Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Zur Entwicklungssoziologie als Theorie sozialer Prozesse

 

(Thesen zur Herbsttagung der Sektion "Entwicklungssoziologie und Sozialantropologie" in der DGS in Springe/Hannover 19.-21.11.93)

 

I. Als Grund der gegenwärtigen Krise der Entwicklungssoziologie werden nicht nur die Differenzierung der "Dritten Welt" und damit die Unangemessenheit einer diese, allgemein zu  erfassenden, Theorie eingeführt[1], sondern auch der Wegfall der "zweiten Welt" als "Veränderung der existentiellen Bedingung ihres selbstgewählten objektiven Gegenstandsbereiches".

 

Dabei wird unberücksichtigt gelassen, warum solch eine Veränderung des Gegenwarts der Gesellschaftsstrukturen zu einer Krise eines Faches führt, das von seinem Anspruch her sich mit der Entwicklung, mit der permanenten Wandlung der Gesellschafts- und Persönlichkeitsentwicklung der Menschen bzw. ihrer Teilaspekte beschäftigt. 

 

Diese Wandlungsorozesse können nur dann zur Krise der Soziologie im allgemeinen und der "Entwicklungssoziologie" im besonderen  führen, solange sie statisch orientiert und Gegewartreduziert ist und dementsprechend über einen Entwicklungsbegriff und eine Entwicklungstheorie verfügt, die den Beharrungstendenzen den Vorrang geben: In der vorherrschenden Soziologie dienen  gesellschaftliche Gegebenheiten , die gedanklich so verarbeitet werden, als ob sie sich normalerweise im Zustand der Ruhe befinden, als Bezugsrahmen für alle Wandlungen. So stellt man sich etwa eine Gesellschaft als ein "soziales System" und ein "soziales System " als ein System in Ruhezustand vor.

 

II. Entscheidend für den Umschwungdes soziologischen Denkens von der Beschäftigung mit der langfristigen Dynamik der Gesellschaften zur Beschäftigung mit den Problemen relativ kurzfristiger Zustände und in erster Linie mit Zusatndsproblemen der engeren Gegenwart war dabei nicht so sehr die Kritik der teleologischen Orientierung und der Fortschrittsgläubigkeit der klassischen Entwicklungsmodelle, sondern vielmehr die Durchsetzung der soziologischen Theorien des 20 Jhs. mit sozialpolitischen Idealen, die bestimmte bestehende Gesellschaften als höchsten Wert erscheinen ließen. Mit diesen Theorien verwarf man auch ihr Bemühen um Erschließung des gesellschaftlichen Wandels als eines strukturierten Wandels.

 

III. Dieser Umschlag seinerseits weist hinter sich auf einen spezifischen Figurationswandel zurück, den die innerstaatlichen und die zwischenstaatlichen Beziehungen der älteren, der entwickelteren Industriestaaten als Ganzes im 19. und 20. Jh durchlaufen: er ist symptomatisch für den Umschlag einer  Aufstiegsideologie der ehemals aufsteigenden sozialen und nationalen Gruppen zu einer Erhaltungsideologie der zur  Etablierten avancierten sozialen und nationalen Gruppen der Gegenwart.

 

IV. Aus diesem Zusammenhang heraus entsteht der herkömmliche Gebrauch des Begriffs "Entwicklung", der erkennen läßt, daß er genauso wie der von "Individuum" und "Gesellschaft" , mit denen er untrennbar verbunden ist,  noch in hohem Maße von Wunsch- und Furchtbildern der Menschen geprägt ist. Als Funktion emotionaler Bedürfnisse der etablierten sozialen und nationalen Gruppen erschweren sie eine angemessenere Handhabung der entsprechenden Prozesse, auf die sie sich eigentlich beziehen . Als weniger realitäskogruente Begriffe der sich permanent wandelnden Beziehungen interdependenten Menschen  und der Modellierung, die der Einzelne innerhalb ihrer erfährt sind sie daher weniger brauchbar für die Verwendung in der sozialen Praxis.

