihren Vorstellungen ist nicht so sehr ihre Originalität als viel mehr die Tatsache, daß sie solche zunehmende Popularität in einem so selbstbewußten Islamischen Staat genießen.

 

3.3. Der „islamische Feminismus“

 

Eine der nicht minder signifikanten Aspekte des nachrevolutionären Umbruchs ist die Entstehung einer Art feministischer Bewegung im Rahmen dieser „Alternativen Denkschule“. Ihre Aktivisten, vertraut sowohl mit dem westlichen Feminismus als auch mit den Koranischen Lehren, kämpfen innerhalb des Islamischen Diskurses für die Aufhebung jener gegen die Frauen gerichteten Gesetze und soziale Praxis, die man religiös zu legitimieren versucht. Angelehnt an der Forderung der „Gleichheit der Männer und Frauen im Islam“, welche in einer revolutionären Atmosphäre von manchem religiösen Würdenträger anerkannt wurde, hat diese Bewegung beachtliche Vorstöße unternommen in ihrem Kampf zur Verschiebung der institutionellen Machtbalance zugunsten der Frauen, im Beschäftigungs- und Bildungsbereich sowie im Familienrecht.

 

Diese Vorstöße wären unvorstellbar gewesen ohne eine funktionale Demokratisierung der Geschlechterbeziehungen, ohne eine geschlechtsspezifische funktionale Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Frauen. Sie vollzog sich im Zuge der funktionalen Verschiebung der Position der Frauen im Modernisierungsprozeß. Sie hat sich trotz bzw. wegen der Islamisierung der Gesellschaft fortgesetzt, da mit der Geschlechtersegregation zugleich die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften enorm anstieg.

 

Trotz erheblichem Druck, spielen die Frauen eine viel großere Rolle als je zuvor in sozialen, ökonomischen und kulturellen Bereichen. Zum Beispiel, stellen sie nicht nur die Hälfte der 20 Mio. Schüler und Studenten, sondern auch über 50% der über 2 Mio. Studierenden. Berücksichtigt man die Verzehnfachung der Zahl der Studierenden allein seit der Revolution, wird die zunehmend veränderte soziale Rolle der Frauen und ihre wachsende öffentliche Bedeutung faßbarer. Sie besetzen gegenwärtig 50% aller Positionen in der öffentlichen Verwaltung und über 40% der gesamten qualifizierten Berufspositionen. Ihre öffentliche Bedeutung würde sogar noch enormer steigen, wenn die konservative Forderung nach Geschlechtersegregation konsequenter realisiert werden würde; sie würde noch mehr den Einsatz der qualifizierten Frauen erfordern, sollte das gegenwärtige Niveau der Dienstleitung an Frauen in allen Bereichen beibehalten werden.

 

Selbstverständlich werden die Frauen immer noch aufgefordert, den hejab, die vorgeschriebene Körperbedeckung einzuhalten. Doch selbst die Verschleierung hat manchen Frauen die soziale Mobilität innerhalb der männlich dominierten Feldern erleichtert. So sind viele Frauen aus den unteren Schichten, die früher das Hause nicht verlassen dürften, mobilisiert und spielen eine soziale Rolle in der Nachbarschaft und religiösen Institutionen. Viele solche Frauen haben sogar sehr erfolgreich bei den ersten Kommunalwahlen im Iran als Unabhängige kandidiert und spielen eine sehr aktive Rolle in diesen kommunalen Vertretungsorganen[23].

 

Dennoch blieben jene moderne Mittelschicht-Frauen, die immer noch empfindlich gegen Zwangsverschleierung reagieren, nicht passiv. Zumindest tragen viele städtische Frauen ihr Kopftuch sehr locker. Kein Wunder, daß die Funktionäre des Regimes ausnahmslos die bad-hejabi, die mangelnde Einhaltung der als Islamisch definierten Verschleierung in der Öffentlichkeit als einen öffentlichen Widerstand der Frauen gegen die Zwangsverschleierung beklagen.

