Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

2

Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Selbst- und Weltbild der Islamisten

 

Inhalt

Vorwort VI

1. Zur „Selbstverständlichkeit“ unterschiedlicher Selbst- und Weltbilder der individualisierten und der islamisch geprägten Gesellschaften als eine wesentliche Quelle von Konflikten  1

2. Zur Kritik der dominanten Muster der Diagnose der Selbstmordattentate  5

3.     „Martyrium“ als ein selbstwertdienliches Verhaltensmuster von islamisch geprägten Menschen, das ihnen ihre unentrinnbare Lage nahe legt 8

4. Zu Kollektivvorstellungen der islamisch geprägten Menschen über Tod und Martyrium und ihrer Kultivierung durch Gebete, Anrufungen, Amulette, Pilger- und Wallfahrten sowie Trauer-Ritualen und Passionsspielen als sozialer Habitus der Selbstmordattentäter 11

4.1.   Tod als selbstwertdienliche Strategie der Gläubigen und Mittel der sozialen Kontrolle in den islamisch geprägten Gesellschaften  14

4.2.   Martyrium als Ethos und selbstwertrelevantes Mittel der Mobilisierung der Bereitschaft zur Verteidigung der Wir-Einheit der Gläubigen als „Gotteskrieger“  23

5.     Überall ist Kerbala: Der nach Kerbala führende Weg geht über die Minenfelder 35

5.1. Re-Symbolisierung von Kerbala nach Husseins Niederlage zum „Sieg des Blutes über den Säbel“  36

5.2. Zur Tradierung und Habitualisierung des Kerbala-Traumas als ein „somatischer Marker“ – Ein Exkurs zu „somatischen Markern“  38

5.3. Zur Ritualisierung der sozialen Vererbung der mystifizierten Erfahrungen von Kerbala als Bezugsrahmen der Selbsterfahrung der Gläubigen  40

6. Zur eskalierenden Mobilisierung der kollektiven Phantasievorstellungen als Funktion eines „Doppelbinderprozesses“  44

6.1. Martyrium als Reaktionsmuster in ausweglosen Situationen, in die islamisch geprägte Menschen geraten  45

6.2. Martyrium als Ohnmacht-, Scham- und Verzweiflungsreaktion gegen die seblbstwertbedrohliche Gefahr 48

6.3. Zu strukturellen Ähnlichkeiten einer „Selbstaufopferungs-Mentalität“ der islamisch geprägten Menschen jenseits ihrer Gestalt-Unterschiede als eine der Schichten ihres sozialen Habitus 50

 


Vorwort

 

 

Kennzeichnend für gegenwärtige Diagnosen bezüglich der (Selbst)Tötungs­bereitschaft islamistischer Menschen ist eine teilobjektivierende Sicht auf den Geschehenszusammenhang, so dass sie samt den aus ihnen resultierenden Lösungs­strategien Sequenzen der blinden Dynamik darstellen, die sie zu überwinden wünschen. An diesen, die Selbstmordattentäter mitunter als Psycho­pathologen oder Marionetten islamistischer Führer darstellenden Erklärungs­versuchen vorbei werden in diesem Aufsatz die als „Martyrium“ begriffenen „Selbstmordattentate“ als ein selbstwertdienliches Verhaltensmuster islamisch geprägter Menschen dargelegt, das ihnen ihre unentrinnbare Lage nahe legt. Das Augenmerk wird sowohl auf die in dieser Lage aktivierten Verhaltens- und Empfindens­muster und deren Genese als auch auf die jeweilige Figurations­dynamik und deren Genese, als interdependente Aspekte, gerichtet. Es wird aufgezeigt, dass die aus individualisierterer Perspektive wahrgenommene Anders­artigkeit der Betroffenen ihre Destruktivität und Selbstdestruktivität nicht erklärt. Vielmehr bedarf es einer Gesamtobjektivierung, in der die ver­schiedenen Perspektiven selbst als selbstwertdienliche und selbstwert­be­drohliche Aspekte der Selbstwertbeziehungen der involvierten Menschen betrachtet werden, die selbst ihre gewordenen konstituierenden Momente sind. Ein Entrinnen aus dieser gewachsenen Beziehungsfalle bedarf der Anerkennung dieser Beziehungen und ihrer selbstwertrelevanten Dynamik, die kraft der jeweiligen Machtstrukturen den blutigen Konflikt am Gang halten.

 

Ich möchte an dieser Stelle Diplom-Sozialwissenschaftlerin Schahrsad Amiri, Michael Fischer M.A. und Sebastian Wessels danken für ihre kritischen An­merkungen, die ich z. T. bei der Über- und Ausarbeitung der folgenden Über­legungen berücksichtigte.


1.     Zur „Selbstverständlichkeit“ unterschiedlicher Selbst- und Weltbilder der individualisierten und der islamisch geprägten Gesellschaften als eine wesentliche Quelle von Konflikten

 

O Herr, mache die Welt in meinen Augen verachtenswert und entferne die (Vorstellung von) materiellen Genüssen von mir, die meine Nähe zu Dir verhindern.[1]

 

 In der Regel werden die „Selbstmordattentate“ gegenwartsreduziert und von der Sie-Perspektive schlicht als terroristisch erlebt und untersucht. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen scheinen dann immer mehr Sicherheits-Technik und Sicherheitspolitik zu deren Eindämmung nahe zu legen. Auf der Grundlage dieses als bedrohlich empfundenen Furchtbildes der „Selbstmordattentäter“ stehen daher bei der Untersuchung derselben allenfalls die motivierenden Aspekte ihrer mörderischen destruktiven Aktionen im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Kaum berücksichtigt werden ihre Ich- und Wir-Perspektive, ihre selbstmörderischen Antriebe. Als Erklärung ihrer Handlungen dienen folglich „Fanatismus“[2], „Gehirnwäsche“ und die ihnen möglicherweise nach dem Tod in Aussicht gestellten materiellen Zuwendungen für ihre Familienangehörigen. Unberücksichtigt bleibt in der Regel ihr Selbst- und Weltbild als soziogener Aspekt ihres sozialen Habitus und damit als Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst- oder fremdgesteuerten selbstmörderischen Handlungen. Dabei sind sie doch gerade als todesmutige Selbstmörder so gefürchtet. Ihre selbst­mörderischen Aktionen sind auch immer wieder Taten einzelner Menschen, die den Tod dem Leben vorziehen, selbst wenn sie ihn als „Martyrium“ im Kampf gegen die „Ungläubigen“, die „Feinde des Islam“ oder  die „Invasoren“ begreifen, das zu „Gottes Zufriedenheit“ führen und daher durch die Gesell­schaft der Heiligen im Paradies belohnt werden wird.

 

Gerade diese eigenen Motive der Täter sind jedoch für die sozio- und psychogenetische Untersuchung der Selbstmordtypen entscheidend, die man aber nicht willkürlich mit den weitgehend individualisierten Amokläufern in Europa und den USA gleichsetzen darf, wie es in der Regel geschieht.[3] Wird in solcher Herangehensweise die eigene Perspektive der Selbstmordattentäter doch noch einbezogen, erfolgt es nämlich auf Grundlage der selbstverständlich gewordenen „Homo–clausus-Selbsterfahrung“ der sich bedroht fühlenden Menschen, die den Selbstmordattentätern jedoch fremd sein dürfte. Die Kritik dieser individualisierten Selbsterfahrung jedoch soll hier einen möglichen Zu­gang zur Erfahrungswelt der Selbstmordattentäter erleichtern. Denn schließlich reihen sich in Wirklichkeit die Handlungen, mit denen sich unterschiedlich geprägte Menschen von ihrem Leben trennen, in verschiedene Gruppen, deren „moralische“ und „soziale“ Bedeutung für sie durchaus nicht jeweils gleich ist.[4] Doch die gegenwärtigen Untersuchungen vernachlässigen diese gruppen­spezifischen, selbstmörderischen Handlungsorientierungen, die jeweils „die übersteigerte oder irregeleitete Form einer Tugend“[5] sind, so dass bei der Diagnose der „Selbstmordattentate“ zwei diametral entgegengesetzte, polare Positionen dominieren, die mit den Gruppenprozessen zugleich ihre wesentlich­en soziogenen und psychogenen Aspekte ausblenden, obwohl selbst in heutigen Industriegesellschaften das Schicksal von Individuen immer noch weitgehend durch ihre eigene und die Identifizierung anderer, von der Beschaffenheit und Lage einer ihrer Gruppen abhängen kann.

 

Zu diesen Gruppenprozessen gehört jene Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen, die sich aus der Verflechtung unterschiedlicher, selbstverständlich gewordener, Verhalten und Empfinden steuernder Selbst- und Weltbilder inter­de­pendenter Menschen als Einzelne und Gruppen ergibt. Will man daher begreifen, was in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation vor sich geht, ist es unabdingbar zu verstehen, welchen Sinn die Beteiligten ihr beimessen, welches ihre Motive und Intentionen sind und wie sie die moralische Bedeutung dessen, was sie selbst und andere tun, beurteilen. Dies wäre aber unmöglich ohne die Untersuchung ihrer Definitionen der normativen und kognitiven Wirklichkeit, die nahe legen, was wirklich sein soll bzw. was die Wirklichkeit ist. Diese gesellschaftlichen Definitionen und Akzentuierungen der Gesamt­wirklichkeit des menschlichen Lebens und diese Wirklichkeits­defin­it­ionen bilden den Gewissheitshorizont aller gesellschaftlichen Situationen für die Menschen, die diese Gesellschaften miteinander bilden. So wie jede gesell­schaft­liche Situation von der Definition abhängt, die ihr die Beteiligten geben, so werden auch die Gesellschaften durch jene Wirklichkeitsdefinitionen be­gründet, die über Generationen hinweg tradiert  werden und in ihnen vor­herrschen. Als Erfahrungswelt der Menschen sind also diese Wirklichkeiten gesellschaftlich definiert, während ihre Gesellschaften kraft dieser sozial vererbten Definitionen auf entsprechende Weise bestehen. So gesehen sind Gesellschaften der Menschen sozial vererbte „Sinngemeinschaften“ von Menschen, deren Ausgerichtetheit und Bindung u.a. auf der Integration als Staaten, auf Gemeinsamkeiten der Identifizierung, der Ich- und Wir-Ideale, Gemeinsam­keiten gegen andere und auf Gemeinsamkeiten der Sprech- und Denktraditionen beruht. Als ihre Glaubensaxiome und Werthaltungen liefern diese normativen und kognitiven Wirklichkeitsdefinitionen jeweils gemeinsame Bezugsrahmen der Selbsterfahrung der Menschen als Einzelne und Gruppen. Sie liefern eine in sich mehr oder weniger schlüssige Erklärung des gesamten menschlichen Lebens, die den Menschen als Einzelne und Gruppen das Leben sinnvoll erscheinen lässt. Sie liefern die gesellschaftliche Antwort auf die immer wiederkehrende Frage des Einzelnen nach dem „Wozu das alles?“. Diese verhaltenssteuernden, übergreifenden Sinngebungen für das menschliche Leben sind nicht nur gekennzeichnet durch eine jeweils spezifische Ich- und Wir-Balance der Selbsterfahrung der Menschen, sondern auch durch die Art und den Grad ihrer Phantasiegesättigtheit, wie sie sich in unterschiedlichen religiösen und mehr oder weniger säkularisierten „Weltanschauungen“ manifestiert. Die Gegenüberstellung der islamisch geprägten und der eher säkularen „Welt­anschauungen“ der Menschen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen ihrer Gesellschaften akzentuiert die Unterschiede ihrer Selbsterfahrung genauso, wie ihre unterschiedlichen Weltbilder die Dynamik ihrer (Selbstwert-)Beziehungen weitgehend bestimmen.