 

V. Die Überwindung der gegenwärtigen Krise der "Entwicklungssoziologie" ist also nur dann möglich, wenn die Entwicklungssoziologen über die gesellschafts-, entwicklungs- und wissenschaftstheoretischen Implikationen ihrer eigenen empirischen Untersuchungen als theoretische Leitgedanken ihrer Entwicklungssoziologie  reflektierten würden. Eine spezifische Akt der Distanzierung ist die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Reflexion und eines möglichen Paradigmenwechsels zur Entwicklungssoziologie als einer Theorie sozialer Prozesse: Je weniger man also darüber reflektiert, wieweit man bei theoretischen und empirischen Untersuchungen sozialer Probleme das, was den eigenen Wünschen und Hoffnungen entspricht, bejaht und dementsprechend den Blick von dem  abwendet, was einem  zuwiderläuft, desto weniger ist man zu autonomerer Wertung der Gesellschaftsentwicklung imstande. Bei einer autonomer entwicklungssoziologischen Wertung geht es  in erster Linie darum, herauszufinden, wie die einzelnen gesellschaftlichen Vorgänge miteinander zusammenhängen, wie diese Abläufe zu erklären sind, welche Hilfe soziologische Theorien bei der Orientierung, bei der Erklärung und nicht zuletzt auch bei der praktischen Lösung von Gesellschaftsproblemen zu geben vermögen.

 

VI. Selbst aus Praktischen Gründen wäre ein Paradigmenwechsel zu einer angemesseneren Entwicklungssoziologie als Theorie sozialer Prozesse erforderlich, die das Problem der Veränderung der menschlichen Gesellschaft, d.h.die immanente Ordnung der Abfolge gesellschaftlicher Etappen, erneut ins Zentrum des Forschungsprogramms stellt und so, im Unterschied zum Tendenz der Zustandsreduktion,  die strukturierte Abfolge eines kontinuierlichen Wandels als Bezugsrahmen für die Erforschung von "Zuständen", die sich auf einen bestimmten Zeitpunkt fixieren lassen, bedient.

 

VII. .Als eine Art Dynamisierung der menschenwissenschaftlichen Fragestellung stellt die, - in der soziologischen Tradition von Comte und Marx und durch die Überwindung ihrer Grenzen zunächst von N. Elias entworfene - Theorie sozialer Prozesse das Problem der weiteren, der zukünftigen gesellschaftlichen Veränderungen in Vordergrund des Interesses, während sie die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse  nur als  ein Moment in einem langfristigen Prozeß begreift, der aus der Vergangenheit durch die Gegenwart über sie hinaus in die Zukunft führt. Sie stellt also das Problem dieses langfristigen Prozesses erneut im Mittelpunkt der Gedankenarbeit eines Entwicklungssoziologen. Denn: Mann kann kaum hoffen, die soziologische Probleme zeitgenössischer Gesellschaften in zureichender Weise diagnostizieren und erklären zu können, wenn man kein entwicklungstheoretisches Rahmenwerk besitzt, das es möglich macht, die gegenwärtigen Gesellschaftsformen aus anderen hervorgehen zu sehen und zu bestimmen, wie und warum sie aus anderen in dieser spezifischen Weise hervorging. So ist es z.B. kaum möglich, eine klare Vorstellung von den unterscheidenden Struktureigentümlichkeiten  eines Nationalstaates(als Untersuchung von einmaligen und einzigartigen Aspekte der Geschichte von Menschengesellschaften) zu gewinnenen, solange man

 

a.) kein theoretisches Modell der Entwicklung dynastischer Staaten zu Nationalstaaten ( als Theorie eines bestimmten Figurationswandels  )besitzt und weiterhin über

 

b.) kein theoretisches Modell des langfristigen Staatsbildungsprozesses überhaupt (als Teilaspek der Theorie sozialer Prozesse )verfügt.

 

In diesem Sinne wäre die Aufgabe der Entwicklungssoziologie (als eine Theorie längerer Reichweite) die Diagnoseund Erklärung der langfristigen und ungeplanten, aber gleichwohl strukturierten und gerichteten Trends in der Entwicklung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen , welche die Infrastruktur dessen bilden, was man gemeinhin "Geschichte " nennt.

 

VII. Zur Aufgabe der Entwicklungssoziologie gehören demnach:

 

            1.- Klarheit über Eigentümlichkeiten zu verschaffen, die alle möglichen menschlichen Gesellschaften miteinanderer gemeinsam haben. Der Begriff des sozialen Prozesses u.a. gehören zu den Kategorie mit dieser Funktion.

 

            2. der Entwurf von theoretischen Modellen der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich besser als viele klassische Theorien als theoretischer Leitfaden für empirische Untersuchungen und für die Bewältigung praktischer Aufgaben eignen.