 

Die iranischen Frauen betrachten sich als Vorhut des Emanzipationskampfes der Frauen in der islamischen Welt. Als Ergebnis ihres permanenten Kampfes seit der Etablierung der Islamischen Republik, wurde nicht nur die Chancengleichheit der Geschlechter im Bildungsbereich, nach anfänglichen Restriktionen wiedereingeführt. Die wieder eingeführte Polygamie, wurde auch ernsthaft eingeschränkt. Das einseitige Scheidungsrecht der Männer wurde durch die Wiedereinführung von Familiengerichten praktisch beschnitten und die Zeitehe wurde praktisch verdammt. Das Sorgerecht, das im Islamischen Recht zugunsten des Vaters geregelt ist, wird ernsthaft diskutiert. Der Kampf der Frauen für ihrer Wiedereinstellung als Richter, steht auf der Tagesordnung. Vor allem in Familiengerichten wurden sie bereits nach anfänglicher Säuberung des Justizsapparats[24], erneut eingesetzt, jedoch formal als Assistenten der sonst männlichen Richter.

 

Inzwischen existieren mindestens 60 zivilgesellschaftliche Assoziationen, in denen die Aktivitäten der Frauen organisiert sind. Sie kommunizieren ihre Vorstellungen durch die Publikationen wie Zanan, Farzaneh und Zan-ne Rouz. Sie organisieren öffentliche Veranstaltungen, nehmen aktiv teil an internationale Konferenzen, mobilisieren Politiker und religiöse Würdenträger für ihre Sache, und führen engagiert Auseinandersetzungen im Parlament (majilis)[25].

 

4. Zum Entstehungszusammenhang dieses nachrevolutionären Umbruchs als ein Nachholeffekt des sozialen Habitus der Menschen

 

Abschließend möchte ich hervorheben, daß im Unterschied zu den meisten Islamisch geprägten Gesellschaften, in denen der Islamische Diskurs die sozialen Auseinandersetzungen durchdringt, die Problemstellungen sich für die Menschen im Iran überraschender Weise zu säkularisieren scheinen. Mit der allgemeinen Umorientierung der Menschen und ihrer sozialen Praxis, scheint auch die Islamisierte Sprachregelung allmählich zu verschwinden.

 

Diese Säkularisierung der Problemstellung ist zurückzuführen auf die Erfahrungen der vor- und nachrevolutionären Generationen die jeweils 50% der Bevölkerung ausmachen; und zwar einer Bevölkerung, die sich seit der Revolution mit 62 Mio. verdoppelt hat. Über 50% der Bevölkerung ist unter 20 Jahre alt, ist also erst nach der Revolution geboren, kennt also nichts anderes als die Restriktionen der Islamischen Republik, die sie mit ihrer Sozialisationsart zu aktiven Träger einer allgemeinen Säkularisierung und Demokratisierung als Teilaspekte der Zivilisierung macht.

 

Bei der vorrevolutionären Generation durfte die Enttäuschung über die nachrevolutionäre Entwicklung entscheidend für eine grundlegende kritische Reflexion gewesen zu sein; sie führte zu einer nachholenden Transformation ihrer Selbsterfahrung als mündige und selbstbewußte Menschen.

 

Diese Menschen betrachten die Islamisierung der Revolution als Verrat an ihren revolutionären Idealen, die sie nicht so kampflos aufzugeben bereit sind. Dieser selbstkritisch geführte Kampf manifestiert sich in einer gegenwärtig rege geführten Diskussion über die Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft ist ihre sich aus der gegenwärtigen Erlebnislage heraus formulierte Utopie. Sie offenbart eine weitgehende Lockerung ihrer Autoritätsfixierung und damit einhergehende Umorientierung. Ihnen geht es nicht mehr darum, wer im post-islamistischen Iran regieren soll, als viel mehr wie regiert werden soll und vor allem wie die institutionalisierte Kontrolle der Regierenden durch die Regierten gewährleistet werden kann.