 

Mit den unterschiedlichen Selbsterfahrungstypen der Menschen auf unter­schiedlichen Entwicklungsstufen der Gesellschaften möchte ich hier auf unterschiedliche Grade sozialer Differenzierung interdependenter Gesellschaften als Soziogenese von unterschiedlichen Typen von Selbstmord aufmerksam machen, die keineswegs individualisierend „narzissmustheoretisch“ verallge­meinerbar sind. Denn nicht nur eine übermäßige Vereinzelung kann zum Selbstmord führen, sondern auch eine nicht genügend ausgeprägte Individualität kann dieselbe Wirkung haben. Diese unterschiedlichen Grade und Arten sozialer Differenzierung und der Individualisierung manifestieren sich in einer Ich-Wir-Balance der Selbsterfahrung der Menschen, die in ihren Extremfällen zu einer „wir-losen“ bzw. einer „ich-losen“ Selbsterfahrung führen können und damit zu psychogen unterschiedlichen Selbstmordarten – dem „egoistischen“ und dem „altruistischen“ Selbstmord.[6]


2.     Zur Kritik der dominanten Muster der Diagnose der Selbstmordattentate

 

Mit der Vernachlässigung dieser unterschiedlichen Typen der Selbsterfahrung der Menschen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen ihrer Gesellschaften entstehen zwei diametral entgegengesetzte Diagnosen der „Selbstmord­attentate“, die jeweils entsprechende praktische Konsequenzen nahe legen.

 

Die eine, sozusagen seelenblinde, Position stellt die „Subjektivität“ der Selbst­mordattentäter gänzlich in Frage und begreift sie als bloße „Objekte“ der Manipulation einiger „fanatischer“ Führer, deren physische Liquidierung das Problem lösen würde. Dabei wird die Frage unterschlagen, wieso gerade sie zum Führer und jene zu Geführten geworden sind. Die eskalierenden Folgen dieser Strategie sind inzwischen durch die Massenmedien allgemein bekannt.[7]

 

Demgegenüber gibt es eine scheinbar die „Subjektivität“ der „Selbstmord­attentäter“ ernst nehmende individualpsychologisch orientierte Position, die sie als narzisstisch gestörte Menschen begreift und die deswegen die Lösung des Problems in deren individueller therapeutischen Behandlung sieht.[8]

 

In beiden Fällen ist die gegenwärtig dominante Diskussion über die „Selbstmordattentäter“ nicht nur geprägt durch die Suspendierung der Gruppenprozesse als Bezugsrahmen der Erklärung individueller Handlungen, sondern auch durch eine mangelnde Selbstdistanzierung und eine Projektion von Menschenbildern, die weder realitätsangemessen sind, noch dem Selbstver­ständnis der islamisch geprägten „Freiwilligen“ der Himmelfahrtskommandos gerecht werden können. Während die eine Position mit der selbstwertdienlichen Ausblendung der „Subjektivität“ der eigenen Feinde ihre Erniedrigung fortsetzt und ihnen implizit ihre Menschlichkeit abspricht, erkennt ihnen die zweite Position ihren verletzbaren menschlichen Gruppenstolz ab, indem sie ihnen die eigene „Homo-Clausus-Selbsterfahrung“ unterstellt. Diese Projektion der eigen­en „Wir-losen-Selbsterfahrung“ der individualisierteren Menschen, die eine unabdingbare Verknüpfung des Gruppen- und persönlichen Stolzes von Menschen nicht nachempfinden kann, führt zwangsläufig zur Pathologisierung der „Selbstmordattentäter“ als narzisstisch gestörte Persönlichkeiten. Damit erscheint deren Verhaltens- und Empfindensmuster nicht nur fremd, sondern absurd.[9]

 

Von der Perspektive eines sich selbst als absolut unabhängig von anderen Menschen empfindenden Menschen, dessen Verhalten ausschließlich auf individuellen Eigenwert ausgerichtet scheint, erscheint Gruppen-Selbstliebe und damit die physische Selbstaufgabe der (islamisch geprägten) Menschen für ihre Wir-Bezüge, für den „Islam“ oder die „nationale Unabhängigkeit (der Muslime)“ selbstverständlich pathologisch. Dabei ist der Islamismus genauso wie der Nationalismus Ausdruck einer Gruppen-Selbstliebe der Menschen, die angesichts einer Bedrohung akzentuiert wird. Wie so oft in solchen Beziehungs­konstellationen ist auch in diesem Fall den hochindividualisierten Menschen ihre Pathologisierung der Anderen als ‚narzisstisch gestörte Persönlichkeiten’ keineswegs als für sie selbst selbstwertdienliche und zugleich für die stigma­tisierten ‚Selbstmordattentäter’ selbstwertbedrohende Strategie ohne weiteres einsehbar, vielmehr ist diese Teil der blinden Dynamik. Verblendet von dem eigenen Gruppencharisma der scheinbar absolut autonomen Persönlichkeiten unterschlagen sie die soziogenetischen Unterschiede im Schema von Selbst­werten als Unterschiede in den Bezugsrahmen der Selbsterfahrung der Menschen. Mit ihrer sich daraus ergebenden heteronomen Bewertung des Unterschiedes im Schema von Selbstwerten als selbstwertbedrohlich Empfundenes[10] tragen sie bei zur Eskalation der destruktiven Selbstwert­beziehungen der mit unterschiedlichen Macht- und Statuschancen ausgestatteten Menschen als Einzelne und als Gruppen, deren Kulmination schließlich (wieder) die „Selbstmordattentäter“ sind.

 

Durch diese gegenseitige Bedrohung des Selbstwertgefühls interdependenter Menschen wird, im Sinne einer Art „Rückkopplungsprozess“ destruktiver Selbstwertbeziehungen, eine distanziertere Wahrnehmung und Bewertung der „Selbstmordattentäter“ noch dadurch erschwert, dass der so bewertende Beobachter seine eigene Gesellschaft tatsächlich als verbal anvisiertes und physisch angegriffenes Aggressionsziel der „Selbstmordattentäter“ wahrnimmt. In solch eine Beziehungsfalle getappt, verliert er die sozialwissenschaftlich notwendige Fähigkeit, diese als bedrohlich empfundenen Menschen aus deren eigenem Bezugsrahmen heraus zu verstehen. Damit vermag er allerdings auch nicht mehr, sich selbst als Einzelnen und Mitglied einer Gruppe mit den Augen des „Selbstmordattentäters“ zu sehen und die (destruktive) Kompatibilität von dessen Bild mit dem eigenen Selbstkonzept zu prüfen. Damit gerät er in einen „Teufelskreis“ emotionaler Verstrickungen, weil dieser Vorgang schwerlich nur durch bloßes Nachdenken zu bewältigen ist. In der Tat setzt seine Empathie[11] eine Teilhabe an der Gefühlswelt des „Selbstmordattentäters“ und der mit ihr verbundenen Phantasien und Kognitionen voraus. Seine empathisch gesteuerte Beobachtung und Bewertung des „Selbstmordattentäters“ würde also die Ein­sicht voraussetzen, dass Beobachten und Bewerten interdependenter Menschen als Einzelne und Gruppen ein zentrales Moment von Selbstwertbeziehungen sind. Sie sind in der Regel interdependente selbstwertdienliche Verhaltens- und Erlebensmuster. Diese gleichzeitig – aus der anderen Perspektive – als selbst­wert­bedrohliche Verhaltensmuster erfahrenen – aus der einen Perspektive –selbstwertdienlichen Strategien interdependenter Menschen als Einzelne und Gruppen, diese Zielkonflikte erschweren die Einsicht, dass die eigenen Gefühle der Beobachter mehr oder weniger von dem Selbstkonzept des jeweils anderen mitbestimmt sind. Dadurch wird eine Form von Mitfühlen und zuweilen auch Mitleiden als ein unvermeidbarer Aspekt der Empathie beeinträchtigt. Die Folge ist die Beeinträchtigung einer mehr oder weniger empathisch gesteuerten kognitiven Verarbeitung der Beobachtung und dessen sozialen Handlungs­an­teils, der mindestens ebenso bedeutend ist wie dessen affektiver.

 

3.     „Martyrium“ als ein selbstwertdienliches Verhaltensmuster von islamisch geprägten Menschen, das ihnen ihre unentrinnbare Lage nahe legt

 

Wenn man jedoch der, in den zunehmend differenzierten und individualisierten Gesellschaften so selbstverständlichen, Tendenz zur Pathologisierung der „Selbst­mord­attentäter“ widersteht, ist man zunächst konsterniert von deren schwer nachvollziehbaren Verhaltensmustern. Doch es bedarf einer weiteren ungeheueren Anstrengung der Selbstdistanzierung, um sich die Frage nach ihren Motiven zu stellen. Versucht man, diese Menschen ernst zu nehmen, ist es sinnvoll, sich an deren Selbstoffenbarungen, u.a. in deren Testamenten, zu orientieren. Dadurch erfährt man etwas zunächst schwer Begreifliches, nämlich dass es sich bei ihren als „Martyrium“ begriffenen „Selbstmordattentaten“ um ein selbstwertdienliches Verhaltensmuster von islamisch geprägten Menschen handelt,[12] das ihnen ihre unentrinnbare Lage nahe legt. Dann erst fragt man sich: Was sind diese „Märtyrer“ für Menschen, welche sind ihre Selbst- und Weltbilder und in welcher Lage befinden sie sich, dass ihnen das Leben nicht mehr lebenswert erscheint und sie bereit sind für die Herstellung, Aufrecht­er­haltung, Verteidigung oder Ausbau ihrer positiven Selbst-Bewertung solch einen – aus individualisierter Sicht – hohen Preis zu zahlen, ihre eigene physische Existenz zu opfern.