 

            3. Bestimmung und Erklärung der Art, wie die jeweils späteren sozialen Formationen aus den früheren hervorgehen, weil die Abfolge des Wandels nicht "Ordnungslos", nicht "chaotisch" ist.

 

            4. soziologische Untersuchung einer gesellschaftlichen Formation in einer ganz bestimmten Epoche als Realtyp, d.h. die Untersuchung der Beschaffenheit einer Figuration interdependenter Menschen, die bestimmte Verhaltens- und Erlebensmuster nicht nur möglich sondern anscheinend nötig machen. Eine solche soziologische Untersuchung wäre bedeutungslos, wenn man nicht im Auge behielte,

 

            4.1. daß diese gesellschaftliche Formationen während einer langen Phase der Entwicklung vieler Gesellschaften zu finden sind, und

 

            4.2. daß die Aufgabe der soziologischen Untersuchung einer einzelnen Formation die der Entwicklung von Modellen mit einschließt, die Vergleiche zwischen verschiedenen  Formationen solchen Typs ermöglichen.

 

            Damit hebt die Theorie sozialer Prozesse, als ein empirisch-theoretischer Ansatz,  die wissenschaftstheoretisch künstlich geschaffene Polarität von  Empirie und Theorie auf, wie sie die "Idealtypen" Max Webers´ durch Realtypen ersetzt: Man kann sich schlechterdings keine gesellschaftliche Formation, keinen Zusammenhang von Menschen vorstellen, dessen sachgemäße und sachkundige Erforschung nicht mehr oder weniger als irgend eine andere zur Ausweitung und zur Vertiefung unserer Einsicht über die Artbeitragen könnte, in der Menschen in allen ihren Lagen, im Denken wie im Fühlen, im Hassen wie im Lieben, im Tun wie im Nichtstun, miteinander zusammenhängen

 

VIII. Die Notwendigkeit Theorien unterschiedlichen Reichweite ergeben sich aus einem Prozeß zunehmender Komplexität, für deren Erfassung man Synthesen unterschiedlichen Niveaus bedarf, um dem Unterschied und der Beziehung zwischen biologischer Evolution, gesellschaftlicher Entwicklung und "Geschichte" gerecht werden zu können. Diese unterschiedlichen Integrationsstufen unterscheiden sich nicht nur durch ihre Komplexität, sondern auch durch ihr unterschiedliches Wanandlungstepo.

 

1. Der unterschiedliche Grad der Komplexität der humanen Integrationsstufe von der der subhumanen verbietet die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methoden der Analyse auf die Untersuchung sozialer Prozesse; sie bedarf der Synthese als einer angemessenen Erfassungsmethode.

 

2. Die Geschehenszusammenhänge, auf die man mit Begriffen wie biologische Evolution, soziale Entwicklung und Geschichte hinweist, bilden drei verschiedene aber untrennbare Schichten eines die ganze Menschheit umfassenden Prozesses. Hier hat man also das Bild der Menschheit als eines Flusses mit drei Strömen, deren Wandlungstempi verschieden sind. Für sich betrachte sind die Phänomene jeder dieser Schichten einzigartig und unwiederholbar. Aber im Zusammenhang mit dem verschiedenen Wandlungstempi stellen sich die Phänomene auf der Ebene mit langsamerem Wandlungstempo leicht als unveränderbar, als Wiederholung des ewig Gleichen dar.

 

Im Sinne der individuellen Zeitrechnung, im Sinne des Tempos, in dem sich einzelne Menschen aus Kindern in alte Männer und Frauen verwandeln, vollziehen sich langfristige gesellschaftliche Entwicklungen immer noch recht langsam. Weil man in der Regel für die Erfassung des "sozialen Wandels"  die Lebensspanne und das Wandlungstempo des einzelnen Menschen als selbstverständlichen Bezugsrahmen ansetzt, wird man  langfristiger gesellschaftlichen Entwicklungen oft genug nicht als strukturierten Entwicklungen gesellschaftlicher Figurationen gewahr, sondern bloß als Figurationen, die stillstehen, als "soziale Systeme".

 

Die Unwandelbarkeit wird so als der gesellschaftliche Normalzustand behandelt. Auf sie beziehen sich nun Grundbegriffe der Soziologie wie "soziale Struktur" und "soziale Funktion". Und die Probleme des gesellschaftlichen Wandels erscheinen nun als zusätzliche Probleme, die als  " Sozialer Wandel" untersucht werden. Dem "sozialen Wandel " selbst schreibt man aber keine immanente Ordnung zu.