 

Bibliographie:

 

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Gholamasad, Dawud, Weltanschauliche und sozialpsychologische Aspekte der iranischen Kriegführung: Einige sozialpsychologische Aspekte des Martyriums der iranischen Kriegsfreiwilligen - eine Auswertung ihrer Testamente; in Orient, 30. Jg., Nr. 4, Hamburg, Dez. 1989, S. 557-569

 

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Kadivar, Mohsen: Die Staatsvorstellungen in schiitischer Rechtslehre (Nazarijehah-je Dolat dar feqh-e Schie), Teheran 1997 (Persisch)

 

Kadivar, Mohsen: Die Rechtsgelehrten Herrschaft(Hokumat-e Valaei), Teheran 1998 (Persisch)

 

Kadivar, Mohsen: „Das Heft der Vernunft“( Daftar-e Aghl), Teheran 1998 (Persich)

 

Kadivar, Mohsen: Preis der Freiheit (Baha-je Azadi) - Verteidigungsrede vor dem speziellen Tribunal der Geistlichkeit - Teheran 1999 

 

Rafipoor, Framarz, Modernization and Conflict, Teheran, 1998(Persisch)

 

Schabestari, Muhammad, M.: Hermeneutik, das Buch und die Tradition (Hermeneutik, Ketab va son´nat), Teheran 1998² (Persisch)

 

Schabestari, Muhammad, M: Der Glaube und Freiheit(Iman va Azadi), Teheran, 1999² (Persisch)

 

Sourush, Abdolkarim: Überlieferung der Unterwerfung und Verliebtsein (Hadis-e Bandegi va Delboregi), Teheran 1996

 

Sourush, Abdolkarim: Weisheit und Lebensführung (Hekmat und Maischat), Teheran (Bd.1)1993, (Bd.2) 1997

 

Sourush, Abdolkarim: Eingeweihtheit, Intellektualismus und Frömmigkeit (Razdani va Roschanfekri va Dindari), Teheran 1998

 

Sourush, Abdolkarim: Poltische Briefe (Siasat-nameh), Teheran 1999 (persisch)

 

Sourush, Abdolkarim und Kadivar, Mohsen: Eine Diskussion über religiöse Pluralismus (Monazereh dar bareh-e Pluralis-e Dini), Teheran 1999   

 

Zentralbank der Islamische Republik, Die nachrevolutionäre Wirtschaftsentwicklung Irans, Teheran, o. J.,

 

 

* Dieser Beitrag ist meinem Freund Oskar Negt zum 65. Geburtstag gewidmet.

 

[1] Der konservative Präsidentschaftskandidat, Nuri forderte in seinem Wahlkampf die Wähler zur „Verschmelzung in der Führung“ („Soob dar Rahabari“) auf und damit zur Errichtung eines „gerechten Islamischen Staates“ („Hokumat-e Adel-e Eslami“). Die Gerechtigkeit dieses Staates bestünde demnach in der Etablierung der absoluten Herrschaft eines gerechten Rechtsgelehrten an der Spitze des Staates.

[2] Die revolutionäre Umwälzung im Iran war Folge einer funktionalen Demokratisierung der Gesellschaft, der veränderten Machstrukturen im Sinne einer Verringerung der Machtdifferentiale zugunsten der Regierten. Sie wurde aber von den betroffenen Menschen nicht ralitätsangemessen erfahren und konnte damit auch nicht zu einer Institutionalisierung dieser veränderten Machtbalance drängen. Als ein Habitusproblem war die institutionelle Ent-Demokratisierung also möglich, weil die Transformation der sozialen Persönlichkeitsstruktur der involvierten Menschen der Transformation der Sozialstruktur hinterher hinkte.

[3] Der Chiliasmus bezieht sich auf die kollektive Aufbruchsbereitschaft der Menschen. Der schi´itische Chiliasmus ist ihre, in Iran dominante Form. Bei dem säkularisierten Berufsbürgertum nahm er, seit der russischen Revolution eine bolschewisierte Form an. Der Quietismus des Chiliasmus schlägt in allgemeiner Krisenstimmung um in einen chiliastischen Aktivismus, dessen eine Form der Khomeinismus war. (vergl. Gholamasad, 1985, S. 515ff.)