 

Vergegenwärtigt man sich dabei den existentiellen Stellenwert eines positiven Selbstwertgefühls im menschlichen Leben, ohne dessen Existenz das eigene Leben sinnlos erscheint, drängt sich die Einsicht auf, dass ihr sozialer Habitus geprägt ist durch das „Martyrium“ als ein das Verhalten und Empfinden steuerndes Selbstwertschema, dem sich die „Selbstmordattentäter“ mindestens ebenso schwer entziehen können, wie die westlichen „Beobachter“ gegenüber der Neigung zur Pathologisierung dieser Handlungen. Als eine Art Zwang, die diese Menschen auf sich selbst und aufeinander ausüben, repräsentiert dieses tradierte Schema von Selbstwerten die Identität der Menschen, deren Ich- und Wir-Balance eindeutig zugunsten ihrer Wir-Identität neigt. Es ist aber ihr retrospektiv geschöpftes Wir-Ideal, an das sich ihr idealisiertes Selbstkonzept und ihre selbstwertdienliche Strategie orientiert, und die angesichts ihrer gegenwärtigen relativ beschränkten Machtressourcen so selbstmörderisch auf die Destruktion jeglichen  Selbstwertgefährdenden gerichtet ist. Das ist auch der Grund der „Sprachlosigkeit“ ihrer destruktiven Aktionen – ein neues Phänomen angesichts der sonst üblichen Bekennerschreiben terroristischer Organisationen, die in der Regel eine klare Forderung durchbomben. Doch auch diese non­verbale Kommunikationsform ist übersetzbar und verstehbar, wenn man an einem Verständnis interessiert ist.

 

Diese selbstmörderische Grammatik destruktiver Aktionen islamistischer Terror­isten in ihrem Entstehungs-, Begründungs- und Wirkungszusammenhang kurz darzustellen, ist die Aufgabe dieses Beitrages. Damit hoffe ich zugleich auf die sonst in der Soziologie sozialer Konflikte so sträflich vernachlässigte existent­ielle Bedeutung des Selbstwertes und der Selbstwerbeziehungen aufmerksam zu machen.

 

Ein Verständnis dieser bedrohlichen „Fremdsprache“ der Gewalttätigkeit setzt voraus die Überwindung einer der Realität zwar unangemessenen, aber (in „modernen“ Gesellschaften) selbstverständlich gewordenen Dichotomie des Menschenbildes in Form eines Bildes von Menschen als Gesellschaften einer­seits und als Individuen andererseits durch ein Bild der Gesellschaft der Individuen. Dadurch würde man dann nicht nur „im Gegensatz zu den ‘orthodoxen’ Narzissmustheoretikern daran interessiert sein, wie sich narzisstische Bedürfnisse Einzelner in Gruppen, Institutionen und Organisa­tionen niederschlagen.[13] Vielmehr wäre die eigentliche Frage, die sich dann aufdrängen würde: Welche Gruppenprozesse schlagen sich nieder in „narzisstischen“ Bedürfnissen einzelner Gruppenmitglieder, in ihren Institution­en und Organisationen? Damit würde man das individualpsychologisch geprägte Narzissmuskonzept durch das der Selbstwertbeziehungen interdependenter Menschen als Einzelne und Gesellschaften ersetzen, die sich nicht nur lieben, sondern auch hassen und darüber gemeinsam kommunizieren können.[14]

 

Zu dieser Kommunikation bedürfen sie einer gemeinsamen Sprache, die nicht nur die Funktion eines Kommunikationsmittels erfüllt, sondern auch die eines Orientierungs- und Kontrollmittels. Ihre Begriffe sind gemeinsam kommuni­zier­bare symbolische Repräsentanten der Welt, wie sie von diesen Menschen erfahren wird. Eine kurze Geschichte ihrer Selbst- und Welt-Begriffe würde uns daher einen Zugang zur Entwicklung der Gesellschaft dieser Menschen er­öffnen, deren Erfahrung durch die Begriffe tradiert wird und als solche die gerichtete Wahrnehmung, also auch der Selbstwahrnehmung der nächsten Generationen prägt. Es ist dieses Gepräge, das im Sozialisationsprozess der Menschen als deren sozialer Habitus mehr oder weniger individualisiert und so zu ihrer „zweiten Natur“ wird. Neben den Zwängen der nicht-menschlichen Natur sowie der menschlichen Natur und den Fremdzwängen, denen Menschen in jeder Gesellschaft ausgesetzt sind, steuert dieses Gepräge in Form von Selbstzwängen, d.h. von Zwängen, die Menschen auf sich selbst und aufeinander ausüben, ihre Verhaltens- und Erlebensmuster. Mit der Art und dem Grad ihrer Grundkontrollen, d.h. der Kontrollen der „Naturzwänge“, der eigenen Trieb- und affektiven Impulse sowie der (sozialen) Fremdzwänge, werden Art und Grad dieser Zwänge modifiziert, ohne je aufgehoben werden zu können. Diese Kontrollchancen manifestieren sich in den sich wandelnden Verhaltens- und Erlebensmustern der Menschen in Gestalt ihres Natur-, Gesellschafts- und Selbstbegriffes. Als kognitive und emotionale Komponenten tradierter Ein­stellungen der Menschen gegenüber der nicht-menschlichen Natur, ihrer eigenen Natur und anderen Menschen, d.h. anderen Gruppenmitgliedern und der feindlichen Menschengruppen, kommen diesen Begriffen als interdependenten Aspekten des sozialen Habitus der Menschen solche verhaltenssteuernden Funktionen zu, denen sich die Menschen nicht ohne weiteres entziehen können.


4.     Zu Kollektivvorstellungen der islamisch geprägten Menschen über Tod und Martyrium und ihrer Kultivierung durch Gebete, Anrufungen, Amulette, Pilger- und Wallfahrten sowie Trauer-Ritualen und Passionsspielen als sozialer Habitus der Selbstmordattentäter

 

In diesem Beitrag sollen daher die Glaubensaxiome und Werthaltungen der islamisch geprägten Gesellschaften als Bedingung der Möglichkeit der Mobilisierung ihrer „altruistischen“ Selbstmordbereitschaft diskutiert werden. Ohne diesen Aspekt des sozialen Habitus der Muslime wären die islamistischen „Selbstmordattentate“ genauso unmöglich durchführbar wie erklärbar. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich allerdings der „Altruismus“ der „Selbstmord­attentäter“ ebenfalls als ein Trugbild, der scheinbar im Gegensatz zur Selbstliebe der Selbstmordattentäter steht. Denn diese in der Regel im Gegensatz zum „Egoismus“ gedachte, scheinbar durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Handlungsweise im Sinne einer Selbstlosigkeit bzw. Uneigen­nützigkeit der „Selbstmordattentäter“ wird sich bei näherer Betrachtung als eine „Gruppen-Selbstliebe“ der Menschen erweisen, deren Ich- und Wir-Balance zugunsten ihrer Wir-Identität neigt.

 

Diese Balance manifestiert sich in einem tradierten „gott-zentrischen“[15] Selbst­bild der Islamisten, wie in ihrem Gottes-Begriff als einer Art “forensischem Modell des Gewissens“[16], einem Gewissensbegriff, der auch in den abend­länd­ischen theologischen Traditionslinien bis zur frühen Neuzeit wirkungsmächtig blieb, bevor der „himmlische Vater“ allmählich und zunehmend „verinnerlicht“ wurde. Dieser Wandel des Begriffes im Abendland ging nicht nur mit der Trans­form­ation des Weltbildes der Menschen einher, sondern auch mit der ihrer anthropologischen Prämissen; damit wandelten sich also ihr Erfahrungsraum, ihre Mentalitäten und ihre Gefühlskultur. Dieser Wandel manifestiert aber eine langfristige Verschiebung von Fremdzwängen zu Selbstzwängen und damit auch der Balance von Trieb- und Selbstzwängen und die Art des individuellen Einbaus des letzteren im Laufe des menschlichen Zivilisationsprozesses.

 

Genauso wie im „Abendland“ auf seinen frühen Entwicklungsstufen, sind auch im „Morgenland“ auf den durch Stämme und anderen vorstaatlichen Über­lebens­einheiten repräsentierten Stufen die Selbstzwangsinstanzen, d.h. das individuelle Gewissen und der Verstand, gewöhnlich triebdurchlässiger, un­gleich­mäßiger, gebrechlicher, labiler und weniger autonom. Sie bedürfen der ständigen Unterstützung und Verstärkung durch Fremdzwänge. Zu diesen Fremd­zwängen gehören auf diesen Stufen nicht nur die realen Zwänge, etwa der Naturgewalten oder der anderen Gruppenmitglieder und der feindlichen Menschen­gruppen, sondern auch ganz besonders die Zwänge kollektiver Phantasien in Form von Geistern und den dazu gehörigen Mythen. Zu deren Funktionen gehört die ständige Hilfestellung und Verstärkung relativ fragiler persönlicher Selbstzwangsinstanzen der Menschen. Der Gottesbegriff hat auf dieser Stufe Funktionen, die auf späteren Stufen in weit höherem Maße von dem individuellen Gewissen und Verstand erfüllt werden. Die allmähliche Zivilisier­ung des Gottesbildes, das entsprechend seiner Funktion als Stütze einer relativ gebrechlichen Selbstregulierung niemals den Charakter als furchterregendes Wesen verloren hat[17], ist doch in der Tat auch einer der eindruckvollsten Belege für die langfristige Zivilisierung der islamisch geprägten Menschen. Im Zusam­men­hang mit dem schwankenden sozialen Gefahrenniveau werden aller­dings oft wieder Gegenprozesse dominant.[18]

 

Der islamistische Selbst- und Gottesbegriff repräsentiert diesen Gegenschub als Traumaeffekt. Als entfremdete Gestalten eigener Phantasien der sich bedroht fühlenden Menschen entstanden, beherrschen sie das Verhalten und Empfinden der islamisch geprägten Menschen als ihr tradiertes Orientierungs- und Kontrollmittel in bedrohlich empfundenen Situationen. Allerdings entsprechen die ungewöhnlich erscheinenden  Ausschläge in ihrem Gottesbild den noch unbe­herrsch­baren Ausschlägen der sie bedrohenden Natur-, und Fremdzwänge sowie Zwängen ihrer eigenen Natur. Auf dieser relativ niedrigen Entwicklungs­stufe dieser Grundkontrollen sind nicht nur ihre Selbstzwangsinstanzen triebdurchlässiger, ungleichmäßiger, labiler und weniger autonom, sondern auch ihr Gott ist ebenso leidenschaftlicher, heftiger und unberechenbarer. Er ist in ihrer Vorstellung genauso diskriminierend gegenüber seinen Geschöpfen, wie er heute freundlich und voller Wohlwollen, morgen grausam, oder voller Hass und zerstörerisch ist wie sehr mächtige Menschen und Naturgewalten. Mit der traumat­isierenden Erfahrung der Gefahr, wird er in ihrer Vorstellung noch unbeständiger, leidenschaftlicher und unberechenbarer, wie er äußerst ungleich­mäßiger und damit diskriminierender gerecht, gütig und moralisch wird.