 

IX.  Bei der  Entwicklung als ein gerichteter Strukturwandel der Gesellschaft und der sie bildenden Menschen handelt es sich nicht um einen unspezifischen "sozialen Wandel" im Sinn der Theorien des 20. Jhs. Theorien sozialen Wandels unterscheiden kaum je in unzweideutiger Weise zwischen den verschieden Typen des sozialen Wandels: der Begriff des sozialen Wandels ohne klare Unterscheidung zwischen Wandlungen, die sich auf die Struktur einer Gesellschaft, und Wandlungen, die sich nicht auf die Wandlungen einer Gesellschaft beziehen, und wiederum zwischen Strukturwandlungen ohne eine bestimmte Richtung und anderen, die sich über viele Generationen hin in Richtung einer bestimmten, etwa in der Richtung größerer Komplexität oder in der geringerer Komplexität, vollzieht, ist ein sehr unzureichendes Werkzeug der soziologischen Untersuchung.

 

X. Soziale Prozesse sind polar, gerichtet, reversiebel und unterschiedlich in ihrem Tempi. In diesem Zusammenhang entstehen Entwicklungsprobleme, die zu erklären und zu verstehen die Aufgabe der Entwicklungssoziologie ist:

 

Soziale Prozesse sind Wandlungen in einer von zwei entgegengesetzten Richtungen. Eine von ihnen hat gewöhnlich den Charakter eines Aufstiegs, die andere den eines Abstiegs; Schübe in der einen Richtung können Schübe in der entgegengesetzten Richtung platz machen; beide können simultan auftretten; einer von ihnen kann dominant werden oder dem anderen die Wage halten.

 

Zur Bestimmung und Untersuchung von sozialen Prozessen braucht man daher Begriffspaare, soziale Richtungsbegriffe und Balancebegriffe. Die richtungsbeständige soziale Prozesse lassen oft besonders deutlich den Durchbruch von einer Prozeßstufe zu einer anderen mit entschiedener Machtverlagerung erkennen. Paare gegensätzlicher Begriffe haben daher die Funktion der Bestimmung der Richtung Sozialer Prozess, von strukturellen Gegensätzen und Spannungen innerhalb einer Prozeßbewegung zu jeder gegebenen Zeit und von Phasen oder Stufen eines sozialen Prozesses.

 

Der zwangsartige und polare Charakter sozialer Prozesse ist Funktion der Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe der über die Mitteln der Befriedigung von sozialen Bedürfnissen anderer Gruppen, also über die Machtmitteln verfügenden sozialen Gruppen : die Produktions- und Konsumtionsmittel; die Organisationsmittel; die Mitteln der physischen Gewal; und die Orientierungsmittel.

 

XI. Zur Struktureigentümlichket der soziologischen Theorie sozialer Prozesse im allgemeinen und der sozialen Entwicklung im Besonderen gehört, daß sich bei der langfristigen Dynamik von Gesellschaften in einer bestimmten Richtung, auf die sich der Begriff der sozialen Entwicklung bezieht, nicht um  eine " Evolution " im Sinn des 19. Jhs., im Sinne eines automatischen Fortschrittes handelt. Soziale Prozesse sind nicht nur reversibl; sie sind auch meßbar. Mit der zu den Universalien der Gesellschaft der Menschen gehörenden Triade der Grundkontrollen, als Meßbegriffe bzw. -kriterien, läßt sich verschiedene Stufen langfristiger gesellschaftlichen Entwicklungsreihe bestimmen  und zwar nach dem Ausmaß

1. ihrer Kontrollchancen über außermenschliche Geschehenszusammenhänge, also über das, was wir etwas unscharf als " Naturereignisse " bezeichnen: ( die technolosche Entwicklung )

 

2. ihrer Kontrollchancen über zwischenmenschliche Zusammenhänge, also über das, was wir gewöhnlich als "gesellschaftliche Zusammenhänge" bezeichnen: (Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation als Zivillingerscheinung der zunehmenden Differenzierung und der zunehmenden Integrierung von Gesellschaftvebänden ist ein Beispiel für die Ausdehnung dieses Kontrolltyps) - über "zwischenstaaliche" und "innerstaatliche" Beziehungen

 

3. der Kontrolle jedes einzelnen ihrer Angehörigen über sich selbst als ein Individuum, das, wie abhängig es immer auch von anderen sein mag, von Kindheit an lernt, sich mehr oder weniger selbst zu steuern:  ( z.B. Zivilisationsprozeß)

 

Damit betrachtet diese Entwicklungssoziologie "Natur", "Gesellschaft" und "Selbst als Ströme ungeplanter und zielloser, wenngleich strukturierte Prozesse auf verschiedenen interdependente Ebenen.