[4] Der Nativismus bezieht sich auf „die demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werten“. Dieses Bedürfnis nach Umkehrung der bestehenden Selbstwertbeziehungen manifestierte sich in dem vorrevolutionären Diskurs der „Verwestlichung“, „gharbzadehgie“. Eingeleitet wurde dieser Diskurs mit dem gleichnamigen Buch von Ale Ahmad. (vergl. Gholamasad, 1985, S. 583ff)

[5] Mit der betonten Zentralisierung der Verwaltung aus Angst vor zentrifugalen Tendenzen, wurden diese Neigung im Gegenteil noch verstärkt. Dies kommt nicht nur durch die blutige Unterdrückung der ethnischen Gruppen in der Anfangsphase der „Islamischen Republik“ zum Ausdruck, sondern auch in später unterdrückter Forderung mancher kleinerer Städte wie Qazvin, den Status von Gouvernements zu bekommen; diese Forderung nach regionaler Differenzierung werden erhoben, weil diese Regionen sich durch den gegenwärtigen regionalen Verteilungsmodus der Finanzmittel über willkürlich gebildete Verwaltungseinheiten, benachteiligt fühlen. In der Regel gehen manche Städten bei der regional internen Verteilung dieser Mitte leer aus, weil diese Distribution eher durch Lokalpatriotismus der regionalen Machthaber bestimmt wird als durch regionale entwicklungspolitische Rücksichtnahmen.

[6]Zivilisation im soziologischen Sinne teilt nicht die übliche Funktion des Begriffes als Ausdruck des Selbstbewußtsein der oxidentalen Gesellschaften. Um Zivilisation im soziologischen Sinne zu verstehen, muß man sich von der alltäglichen, mit heteronomen  Wertungen beladenen Konnotationen des Begriffes distanzieren. Als ein mehrere Generationen umfassender Prozeß, weist der Begriff auf eine strukturierte Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz spezifischen Richtung hin. Dieser Prozeß ist immer begleitet von Gegenschüben. Sie vollzieht sich als Ganzes ungeplant; aber sie vollzieht sich nicht ohne eine eigentümliche Ordnung. Als eine gerichtete aber reversible Veränderung des sozialen Habitus der Menschen zeigt Norbert Elias in seiner Untersuchung, "wie etwa von verschiedensten Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierter Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelungen des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird." (Elias, 1976, II, S. 313). De-Zivilisierung bezieht sich auf den sich einsetzenden Gegenschub, der zuweilen den Zivilisierungsprozeß des sozialen Habitus der Menschen dominieren kann.

[7] Zwar ist der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen einer individuellen Selbstregulierung im Sinne wandelbarer gesellschaftlicher Zivilisationsmuster eine soziale Universalie; aber wenn auch Fremdzwänge zur Entwicklung von individuellen Selbstzwängen unentbehrlich sind, so eignen sich durch aus nicht alle Arten von Fremdzwang dazu, die Entwicklung individueller Selbstzwangsinstanzen herbeizuführen und erst recht nicht dazu, sie im Maße zu fördern, also ohne das individuelle Vermögen zur Trieb- und Affektfreude zu beeinträchtigen. (Elias, N. ,1986, S. 383)

[8] Allein die mit Angst und in der, nicht vor Eingriffen der Moralhüter geschützten Privatsphäre der toleranteren Familien konnte die totale Verformung ihrer Persönlichkeit verhindert werden - mit der Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses Alptraums.

[9] Dies manifestiert sich z. B. in der Einkommensverteilung von 1991: An der Spitze der Verteilungspyramide verfügten 20% der Bevölkerung über 50% des Gesamteinkommens, während die unteren 40%  über 13,4 % verfügte. Mit dem außeralltäglichen sozialen Aufstieg und der Ersetzung des vorrevolutionären Establishments, verfügten 1989 die oberen 1% der Bevölkerung über 21,18% des Vermögens, während die unteren 40% über 2,97% und die mittlere 40% über 27,18% verfügten. Die oberen 20% verfügten über 74%. Dabei disponieren die oberen 10% über 63% des gesamten Vermögens im Iran. (Rafipoor, S.179)