 

Als „Zeuge“ ist solch ein Gott eine überhöhte äußere Instanz des Mitwissens, die auch als „Wächter über alles Böse und Gute“ den „inneren“ Bereich des Gläubigen erfasst,[19] weswegen der Begriff ‚Zeuge’ auch einer der 99 Beinamen oder eines der 99 Attribute Gottes ist.[20] Als eine solche Quelle moralischer Macht ist dieser Gott im Sinne eines “forensischen Modells des Gewissens“ daher nur der bildhafte Ausdruck der Gesellschaft, die ein „gott-zentrischer“ Mensch mit andren bildet. Und zwar im Sinne „einer moralischen Macht“, von welcher der Gläubige abhängt und von der er „den besten Teil seiner selbst“ [21] bezieht: seine Ich- und Wir-Ideale, für deren Verteidigung er bereit ist, seine physische Existenz zu opfern.

 

Diese Opferbereitschaft setzt aber ein dualistisches Weltbild voraus, die weltliche und transzendentale Welt, die durch den Tod verbunden sind. In diesem Zusammenhang wird der eigene, bewusst in Kauf genommene Tod als die selbstwertdienlichste Strategie der Gläubigen erfahren, deren selbstwert­relevante Vergleichsdimension die Frömmigkeit bzw. Gottesfürchtigkeit ist, die der „Gewissenhaftigkeit“ eines individualisierteren bürgerlichen Individuums entspricht. Wird also der Letztere eher durch Gewissensangst geplagt, sollte er sich normwidrig verhalten, wird das abweichende Verhalten, die „Sünde“ des „gott-zentrischen“ Muslims eher durch Gottesfurcht und andere Menschen verhindert.

 

4.1.          Tod als selbstwertdienliche Strategie der Gläubigen und Mittel der sozialen Kontrolle in den islamisch geprägten Gesellschaften

 

Ohne diese Einsicht in islamisch geprägte Schemata von Selbstwerten ist man erstaunt und zuweilen irritiert darüber, mit welcher Vehemenz die mit den »Selbstmordattentätern« sympathisierenden Muslime in der Diskussion diese Bezeichnung als eine Stigmatisierung der als Märtyrer gefallenen Glaubens­kämpfer ablehnen. Verstehen kann man sie jedoch dann, wenn man die ver­schiedenen Todesarten und ihren jeweiligen selbstwertrelevanten Stellenwert für gläubige Muslime berücksichtigt.

 

Vor allem den Stellenwert des „Martyriums“ beabsichtigte ich ursprünglich durch die Untersuchung der Testamente der „Freiwilligen“ des irakisch-iranischen Krieges exemplarisch darzustellen. Doch ihre permanenten Hinweise auf den Koran, den Propheten und vor allem auf Imam Hussein[22], den „Fürsten der Märtyrer“, machte mir klar, dass die testamentarische Begründung des eigenen Martyriums der „Freiwilligen“ nur im Bezugsrahmen ihrer Selbst- und Welterfahrung verständlich sein wird. In diesem Sinne ist ihr individuelles „Blutsopfer“ die Individualisierung des sozialen Habitus der Muslime, die über vierzehn Jahrhunderte durch verschiedene Gebete[23], Anrufungen, Pilger- und Wallfahrten sowie Trauer-Ritualen und Passionsspielen geprägt und sozial vererbt wurde. Sie werden hier als psychosoziale Quelle der Selbst- und Welterfahrung der Märtyrer kurz und knapp dargestellt.

 

Zu verschiedenen Todesarten und ihrem selbstwertrelevanten Stellenwert für einen gläubigen Muslim

 

Das Martyrium als gott-gefälligste und als solche selbstwertdienliche Strategie der Gläubigen wird erst dann verständlich, wenn die Selbstwertrelevanz ver­schied­ener Todesarten für die „gott-zentrischen“ Menschen berücksichtigt wird. Dabei besteht nicht nur ein Unterschied zwischen einem verbotenen Selbstmord („Intihar“) und dem gebotenen Martyrium („Ischtihad“), sondern auch zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Tod.

 

Diese Differenzierungen werden verständlicher, wenn man sich zunächst den Begriff des Todes in den islamisch geprägten Gesellschaften als eine Art „Brücke zur Ewigkeit und zu einer anderen Welt“ vergegenwärtigt. Diese als „Jenseits“ (des Todes) begriffene, andere bzw. „künftige Welt“ („Acherat“) ist aber eine in „Paradies“ und „Hölle“ geteilte Welt, die durch den Tod zugänglich ist: „Zwischen uns und Paradies oder Hölle existiert nichts außer dem Tod“,[24] so der vierte Kalif bzw. der erste Imam der Schiiten, Ali.[25] Es ist also der Tod, der die Menschen zu ihrer jeweiligen Stellung in der Ewigkeit führt, die „Tugend­haften“ ins Paradies und die „Unterdrücker“ bzw. „Tyrannen“ und „Gottes Feinde“ in die Hölle.

 

Mit der Aussicht auf den Zugang ins Paradies lässt man als Gläubiger durch den Tod jede weltlich erfahrene Schwierigkeit, Mühsal, Last, Qual, Sorge und jeden Kummer hinter sich. Deswegen verspricht Imam Ali den Gläubigen: „Nach dem Tod gibt es keinerlei Schwierigkeiten und Not.“[26] Somit wird der Tod von den Gläubigen als eine Art Befreiung von jeder Not, jedem Missgeschick und Unglück und damit als ein Geschenk Gottes begriffen. Im Gegensatz dazu beginnen für den „Ungläubigen“ alle Schwierigkeiten erst nach dem Tod, der ihn zur Hölle führt.

 

„Gottes Zufriedenheit“ als eine jenseits-orientierte selbstwertdienliche Strategie der Gläubigen

 

Der Tod ist für die Muslime wie der Gott allgegenwärtig. Er ist ein unentrinn­barer und ständiger Begleiter, dem nur Gott nicht ausgesetzt ist: „Der Tod verfolgt mich immer und überall; er hat mich so im Visier, als ob er außer mir kein anderes Ziel hätte“,[27] so der Prophet. Er kennt also keine Diskriminierung, jeder wird, „wenn seine Zeit gekommen ist“, den „Geschmack des Todes“ kosten; dem einen schmeckt er süß, dem anderen bitter.

 

Angesichts dieser Gewissheit des Todes als Wunsch- und Furchtbild, den der Gläubige als einen sehr langen Weg über verschiedene Stationen hin zum Endziel begreift, entstehen nicht nur gott-gefällige Kultpraktiken, Gebete und Pilgerfahrten mit der Hoffnung auf Abbau der eigenen Ängste auf dieser „langen“ und „einsamen“ Reise. Als eine Art selbstwertrelevante Gestaltung dieses Weges sind die unterschiedlichen und auf das Jenseits orientierten, selbst­wertdienlichen Strategien im Leben eines jeden Gläubigen auf „Gottes Güte und Vergebung“ gerichtet. In Anbetracht des ihm bevorstehenden „jüngsten Gerichtes“ sind alle demütigen Bitten der Gläubigen in ihren „stummen Gebeten“ auf diesen obersten Richter gerichtet: „O Gott sei uns gnädig, wenn wir begraben werden ... und von allen in der Erde verlassen werden. O Gott sei barmherzig, wenn wir mit Erde-bedecktem Gesicht und nackt (...) voller Angst vor dem jüngsten Gericht ... unsere Sünden bereuend, ... alle ignorierend nur an uns selbst denkend wieder auferstehen. Wie schmerzlich ist es, wenn wir auf diesem Weg von Gottes nahen Freunden gesondert werden und den Schlechten und Gottes Feinden Gesellschaft leisten. O Herr verdopple nicht unsere Gram und Angst durch deine abweisende Haltung“,[28] so Imam Ali.

 

Hierdurch kommt nicht nur die Vorstellung von dem jüngsten Gericht zum Aus­druck, dem Gott als oberster Richter vorsteht und über alle irdischen Taten der Menschen richtet, sondern auch ihre Vorstellung von sich selbst vor diesem Gericht. Wie in jeder Religion begegnen wir auch hier einem ganzen System von Kollektivvorstellungen, die sich auf die Seele beziehen, die in einer anderen Welt ein eigenes Leben führt. Hier scheint sie aber den Körper nicht zu ver­lassen; was im Übrigen auch ein zentrales Dogma klassischen katholischen Glaubens darstellt – die ‚Auferstehung des Fleisches’.