 

XII. Weil diese drei Typen der Kontrolle in ihrer Entwicklung und in ihrem jeweiligen Funktionieren bei einem gegebenen Stand der Entwicklung interdependent sind, schließt die Theorie sozialer Prozesse jede getrennte Betrachtungsweise der verschidenen Integrationsebenen und  der gesellschaftlichen Fuktionsbereiche aus, deren "Wechselwirkung" in der Regel im nachhinein berücksichtigt wird. Gerade die "Ungleichzeitigkeit" der Entwicklung bzw das Nachhinken bestimmter Prozesse mit unterschiedlichen Tempi oder gleichzeitiger Gegegentendenzen, schaffen jene Nachikeffekte, die Entwicklungssoziologie zu erklären und zu verstehen beabsichtigt.

 

XII. Die Rezeption eines solchen Ansatzes wird aber durch das Selbstverständnis der Zeitgenössischen Soziologie als einer primär gegenwartsbezogenen, auf die Erforschung kurzfristiger Veränderungen und Zusammenhänge innerhalb gegebener Gesellschaftssysteme gerichteten Disziplin behindert.

 

Dieses Selbstverständnis ist u.a. eine Folge der akademischen Trennung von Geschichte und Soziologie, aber auch der wachsenden Praxisnähe der Soziologie, also ihrer Einbeziehung in Bürokratisch kontrollierte Planunungsprojekte.

 

Dabei wird der langfristige, ungeplante Entwicklungsprozeß verkannt, der erst die Bedingungen für die Planungspraxis unserer Tage geschaffen hat und in den jedegeplante soziale Entwicklung ständig verflochten bleibt.

 

Zusammenfassung: Zur Voraussetzung einer angemesseneren Entwicklungs- soziologie im engeren Sinne gehören: 

 

1. ein angemesseneres Verständnis der Struktur der Prozesse der weniger entwickelten Gesellschaften, die nur dann möglich ist, wenn man die Menschheit als realer Bezugsrahmen der Untersuchung setzt

 

2. die Emanzipation von dem Primat der gesellschaftlichen Ideale und Glaubensdoktrinen in dem theoretischen Rahmenwerk der soziologischen Forschung.

 

3. die Behandlung der zwar unterscheidbaren gesellschaftlichen Integrationsebenen und  Funktionsbereiche, wie ökonomische, politische, kulturelle, religiöse usw. als interdependente und daher  relativ autonome Aspekte menschlicher Gesellschaften sowi die Überwindung der deterministischen und volluntaristischen Betrachtungsweise der Entwicklung .

 

4. Dies ist nur dann möglich, wenn man im Stande ist die Vorstellung von "Gesellschaft" als etwas Außerindividuelles und vom "Individuum" als etwas Außergesellschaftliches durch die Vorstellung der Figuration von interdependenten Menschen zu überwinden, deren Dynamik zu untersuchen  die Aufgabe einer genetischen Wissenschaft ist, welche die dominante "Gesetzeswissenschaft" zu ersetzen vermag.                     

 

  Hannover, den 17.11.93

 

 

 


[1] Die Theoriekrise hat viele Ursachen, von denen eine Reihe im Wissenschaftsprozeß selbst und in den Besonderheiten der Theorieproduktion zu suchen ist, andere in Veränderungen, die in der Dritten Welt in den letzten Jahrzehnten stattgefunden habe und die auf die Theorien zurückgewirkt haben, und in neuen Entwicklungsproblemen, die mit den bisherigen Ansätzen nicht mehr angemessen erfaßbar sind. ( Andreas Boeckh, Entwicklungstheorien :Ein Rückschau;in :Dieter Nohlen, Franz Nuscheler (Hg.), Handbuch der Dritten Welt1, Bonn 1992, S.110, hevorgehoben von mir- D.G.)