Ein Problem gegenwärtiger sozialwissenschaftlicher Diskussion der Machtstruktur der Gesellschaften und der damit einhergehenden  Bestimmung der Gesellschaftsformationen besteht in der Reduktion der gesamten vielfältigen Macht- und Statusdifferentiale auf die Verteilung der ökonomischen Machtchancen. Die Vernachlässigung anderer Machtchancen und ihrer Verteilung wie z.B. unmittelbarer und symbolisch vermittelter affektiven Bindungen (z.B. an Symbole als  Orientierungs-, Kontroll- und Kommunikationsmittel), sowie des Organisationsgrades, der Mittel der physischen Gewalt oder der Zivilisationsdifferentiale u.a. führt in der Regel zur unangemessenen Diagnose der Sozio- und Psychogenese sozialer Konflikte und der entsprechenden Prognose der Verlaufsform ihrer Austragung. Worauf es mir hier ankommt, ist es aufzuzeigen, wie durch eine Außeralltägliche Monopolisierung der Gewalt- und  Orientierungsmittel, die Khomeinisten in der Lage versetzt wurden alle anderen Macht- und Statusquellen sukzessive zu monopolisieren. Dies bedeutet ein sukzessiver sozialer Abstieg der bisherigen Eigentümer und ihre soziale Überlagerung in einer mehrschichtigen Etablierten-Außenseiter-Beziehung. Aber die Monopolisierung der Orientierungsmittel und der Mittel der physischen Gewaltanwendung und -androhung wäre nicht möglich gewesen ohne die affektive Bindung der Massenindividuen an Aj. Khomeini. Diese affektive Bindung und die Vermassung der Gesellschaft war also die entscheidende Machtquelle, welche die Khomeinisten monopolisieren konnten und welche die revolutionären Machtdifferentiale entscheidend bestimmte. Hinzu kam der Vorsprung in ihrem Organisations- und Kohäsionsgrad. Mit diesen Machtmitteln ausgestattet, waren sie in der Lage, alle anderen Koalitionspartner sukzessive auszuschalten.

[10] Der im Arbeitsrecht verankerte Kündigungsschutz geht so weit, so daß kaum jemand wagt neue Beschäftige einzustellen. Es gibt sogar viele Unternehmer, die bereit wären ihren Betrieb sogar um sonst zu überlassen, weil es sich nicht loht ihn weiter zu führen; zudem sind sie nicht in der Lage, die für die Schließung des Betriebs notwendigen Abfindungssummen aufzubringen.

[11] Nach Angabe der „Zentralbank der Islamischen Republik“ sank das Nettosozialprodukt von 3.992 Mrd. Rials 1979 auf 2.568 Mrd. Rials 1980. Es stieg 1982 auf 3.040 Mrd. Rials (Zentralbank, o. J., S. 14ff). Selbst 1997 erreichte es mit 3881,8 Mrd. (auf der Basis der Preise von 1982) nicht einmal den vorrevolutionären Stand. (Iran Statistical Yearbook 1998, 814).

Die Nettokapitalbildung sank während der Revolution um 38%; innerhalb der ersten 4 nachrevolutionären Jahren sank sie weiterhin jährlich durchschnittlich um 9,6%. (Iranische Zentralbank,, , o. J., 14ff). Während dessen betrug das Bevölkerungswachstum durchschnittlich um 3,9% (Iran Statistik Yearbook, 1376, !998, S. 49)

[12] Vom 33 Mill. 1976 stieg sie auf über 60 Mill. 1996. Das prozentuale Wachstum betrug zwischen 1976 und 1986 um 3,9 % (Yearbook, 1998, S. 49ff)

[13] Trotz enormer Erdölpreissteigerungen vom $16 pro Barrel 1979 auf $ 34,20 im Jahre 1982 sank die Erdöleinnahmen auf $ 889 Mio.(1980) und $ 938 Mio.(1981). Die Erdölexport sank vom 5 Mio. Barrels/Tag 1977 auf 2,9 Mio. Barrels/Tag 1979; 1980 und 81 sank sie sogar auf 0,9 Mio. Barrel/Tag. (Zentralbank, S. 288)