 

„Gute Taten“ als selbstwertdienliche Strategien der Gläubigen als Äquivalent für den „guten Tod“

 

Ein zentraler Aspekt der den Tod betreffenden Vorstellungen der Muslime bezieht sich auf die Art ihres Todes. Sie betrachten die Qualität des Todes abhängig von den Taten eines jeden Menschen. Demnach führen „gute“ Taten zum „guten“ und „schlechte“ Taten zum „schlechten“ Tod. Sie suchen daher nach Gottes Hilfe und Schutz vor „schlechten und plötzlichen Todesarten.“ Sie bitten auch deswegen Gott in ihren Gebeten darum, nicht unvorbereitet, d.h. ohne die Gelegenheit zu guten Taten, zu sterben. „Gott beschütze mich vor schlechtem Leben und Tod“,[29] soll der Prophet wiederholt gesagt haben. Dazu zählt er den Tod durch einige, einzeln aufgezählte Unfälle, sowie den „Alterstod als Schwachsinniger“ und den Tod  zu einem Zeitpunkt, „wenn der Teufel ihn beherrscht“, und nicht zuletzt den Tod „auf der Flucht im Krieg“ als ein selbst­wertbedrohliches Verhalten eines den Kriegerethos verkörpernden Propheten.[30]

 

Als Ausdruck von „Gottes Zorn“ wird der „schlechte“ Tod von Gläubigen so gefürchtet, dass Hussein, der 3. Imam und als solcher ein Vorbild der Schiiten, sich von Gott gewünscht haben soll, sein Tod möge nicht aus seinem Zorn hervorgehen: „O Herr, ich wünsche mir, dass du meinen Tod nicht aus deinem Zorn entstehen lässt.“[31]

 

„Gottes Zorn“ entsteht, auch hier, sobald ein göttliches Gebot überschritten wird, weil die gesellschaftlichen Sitten religiös sanktioniert werden. Furcht vor der Entdeckung durch andere Menschen mischt sich so mit der Befürchtung einer Strafe durch die alles sehende Gottheit, wie Imam Ali es hervorhebt: „O Herr, du siehst deine Untertanen in Verborgenheit und bist Zeuge ihrer Handlungen und bist informiert über ihre Gedanken und Empfindungen.“[32] Dieser göttliche Gegenpol des individuellen Gewissens ist so „allmächtig“, dass die Balance zwischen „Ich“ und „Über-Ich“ zugunsten des “forensischen Gewissens“ neigt und angesichts dieses geringen Individualisierungsgrades der Gesellschaft noch nicht zwangsläufig zu einem sich selbst reflektierendes Selbst führt. Deswegen funktioniert die permanente Erinnerung an den Tod u.a. als ein unentrinnbarer Fremdzwang zum Selbstzwang im Sinne des „himmlischen“ Mittels der Mobilisierung der natürlichen Anlage der Menschen zur Selbst­regulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse durch das persönliche Lernen von Trieb- und Affektkontrollen im Sinne der islamisch geprägten Zivilisations-Muster. Weil auf dieser Entwicklungsstufe der Gesell­schaft das individuelle Gewissen im Sinne der moralischen Funktionen der Persönlichkeit rudimentär entwickelt ist, funktioniert der „gute“ respektive der „schlechte“ Tod als Manifestation des „Willens des Allmächtigen“ und seiner Belohnung bzw. Strafe für das normgerechte bzw. anomische Alltagsverhalten der Gläubigen im Sinne des Mittels der sozialen Kontrolle. So übernimmt Gott partiell Funktionen des individualisierten Gewissens, das eine sittliche Erfahr­ung ausdrückt, in der ein Akt des Wissens von der Norm verbunden ist mit einem Gefühl der Unlust oder des Schmerzes infolge einer Abweichung von den gesellschaftlichen Regeln. Damit übernimmt er die eher weniger bewussten Funktionen: 1.) der Billigung oder Missbilligung von Handlungen und Wünschen aus Gründen der Redlichkeit, 2.) der kritischen Selbstbeobachtung, 3.) der  Selbstbestrafung, 4.) des Verlangens nach Wiedergutmachung oder Reue, wenn Unrecht getan wird, und 5.) des Selbstlobes oder der Selbstliebe als Belohnung für tugendhafte oder erwünschte Gedanken und Handlungen.[33]

 

In dieser Entwicklungsphase der Gesellschaft wird daher die Trieb- und Affekt­kontrolle im Sinne gesellschaftsspezifischer Zivilisationsmuster weniger durch Gewissens­bisse und Reue aufrechterhalten als vielmehr durch Furcht vor „Gottes Zorn“ und einer öffentlichen „Schande“. Hier sind diese Fremdzwänge noch nicht weitgehend genug zu Selbstzwängen im Sinne einer gefühlten „Schuld“ geworden, damit Menschen mit sich selbst und anderen Menschen einvernehmlich leben können – ohne „gottesfürchtig“ sein zu müssen. Bei dieser Balance zwischen Selbst- und Fremdzwängen zugunsten des sich als göttlicher Stimme manifestierenden Fremdzwangs, dient Bedenken weniger der Lösung sittlicher Probleme, als vielmehr den Fragen der selbstwertrelevanten Zweck­dienlich­keit des eigenen Handelns. Selbst wenn davor gewarnt wird, dass eine Handlung unangemessen ist, ertönt dabei in der Regel kaum eine „innere“ Stimme, es naht vielmehr ein Gott mit seiner Botschaft. Die aber hat keinen moralischen Appell zum Inhalt, sondern sie verweist auf die üblichen Folgen: „Bedenke das Ende!“

 

Vor diesem sozio- und psychogenen Muster der Umsetzung von Fremdzwängen in Selbstzwänge impliziert das Furchtbild vom schlechten Tod u.a. die Vor­stellung vom Leben als einer Art „Prüfung“, so dass das Leben der frommen Menschen geprägt zu sein scheint durch ständige Prüfungs- und Versagens­ängste. Und es sind diese Ängste, die sie weitgehend prägen: „Wehe mir, wenn mein Tod nicht von himmlischen Genossen gesegnet und geschätzt  wird“[34], so Imam Ali, der vierte Kalif der Muslime und der 1. Imam, d.h. der Führer und Vorbild der Schiiten. Dies wäre nämlich dann der Fall, wenn ihm „Gottes Gnade“ vorenthalten wäre, weil er „Gottes Andenken“ vernachlässigt hätte. Aus diesem Grunde ist der Dreh- und Angelpunkt aller liturgischen Beschwörungen der Muslime die Furcht vor „Gottes Ungnade“ als Folge der Vernachlässigung seines Gedenkens, ist doch der Tod nicht nur ein Segen und Ehre für den, der an Gott denkt; Gott selbst würde sogar seine Seele aufnehmen. Die verschiedenen „Gottesdienste“, wozu auch der „Djihad“, der „Heilige Krieg“ gehört, wären demnach die einzigen selbstwertdienlichen Garantien für „Gottes Segen“ und „Aufnahme der Seele“ der Gläubigen.

 

Deswegen darf der Gläubige Gott nur aus selbstwertdienlichen Gründen um den Tod bitten. So soll der Prophet die Gläubigen aufgefordert haben, sich niemals aus Not und Leid den Tod zu wünschen – ist doch das ganze Leben eine permanente Prüfung der „Standhaftigkeit“. Sie sollen Gott darum bitten, sie so lange am Leben zu erhalten, solange es „gut“ für sie ist, solange sie ihm gehorchen: Sagt „(...) erhalte mich am Leben, solange es vorteilhaft für mich ist, und bring mir den Tod, wenn er gut für mich ist“.[35] So sind die selbstwert­relevanten Folgen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens die einzigen Kriterien für die Erlaubnis, Gott um den Tod zu bitten. Selbstwertdienlich wäre demnach das Leben dann nicht mehr, sobald es nicht mehr im „Dienste der Verehrung Gottes“ steht. Die Aufrechterhaltung der Allgegenwart der „Herr­schaft Gottes“ durch die Unterwerfung unter seine Gebote und Aufforderung andrer dazu[36] wäre die selbstwertdienlichste Strategie jedes gläubigen Muslims, wofür er sich einen Logenplatz im Paradies reservieren lassen kann: “O Herr (...) verorte mich im Paradies in einer statusreichen Position, um die alle Menschen mich beneiden“,[37] so Ali, das Vorbild der Gläubigen. Die hierar­chische Struktur des „Himmels“ und der „Hölle“ reflektieren demnach die idealisierten bzw. dämonisierten irdischen Selbstwertbeziehungen der Gläubi­gen. Demnach wäre die Teilnahme am „Djihad“ im Sinne der kriegerischen Verteidigung, Aufrechterhaltung und Ausweitung der „Herrschaft Gottes“ die höchstmögliche selbstwertrelevante Vergleichsdimension der Gläubigen. Hier­bei fordert Imam Ali: „Gebt euer Einverständnis zur Trennung der Seele von eurem Körper und seid froh und fliegt graziös hin zum Tod.“[38] In diesem Sinne ist die Bereitschaft zum Tod als Himmelfahrt zugleich der Wunsch nach Marty­ri­um und Tod auf dem „Pfad Gottes“, der mit der verdienten Hoffnung auf einen Logenplatz im Paradies einhergeht.

 

Unterscheidung zwischen dem „kleinen Djihad“ („Djihad-e Asghar“) und „großen Djihad“(Djihad-e Akbar)

 

Diese selbstwertdienliche Bereitschaft zur Selbsthingabe und Martyrium bedeutet einen permanenten Kampf auf dem „Pfad Gottes“. Allerdings unter­scheiden die Gläubigen zwischen dem „kleinen Djihad“ („Djhiad-e Asghar“) und „großen Djihad“(Djihad-e Akbar). Der „kleine Djihad“ bezieht sich auf die nicht alltägliche gewaltsame Herstellung, Verteidigung und Expansion der Herr­schaft Gottes auf Erden. Der„große Djihad“ bezieht sich dagegen auf den permanenten alltäglichen Kampf gegen die eigenen Trieb- und Affektimpulse und deren Kontrolle im Sinne der Gebote Gottes und gegebenenfalls auch deren sublimatorische Umgestaltung im „Dienste Gottes“. Es ist diese zivilisatorische Anstrengung zur Selbstkontrolle der Gläubigen, die als Bedingung der Möglich­keit eines friedlichen Lebens mit sich selbst und mit anderen Menschen göttlich als „großer Djihad“ gefordert wird. Diese Trieb- und Affektkontrolle bedeutet eine „Unterwerfung“ unter Gottes Gebote, die aus den Menschen „Untertanen“ Gottes macht, d.h. gläubige Muslime im „Djihad-e Akbar“. Dadurch „bezeugen“ sie permanent die Existenz Gottes, als dessen „Untertanen“ sie sich zum Märtyrer („Shahid“) qualifizieren. In diesem Sinne bedeutet die Todesbereit­schaft vor allem die Bereitschaft zur Reproduktion der Bedingung der Möglich­keit des permanenten Gottesdienstes in Form der Selbstkontrolle und damit die Vermeidung von Sünde und die Bereitschaft zur Selbsthingabe bei der Realisie­rung der als göttlich idealisierten, sozialen Werte in der Gesellschaft.

 

„Schande“ als Bedingung der Möglichkeit des Wunsches nach dem Tod als Erlösung

 

Der gläubige Muslim ist zu solch einem „frommen Leben“ im Sinne der islamisch geprägten Zivilisationsmuster verpflichtet. Eine Attraktion des Todes und Abwehr des Lebens ist dementsprechend eine selbstwertbedrohliche Strategie und ihm strikt untersagt, weil er Leben und Tod in der Hand des „Allmächtigen“ zu liegen glaubt. Nur wenn die Fortsetzung des eigenen Lebens nichts anderes mehr zur Folge hätte außer „Schande“, wäre der Wunsch nach dem Tod als Erlösung eine selbstwertdienliche Strategie und als solche zulässig. Und wo die eigene “Wehrhaftigkeit“ des Einzelnen das zentrale selbstwert­rele­vante Vergleichskriterium zwischen „ehrenhaftem“ Sterben und „schändlichem“ Leben ist, dort ist jeder Verteidigungsakt eine Ehresache. Dieses Ethos der Wehr­haftigkeit wird durch den Propheten sanktioniert, wenn er hervorhebt: „Wer in Selbstverteidigung mit dem Aggressor kämpft und fällt, ist ein Märtyrer; und wer in Verteidigung seines Eigentums kämpft und fällt, ist ein Märtyrer; und wer in Verteidigung seiner Familie und seiner Gattin kämpft und fällt, ist ein Märtyrer.“[39] Ist er nicht in der Lage, dieser moralischen Ver­pflichtung nachzukommen, darf der Gläubige seinen Tod wünschen statt die „Schande“ zu ertragen.

 

Entsprechend diesem Schema von Selbstwerten unterscheiden die liturgischen Beschwörungs- und „Gebetsformeln“ zwischen dem „guten“[40], „gesegneten und würdevollen“, „bequemen“, und „roten“ (blutigen) Tod, den die Gläubigen sich in der Regel wünschen. So z.B. Imam Musa al-Qazim, der 8. Imam der Schiiten: „O Herr gib mir ein sauberes Leben, einen würdigen Tod und eine edelmütige und ehrenhafte Rückkehr, so dass meine Rückkehr zu dir mich nicht erniedrigt, demütigt, und beschämt.“[41] Dies sei nur möglich „auf der Grundlage des Buches und der Traditionen des Propheten“,[42] so Imam Ali. Das wäre dann ein Leben in „Gottes Dienst“ und Sterben für “Gottes Herrschaft“.

 

Damit streben die Gläubigen, als „gott-zentrische“ Menschen angemessene Selbst­wert­beziehungen im Leben und nach dem Tod an, und zwar nicht nur gruppencharismatisch in Bezug auf die „Ungläubigen“, sondern auch auf die entsprechend ihrer frommen Selbsthingabe als selbstwertrelevanter Vergleichs­dimension strukturierten Hierarchie der Gläubigen. Dazu haben Mohammed und islamische Heilige als ihre Vorbilder um die Frömmigkeit, um die absolute Unterwerfung unter Gottes Willen und Leben und Sterben auf seinem Pfad herum ein bestimmtes, diesseitiges als auch jenseitiges Schema von Selbst­werten vorgezeichnet. Aus diesem Grunde gehören diese gewünschten Todes­arten zu der Kategorie der selbstwertdienlichen Tode, wobei der „rote Tod“ zu den selbstwertdienlichsten zählt, ist er doch mit der Hoffnung auf eine gehobene Position in der paradiesischen Hierarchie verbunden. Er bezieht sich auf das Martyrium im Sinne von „Gefallen im Kampf auf dem Pfad Gottes“, das für die Gläubigen Würde und Glück in aller Ewigkeit bedeutet. Zudem zählt er, trotz seines blutigen Charakters, zur Kategorie des „bequemen“ Todes. Als eine Art göttliches Privileg ist er nur den „guten“ Menschen, den Gerechten, den Bezeugenden (Schuhada) und Frommen vorbehalten, ist doch der Tod für sie eine Brücke von ihren weltlichen Beschwernissen zu himmlischen Bequemlich­keiten. Er ist für sie eine barmherzige Gnade Gottes. Der „rote Tod“, wird daher als erhabenste und ehrenhafteste Art des Sterbens gefeiert: „Wahrlich ist Getötetwerden im Kampf um Gottes Willen die erhabenste aller Sterbensarten und ich schwöre bei Gott, dass mir tausend Säbelhiebe willkommener und bequemer sind als Sterben im Bett.“[43] Nach Imam Ali unterscheidet die „göttliche Vorsehung“ zwei Gruppen von Menschen. Nach ihm ist „Getötet­werden“ ein göttliches Privileg und somit ein Distinktionsmittel einer charismatischen Gruppe von Menschen gegenüber den Normalsterblichen. „Gefallene“ unterscheiden sich demnach als „Auserwählte“ Gottes im Sinne der „Etablierten“ gegenüber den statusniedrigeren „Außenseitern“. „Beneidenswert sind demnach die Glaubenskämpfer und all die Gefallenen im Kampf um Gottes Willen.“[44] Damit wird nicht nur der bewaffnete Kampf, sondern auch die dies- und jenseitige Etablierten-Position der gewaltbereiten Menschen in ihrem Glaubens­kampf religiös sanktioniert. Diese autodestruktive selbstwertdienliche Bereitschaft zum „Kampf um Gottes Willen“ wird als sozialer Habitus der islamisch geprägten Menschen seit 14 Jahrhunderten durch alltägliche Gebete, Anrufungen, Pilger- und Wallfahrten sowie alljährliche Passionsspiele kultiviert. Sie ist in Krisensituationen als eine der Schichten des sozialen Habitus[45] der Selbst­mordattentäter verhältnismäßig leicht mobilisierbar, besonders wenn es um die Verteidigung ihres als bedroht empfundenen Selbstwertgefühls geht – angesichts der existentiellen Bedrohung der normativen Struktur ihrer Gesellschaft und/oder der militärischen Intervention bzw. Besatzung ihres als heilig geschätzten Landes.

 

 

4.2.          Martyrium als Ethos und selbstwertrelevantes Mittel der Mobilisierung der Bereitschaft zur Verteidigung der Wir-Einheit der Gläubigen als „Gotteskrieger“

 

„Wer sich wünscht im Kampf um Gottes Willen getötet zu werden und redlich ist in dieser Forderung, dessen Wunsch wird durch Gott erfüllt. Ihm wird  auch die Auszeichnung und Belohnung eines Märtyrers zuteil werden, selbst wenn er nicht im Kampf gefallen ist.“ Mohammed[46]

 

Das arabische Wort für „Märtyrer“ ist Schahid, Plural Schuhada, was wörtlich „Zeuge“ bedeutet. Wie bereits erwähnt, ist „der Zeuge“ zugleich „Wächter über alles Böse und Gute“ im Sinne eines „forensischen Modells des Gewissens“ einer der 99 Beinamen oder eines der 99 Attribute Gottes.[47] Doch Schahid im Sinne von „Gefallen auf dem Pfad Gottes“ ist seine geläufige Bedeutung. „Er ist jemand, der dazu bereit ist und von Gott zur Audienz aufgefordert wird“.[48] Die redliche Bereitschaft zu Selbstaufopferung ist die „gottgefälligste“, selbstwert­dienlichste Verhaltensstrategie der Gläubigen und als solche die unabdingbare Voraussetzung der göttlich in Aussicht gestellten Privilegien. Dazu gehört „Gottes Nähe“, so dass der Märtyrer in der „Gesellschaft der Heiligen“, „face to face“ mit seinem Gott aufgenommen wird, sozusagen „seines Antlitzes“ an­sichtig werden darf.[49] Damit werden sie eingereiht mit denjenigen, die zwischen den Normalsterblichen und Gott vermitteln dürfen.

 

In diesem Sinne wird Martyrium als ein vertraglich vereinbarter Tauschhandel mit Gott begriffen. Damit kommen die Gläubigen ihrer, mit Gott vereinbarten, Pflicht nach, sich für die Herstellung, Verteidigung und Expansion des – als „das Recht“ bzw. „Wahrheit“ definierten – Glaubens und für die Aufrecht­er­haltung der Grundwerte und Ideale der als menschlich definierten Gesellschaft zu opfern. „Und so soll kämpfen in Allahs Weg, wer das irdische Leben ver­kauft für das Jenseits. Und wer da kämpft auf Allahs Weg, falle er oder siege er, wahrlich, dem geben wir gewaltigen Lohn.“[50]

 

Diese gegenseitige Selbstverpflichtung entspringt einer merkantilen Vorstellung von einem Tauschhandel des Gläubigen mit seinem Gott, dem als Kompensation für sein „Blutopfer“ ein „Rechtsanspruch“ auf „Gottes Nähe“ und die Gesell­schaft des Propheten und der Heiligen als Zeichen der „Zufriedenheit Gottes“ mit seinen „Untertanen“ zusteht. „Das sind die Erben, welche das Paradies erben, ewig drinnen zu weilen.“[51] Doch mit diesem „Rechtsanspruch“ ist auch eine Vertragstreue der Gläubigen verbunden: „Und haltet den Bund Allahs, so ihr ihn eingegangen seid, und brecht nicht eure Eide, nachdem ihr sie be­kräftigt.“[52]

 

Zu verschiedenen Aspekten des Begriffes Märtyrer und Martyrium /Märtyrertod

 

Als selbstwerterhöhende Veraltensstrategie der Gott ergebenen Menschen er­scheint das Wort im Koran und konstituiert so ein Schema von Selbstwerten für islamisch geprägte Menschen in ihren Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfen gegen selbstwertbedrohliche Verhaltensstrategien ihrer Feinde: „Und wer Gott gehorcht und dem Gesandten – sie gehören zu denen, denen Gott huldvoll ist von den Propheten, den Gerechten, den Bezeugenden (Schuhada’) und den Frommen; diese haben herrliche Genossen.“[53] Damit werden Frömmigkeit der Muslime und ihr Martyrium zu wesentlichen „selbstwertdienlichen Vergleichs­dimensionen“[54] bzw. Standards der „Gott-Ergebenheit“ der Menschen, die seinem Gesandten gehorchen. Auf diese Weise genießen die Frommen und Märtyrer im Vergleich zu den Menschen, die diesen Maßstäben nicht genügen, eine weit höhere Wertschätzung Gottes in der Vorstellung der Gläubigen. In ihrem sozialen Status stehen sie sogar quasi auf der gleichen Stufe wie Propheten und Gerechte, mit denen sie die „Gnade Gottes“ bzw. seine „gnädige Zugeneigtheit“ teilen.