[14] Dieses Faktum erklärt auch die Entstehung der Revolution u.a. als ein Nachhinkeffekt der sozialen Integration der Menschen, die durch die Modernisierungsprozesse von den traditionellen Integrationseinheiten wie Dörfer, Stämme, Verwandtschaftsbeziehungen, Stadtteile sowohl funktional als auch emotional entbunden wurden ohne nationalstaatlich und zivilgesellschaftlich angemessen integriert werden zu  können. Der Integrationsprozeß hinkte der sozialen Differenzierung hinterher. Mit der zunehmenden sozialen Differenzierung ging die Unterdrückung der zivilgesellschaftlichen Organisationsmöglichkieten als einer der herrschaftsstabilisierenden Maßnahmen einher. Sie hätten als Interessenvertretungsorgane der zunehmend differenzierten sozialen Gruppen und als organisierte Gegenmacht nicht nur die Regierung sondern auch sich gegenseitig  kontrolliert; sie hätten zudem als Ordnungsfaktoren gesamtgesellschaftlich stabilisierende Funktion gehabt. Mit anderen Worten, hinkte die Vergesellschaftung des Staates hinter der Verstaatlichung der Gesellschaft hinter her.

[15] Diese Information habe ich von mehreren Iraner erfahren, die während der 80er Jahre zu Besuch in der BRD waren. Von 1981 bis 1990 dürfte die grausamste Unterdrückungsphase innerhalb der Gefängnisse gewesen zu sein. Die Repressionen sollen in den Jahren 1981 und 1982 ihren Höhepunkt erreicht haben. (vergl. Baradarane Khosroschahi, S. 8ff) In dieser Periode wurden sogar die nach dem geltenden Recht zu einigen Jahren Gefängnis verurteilten Gefangenen als Racheakt gegen die oppositionellen Aktionen wahllos hingerichtet. Sie wurden so zugleich als Geisel behandelt, mit denen man die noch operierenden Oppositionellen zur Aufgabe ihrer Aktionen zu zwingen versuchte.

In der Regel behandelten die „revolutionären“ Gefängniswärter ihre Gefangenen als „Sünder“, die durch körperliche Züchtigung, „Tazir“ geläutert werden sollen. Unter dieser als „Züchtigung“ bezeichneten Folter sollten sie ihren „Ungehorsam gegen Gott“ bereuen. Nur als „Tawwab“, „Reueschwörende“ dürften sie aus dem Gefängnis entlassen werden. Von daher pries der berüchtigte Gefängnisdirektor von Evin, Asadollah Ladjewardi die Gefängnisse als „Rehabilitationszentren“ und „ideologische Schulen“, in denen die Gefangenen den Islam kennenlernen würden.

Eine der nachrevolutionären De-Zivilisierungstendenzen besteht gerade in der „Islamisierung der Rechtsprechung und -Vollzug.“; sie ging einher mit der Rechtfertigung und öffentlich ausgeführter Folter bzw. körperlicher Züchtigung der Gefangenen, die als „Tazier“ Islamisch legitimiert wurden. Die Folter war vor der Revolution dermaßen tabuisiert, daß das Schahregieme, raffiniertere Foltermethoden entwickeln mußte, um keine Spuren bei den Gefangenen zu hinterlassen. Öffentlich leugnete es jedoch jede Folterung innerhalb der iranischen Gefängnissen. Nach der Revolution wurde mit Auspeitschen, Hinrichtung und gelegentlichen Steinigen der „Verurteilten“ in der Öffentlichkeit die tabuisierte Gewaltanwendung gegen Menschen erneut ent-tabuisiert.

[16] Diese Veränderung drückte sich z.B. aus in Verschiebung der Balance zwischen dem Stellenwert von Geld und Religion zugunsten des ersteren: während 1986 immer noch die Religion für 81,6% der Befragten wichtiger als Geld war, sank ihr Stellenwert 1992 auf 28,3%. Wie die Untersuchungen von 1994 und 1996 zeigen.(Rafipoor, S. 166) setzte sich diese Tendenz verstärkt fort; sie scheint so weit gegangen zu sein, daß man inzwischen  witzelte, in Iran gebe es nur einen einzigen Ajatollah, Ajatollah Dollar. Die Balance zwischen materiellen und immateriellen Statussymbole, wie Frömmigkeit verschob sich im selben Zeitraum zugunsten der ersteren: während 1986 71,4% der Befragten Autos als Statussymbol gerne zur Schau stellten, stieg diese Prozentzahl für 1992 auf 85,3% (Rafipoor, S. 200). Außerdem wurde in demselben Zeitraum Bestechlichkeit und Bestechung zunehmend weniger verpönt: während 1986 immer noch 84% der Befragten die Bestechung  negativ bewerteten, sank ihre Zahl für 1992 auf 40,7%(Rafipoor, 288).