 

Als ein Element des Schemas von Selbstwerten von islamisch geprägten Menschen enthält der Begriff Schahid alles, was auch der deutsche Begriff „Märtyrer“ umfasst, geht aber darüber hinaus. Denn nach der Schari´a, dem muslimischen Gesetz, sind nicht nur diejenigen Märtyrer, die als Zeugen oder Verteidiger des Glaubens sterben, sondern auch diejenigen, deren Todes­um­stände bei den Mitmenschen große Anteilnahme und Mitleid hervorrufen. Im letzteren Sinne wurde er sogar im 20 Jh. säkularisiert und von den „marxistisch-leninistischen“ Guerilla-Gruppen, wie den „fedẳ’i jan-e Khalgh“[55] im Iran für ihre gefallenen Genossen im Kampf gegen das Schahregime verwendet.

 

Doch obwohl in den islamisch geprägten Gesellschaften ein vollkommener Märtyrer nicht nur jemand ist, der in einem religiösen Krieg fällt, sondern auch eines ungerechten Todes stirbt, wird besondere selbstwerterhöhende Zuwendung im Koran denen versprochen, die im „Heiligen Krieg“ (Djihad) ihr Leben lassen. Sie leben weiter ein transzendentes Leben: „Und glaubt nicht, die für den Pfad Gottes getötet worden sind, seien tot; nein, sie sind lebend, bei ihrem Herrn werden sie versorgt.“[56] Als Zeichen der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser selbstwertdienlichen Verhaltensstrategie werden nach der Schari´a alle Menschen, die bei der Verteidigung ihres Glaubens ums Leben kommen oder eines ungerechten Todes sterben, ohne die sonst üblichen rituellen Waschungen und die obligatorische Ersetzung der Kleidung durch ein Leichentuch bestattet, weil Märtyrertum den Leichnam gleichzeitig reinigt.

 

4.2.2. Zum  Märtyrer im Sinne von „Gefallen im Kampf auf dem Pfad Gottes“ als selbstwertdienlichste Vergleichsdimension der Gläubigen zur Bestimmung ihrer Selbstwertbeziehungen

 

Dieses Ethos des Martyriums von „Gefallen im Kampf auf dem Pfad Gottes“ ist wegen seiner „Ehrenhaftigkeit“ und „Heiligkeit“ die erstrebenswerteste Ver­haltens­strategie der gläubigen Muslime, ist doch der Grad von „Gottes Zufriedenheit“ und der damit einhergehenden „Nähe Gottes“ ihr gemeinsamer Lebenssinn. Für diese „gott-zentrischen“ Menschen ist die Bereitschaft zu dieser „gottgefälligen“, „obligatorischen altruistischen“ Selbstaufopferung die zentrale selbstwertrelevante Vergleichsdimension zur Bestimmung ihres sozialen Status. Martyrium wird von ihnen also nicht als ein „Ziel“ aufgefasst, sondern als ein „Mittel“ zur Erreichung von „Gottes Zufriedenheit“. Für solche „gott-zentrischen“ Menschen konstituiert diese religiös sanktionierte Pflicht der Selbstopferbereitschaft daher ein Schema von Selbstwerten, ist es doch ihr Glück und Erlösung vermittelndes selbstwertrelevantes Vergleichskriterium zur Bestimmung ihrer Selbstwertbeziehungen. Jedoch gibt es für diese Menschen auch andere „gottgefällige“, „verdienstvolle Anstrengungen“, und als solche ethisch verpflichtende Verhaltensstrategien, die ihnen eine gehobene soziale Position und Status im Dies- und Jenseits garantieren und als solche zu gesell­schaftlich notwendigen Tätigkeiten motivieren. „Wer das Rechte tut, sei es Mann oder Weib, wenn er nur gläubig ist, den wollen wir lebendig machen zu einem guten Leben und wollen ihn belohnen für seine besten Werke.“[57] Doch die sozial motivierenden und integrierenden Funktionen dieses kriegerischen Ethos der „gott-zentrischen“ Menschen zu Herstellung und Betrieb allgemeiner Reproduktionsbedingungen ihrer normativen Struktur der Gesellschaft und damit der gesellschaftlichen Macht- und Statutsverhältnisse zu ihren Gunsten werden besser begreifbar, wenn man neben dieser blutigen „Anstrengung“ zur Herstellung, Aufrechterhaltung, Verteidigung und Expansion der „Verteidi­gungs- und Angriffseinheit“ der Muslime andere, gesellschaftlich notwendige, aber unblutige „Anstrengungen“ berücksichtigt, die genauso als „gottgefällige Anstrengungen“ verherrlicht werden.

 

Es darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass diese integrative Funktion der „Anstrengungen“ („Djihad“) einhergeht mit ihrer desintegrativen Funktion in Form der Exklusion. So impliziert die, mit dem „blutigen Tod“ einher­gehende, „gottgefällige Anstrengung“ der Gläubigen zur Herstellung, Aufrecht­erhaltung, Verteidigung oder Erhöhung ihres Selbstwertes ihre komplementäre Funktion der Exklusion der als „Ungläubige“ stigmatisierten und als Außen­seiter diskriminierten Menschen und damit die Grobaufteilung der Welt in „das Haus des Islam“ („dar al-Islam“) und „das Haus des Krieges“ („dar al-harb“). So bestimmt diese „göttlich sanktionierte“, blutige inklusive und exklusive normative Struktur der Gesellschaft der Etablierten und Außenseiter das Grund­schema von Selbstwerten und den Bezugsrahmen der gruppen­charis­ma­tischen Selbsterfahrung der gläubigen Muslime und ihrer gruppeninternen Selbstwert­beziehungen. Damit werden Rechte und Pflichten festgeschrieben, die als „göttlich“ und als solche ewig gelten, zu deren Verteidigung jeder Gläubige bis zur physischen Selbstaufgabe aufgefordert ist.

 

Als zentrale selbstwertdienliche Vergleichsdimension einer theokratisch ge­prägten Gesellschaft der Menschen, sind also diese Rechte und Pflichten determinierenden „Anstrengungen“ göttlich sanktionierte Kriterien für die Verteil­ung der Privilegien und Belohnungen als Kompensation für jene gesellschaftlich notwendigen Verhaltens- und Empfindensmuster, die vor allem zur Herstellung, Betrieb und Entwicklung der „Triade der Grundkontrolle“ unabdingbar sind. So ist die „Selbstverteidigung“ in und zwischen den Gesellschaften, bei der die physische Gewalt in Gestalt der Staatsmacht noch nicht monopolisiert und somit als Regulationsprinzip noch nicht suspendiert ist, als „gottgefällig“ definiert und wer dabei getötet wird, ist ein Märtyrer: „Wer bei der Selbstverteidigung gegen den Aggressor kämpft und fällt, ist ein Märtyrer“,[58] so der Prophet.

 

Doch diese gewaltsame Form der Selbstverteidigung ist eine der integrativen Funktionen der als „Djihad“ definierten Tätigkeiten. Die sozialen Träger dieser gesellschaftlich notwendigen und als solche integrativen Funktionen werden genauso als „Märtyrer“ geheiligt wie ihre Tätigkeiten als „Djihad“, zuweilen als „großer Djihad“ tituliert werden, mit dem Anspruch auf göttliche Privilegien und Belohnungen. Zu den unblutigen Märtyrern, deren gesellschaftlich not­wendige und integrative „Anstrengungen“ ihnen „Gottes Nähe“ garantieren, gehören:

 

       „Modjahed-e Nafs“, der „Selbstbekämpfer“: jemand, der sein ganzes Leben dem Gebet und der Suche nach „Gottes Willen“ gewidmet hat und „Gottes Zufriedenheit und Nähe“ durch Vermeidung von Sünden und durch Gebete anstrebt. Dieser fromme Mensch bekämpft zwar nicht die äußeren „Feinde Gottes“, doch er ist privilegierter und erwirbt eine größere Belohn­ung als die „Gefallenen im Kampf auf dem Pfad Gottes“ und zwar – über­setzt in ‚unsere’ Sprache – durch die Bekämpfung seiner eigenen trieb- und affektbedingten Verhaltensimpulse und deren sublimatorische Umge­stalt­ung in Form der göttlichen Gebote. Der Prophet nennt ihn daher „Kämpfer des großen Djihad“ („Djihad-e Akbar“)“, dessen gehobener Status durch Imam Ali bestätigt wird: „Wer mit seiner Selbstbekämpfung und Vermeidung von Sünden Gottes Willen Folge leistet, gilt bei Gott als rechtschaffener und echter Märtyrer.“[59]

 

       „Aref-e Hagh“, „Gnostiker“: Vor der Entstehung der positiven Wissenschaft, die sich auf die Beobachtung realer Ereignisse konzentriert, ist wissenschaftliche Erkenntnis auf die Entdeckung des „Willens Gottes“ gerichtet. Diese „Anstrengung“ wird als „Djihad“ aufgefasst und der Wissen­schaftler als Märtyrer. „Wer bei der Erkenntnis Gottes und seines Propheten stirbt, ist gewiss als Märtyrer gefallen, obwohl er im Bett gestorben ist; dem stehen göttliche Belohnung und Privilegien zu“, so Imam Ali.[60]

 

        „Taleb-e Elm“: Die Studierenden der religiösen Lehranstalten, aus denen religiöse Gelehrte hervorgehen, werden als „Talabe“ bezeichnet. Sie suchen Wissen und als solche sind sie ebenso Märtyrer: „Der Wissen-Suchende ist genauso ein Märtyrer, wenn er bei seiner wissenschaftlichen Erkenntnis stirbt“,[61] versichert der Prophet.

 

        „Qarib“, der Fremde: Möglicherweise als Kompensation für die erlittene Exklusion als islamisch geprägte Außenseiter und als Mittel ihrer Integration durch die Erweiterung der Reichweite der Identifizierung der Muslime jen­seits ihrer Gruppenzugehörigkeit als Stämme und Klans werden die „Fremden“ zum Märtyrer erhoben. Es sind also Außenseiter, deren Todesumstände große Anteilnahme und Mitleid hervorrufen. So wird Imam Hussein von den Schiiten als Qarib betrauert, weil er sich in „Kerbala“[62] verlassen und einsam gefühlt haben müsste in seinem Kampf gegen „Usurpatoren“.