[17] Letzte offizielle Untersuchungen hoben hervor, daß „bad-hejabi(die schlechte Verschleierung), unter den Schülerinnen und Studentinnen fortschreitend zunimmt. Die Sorge der Verantwortlichen über die Jugendlichen wird dadurch dokumentiert, daß über 83% der Jungen Leute ihre Freizeit vor dem Fernsehen verbringen; aber nur 5% von ihnen schaut sich religiöse Programme an. Von 58% der jugendlichen Buchleser sind bloß 6% in religiöse Literatur interessiert(zitiert bei Bayat, S. 50)

[18] Der Wunsch nach Erhöhung der Selbstachtung und Selbstsicherheit ist genauso eine anthropologische Konstante wie der Selbsterhaltungstrieb In der Regel wird die Selbsterhaltung auf die Physische Selbsterhaltung reduziert. Damit kann man aber nicht erklären, warum Menschen bereit sind für ihre soziale Selbsterhaltung bzw. Selbsterhöhung sogar ihre physische Existenz bewußt zu opfern. Berücksichtigt man aber, daß die Selbsterhaltung der Menschen als Einzelne und als Gruppen immer ein affektiv besetztes Selbstbild voraussetzt, wird der Stellenwert des „Narzißmus“ als einer anthropologischen Konstante klar. Als Selbstliebe der Menschen als Einzelne und als Gruppen ist sie eine positive Form der Selbstbewertung und ein Grundelement der menschlichen Existenz. „Die Kraft der lebenssteigernden Funktion des Selbstwertgefühls zeigt sich unter anderem in der Universalität der Neigung, den Wert der eigenen Gruppe auf Kosten des Wertes anderer Gruppen zu erhöhen“. ( Elias, N. Etablierten und Außenseiter, S. 312)

[19] Dies bedeutet nicht eine freie Presselandschaft. Selbst die systemimmanent arbeitende kritische Presse ist einer permanenten Repression ausgesetzt. In diesem Jahr allein wurden 6 Zeitungen verboten, deren Redaktionen zumeist ihre Arbeit gleich unter einem andreren Namen wieder aufnahen.

[20] Als  promovierter Schüler Poppers an der London University, ist Sourush genauso in moderner Wissenschaft und Philosophie versiert wie in Islam. In beiden ist er viel bewanderter als Ali Schariati (1933-77), der wichtigste islamische Ideologe vor der Revolution. Er ist außerdem um eine Revolutionserfahrung reicher als er.

[21] Inzwischen darf er auch selber nicht mehr lehren. Zudem werden seine außeruniversitären Vorträge in der Regel von der „Hizbollah“ gestört.

[22] Kadivar ist inzwischen von dem „Sondergericht für die Geistlichkeit“ zu mehrjärigem Gefängnis verurteilt und verbüßt seine Strafe für  die Verteidigung der Freiheit. Seine Verteidigungsrede  wurde veröffentlich unter dem Titel „ Preis der Freiheit“.

[23] Vergl. z.B. die Geschichte von Sinat Darjaji; in: Zanan, Jg. 8, Nr. 55, Teheran, August 1999 (Mordad 1378)

[24] Nach dem geltenden Recht der Islamischen Republik sind nur gläubige Männer volle Rechtssubjekte mit vollem Rechtsanspruch. Sie sind nicht nur im Erbrecht benachteiligt sonder auch in ihrem passiven Wahlrecht. Ihr Recht auf Besetzung der Koordinations- und Kontrollfunktionen in der Staatsgesellschaft ist erheblich eingeschränkt. Selbst ihre Zeugenaussage vor einem Gericht zählt nur halb so viel wie die eines Mannes.

[25] Vergl. das Interview mit Nafisseh Ghiasbakhsch, einer der weiblichen Abgeordneten in: Zanan, Jg. 8, Nr. 78, S.10-11.