 

Zu dieser Kategorie von Menschen gehören auch die „unschuldigen Natur-Opfer“, d.h. Menschen, die wegen mangelnder Naturkontrolle sterben, wie Opfer der Pest, der Bauchschmerzen, der Erdbeben, Ertrunkene.[63]

 

       „Darande-e Taharat“, der rituelle Waschungen einhält: Wahrscheinlich um die zivilisatorisch notwendigen Hygienestandards in der Gesellschaft der Muslime durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, werden die Menschen, „die rituelle Waschungen“ einhalten, zu Märtyrern erklärt. So soll der Prophet einen seiner Mitstreiter aufgefordert haben, Tag und Nacht seine „Reinheit durch rituelle Waschungen“ einzuhalten, denn, so der Prophet, „wirst du Märtyrer, wenn du in diesem Zustand stirbst“.[64]

 

       Die Standhaften: Wer, wie ursprünglich Mohammad in Mekka und später die Schiiten als Außenseiter, trotz Verfolgung und Unterdrückung standhaft bleibt in seiner religiösen Überzeugung und den hereditären Nachfolgern des Propheten, den „Imamen“ Folge leistet, ist ein Märtyrer wie der „Wallfahrer Hussein“, der „Prinz der Märtyrer“. Die ersten 10 Tage des 1. Monats des muslimischen Jahres sind der Erinnerung an das Martyrium Husseins ge­widmet. Am zehnten Tag finden die Aschura-Prozessionen statt. „Wenn sich jemand am Aschura auf der Wallfahrt zum Imam Hussain befindet und an seinem Grab verweilt, ist es genauso, als ob er ihn bei seinem Martyrium begleitet hätte“,[65] so der 8. Imam der Schiiten, Sadeq.

 

 

 

4. 2. 3. Streben nach Martyrium als eine der affektiven Valenzen der Gläubigen

 

Ungeachtet dieser alltäglichen „Anstrengungen“ ist das Ethos des Martyriums im engeren Sinne als verhaltens- und erlebenssteuerndes Ich- und Wir-Ideal der „gott-zentrischen“ Menschen permanent virulent. Mit ihrer Ausgerichtetheit auf den „obligatorisch altruistischen Selbstmord“ erleben sie sich als „Auserwählte“ Gottes, als Anwärter des „Gartens der Glückseligkeit“, Genossen des Propheten und seiner heiligen Nachfolger sowie Zeugen von „Gottes Antlitz“. Es ist für sie ein gruppencharismatisches Distinktionsmittel.

 

Diese gemeinsame Ausgerichtetheit der Gläubigen auf „Gottes Zufriedenheit und Nähe“ vermittelt ihre gemeinsame affektive Bindung aneinander und konstituiert ihre islamisch geprägte Gesellschaft, zu deren Verteidigung bzw. zur Verteidigung ihrer normativen Struktur sie sich bis zu ihrer Selbstaufgabe verpflichtet fühlen. Es ist diese Gemeinsamkeit der Identifizierung, der Ich- und Wir-Ideale und der „Tradition“ des Propheten[66] und die damit einhergehende Feindseligkeit gegen die als „Feinde Gottes“ definierten Menschengruppen, die sie als gruppencharismatische Träger einer sozialen Bewegung zu einer furchter­regenden globalen Herausforderung macht. Diese Faszination für den „roten Tod“ wird nicht nur von dem Propheten in seinen hegemonialen Höhenflügen ausgelebt, sondern auch von seinen Nachfolgern. Sie war der psychogene An­trieb der Expansion des islamischen Reiches, das dann von Indien bis nach Spanien reichte.

 

Als affektive Besetzung des „obligatorischen altruistischen Selbstmordes“ in einem Angriffs- und Verteidigungskrieg der Muslime ist diese Faszination für den “roten Tod“ mobilisierbar, sobald sie sich in ihrer sozialen Existenz als Gläubige bedroht fühlen – sei es in einer unmittelbaren kriegerischen Aus­einander­setzung oder durch die Gefährdung der normativen Struktur ihrer Gesellschaft durch Modernisierungsprozesse als Funktion der Globalisierung der Zivilisationsmuster der machtstärkeren Staatsgesellschaften. Bei dieser Ge­fähr­dung, bei diesem möglichen oder wirklichen Wert- und Sinnverlust, wird nicht nur ihre „Gott gefällige“ Standhaftigkeit mobilisiert, sondern auch ihr Wunsch nach Martyrium als eine Sehnsucht nach einem als ewig gedachten Leben in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft der Auserwählten Gottes, „denen Gott huldvoll ist“, an deren höchster Stufe nach den Propheten und Gerechten die gefallenen „Gotteskrieger“ stehen. „Und wer Allah gehorcht und dem Gesandten, die sollen sein bei denen von Propheten und den Gerechten und den Märtyrern und den Frommen, denen Allah gnädig gewesen; das ist eine schöne Kameradschaft!“[67] Die motivierende Kraft dieser gruppen­charisma­tischen Verschmelzungsphantasien der durch die Modernisierungs­prozesse funktional von vormodernen Integrationseinheiten entbundenen und in den urbaneren Konglomeraten marginalisierten Menschen darf nicht unterschätzt werden.

 

Es wäre daher fatal, wenn man die gegenwärtige Verbreitung der Bereitschaft zum „altruistischen Selbstmordattentat“ mit Kriterien der „politischen Rationali­tät“, als Folge der Nachahmung erfolgreicher Aktionen der relativ macht­schwachen islamistischen Gruppen wie z. B. der „Hisbollah“ im Libanon erklären wollte. Mit dieser Fehleinschätzung der Motivlage der Selbstmord­attentäter und ihres apokalyptischen Kalküls wird man nicht nur zur Eskalation und der Vermassung der Mobilisierung dieser destruktiven Selbstaufopferungs­bereitschaft beitragen,[68] sondern auch die Problemstellung verschieben. Damit würde man nicht einmal die erfolgreichen Selbstmordattentate der „Hisbollah“ im Libanon erklären; selbst der von Lewis[69] in Umlauf gesetzte, inzwischen allgemein beliebte Hinweis auf die selbstmörderischen Attentate der „Assassinen“[70] aus der Festung „Alamut“ in Persien als Vorgänger und Vorbild würde die Sozio- und Psychogenese der „Selbstmordattentäter“ eher verdunkeln als erklären, obwohl die Anhänger von Hassan-i Sabbah sicher ausgezeichnete Beispiele für die Untermauerung der These von der Fremdsteuerung der Selbstmordattentäter abgeben. In der Tat manipulierte Hassan-i Sabbah, der Überlieferung nach, seine Anhänger, indem er ihre Phantasien über das Paradies – mit Haschisch und entsprechenden „paradiesischen“ Erlebnissen im Rauschzustand in einem grünen Garten voller schönen Frauen u.a. – verstärkte, bevor er sie auf ihre selbstmörderischen Attentate schickte. Doch damit be­schreibt man nur, wie und warum man unter Umständen Selbstmordattentäter manipulieren kann. Erklärt hat man dadurch nicht, warum sie so manipulierbar waren bzw. worin die Bedingung der Möglichkeit ihrer Manipulation bestand. Außerdem waren sie im Unterschied zu der sunnitischen Mehrheit der heutigen Selbstmordattentäter eine schiitische Sekte, die als „Häretiker unter Häretikern“ keinesfalls Vorbildfunktion für sie übernehmen dürfte.

 

Erst wenn die Gemeinsamkeit der sozialen Lage und der Gefühlslage der islamisch geprägten Selbstmordattentäter als aufstiegsorientierte Außenseiter in Anschlag gebracht wird, wird es ersichtlich, wieso sowohl die Schiiten als auch die Sunniten den „altruistischen obligatorischen Selbstmord“ als eine selbstwert­dienliche Strategie eines „gott-zentrischen“ Menschen entdeckt haben können. Sie teilen miteinander sowohl in ihren eigenen Ländern als auch in der „Diaspora“ eine Außenseiterposition, nicht nur im lokalen, sondern auch im globalen Maßstab. Aber sie sind auch mehr oder weniger bewusst gewordene aufstiegsorientierte Außenseiter, deren Handlungen als Folge der funktionalen Demokratisierung im Sinne der Verschiebung der Machtbalance ein wenig zu ihren Gunsten auf eine entsprechende Veränderung der bestehenden Selbstwert­be­ziehungen zu ihren Gunsten gerichtet ist. Selbst wenn sie sich zur Legitimation ihrer destruktiven Selbstmordattentate mit Mohammed[71] und Hussein religions­geschichtlich auf unterschiedliche historische Vorbilder be­ziehen, fühlen sie sich als Gruppe charismatisch, war doch ihr Prophet Mohammed der letzte, der „Siegel“ aller Propheten.

 

Entsprechend zielen sie mit ihren Aktionen angesichts der immer noch beste­henden Machtbalance zu ihren Ungunsten u. a. auf eine selbstwertdienliche Demonstration der Verwundbarkeit ihrer machtstärkeren „Feinde“ und zugleich darauf, von ihnen wenigstens gefürchtet zu werden, wenn sie schon nicht geliebt oder wenigstens geachtet werden. Dabei waren es in der Tat die „Hisbollah“, der erfolgreiche arabische Vorgänger der heutigen Attentäter, die selbst wiederum die „islamischen Revolutionäre“ im Iran und die iranischen „Freiwilligen“ im iranisch-irakischen Krieg als Vorgänger hatten. Deswegen wäre die Annahme eines „rationalen“ Kalküls als alleinigen Grund der Verbreitung der Selbstmord­attentate nicht nur verhängnisvoll, sondern auch zweifelhaft, weil sie nicht den selbstmörderischen Einsatz der Islamisten in der „islamischen Revolution“ und deren „Freiwilligkeit“ im Krieg erklären kann, die Vorbilder der „Hisbollah“ im Libanon wurden. Für sie war doch Hussein das Vorbild. Damit wäre es unerklär­bar, wieso „Hussein“ zum Vorbild des „Blutopfers“ für die Schiiten im Iran wie auch der „Hisbollah“ im Libanon werden kann , trotz, ja gerade wegen seiner blutigen Niederlage in Kerbala.

 

4.2.4. Hussein als Vorbild der Gläubigen in ihrer obligatorischen altruist­ischen Selbsthingabe als Erlösung.

 

In der Tat ist die Vorbildlichkeit des „Blutopfers“ als eine selbstwertdienliche Erlösung der machtschwächeren Muslime als Einzelne und Gruppen nicht erst durch den jüngsten politischen Erfolg mancher islamistischer Organisationen wirkungsmächtig. Im Gegenteil, sie geht zurück auf die mystifizierte Erfahrung der „Anteilnahme und Mitleid hervorrufenden“ („mazlumane“) Niederlage des standhaft kämpfenden und sterbenden „Fürsten der Märtyrer“ und seiner Gefährten, weswegen für die Schiiten „jeder Tag „Aschura“, jeder Kampfplatz „Kerbala“ ist[72]: Kurz nach der Thronbesteigung Yazids[73], den die schiitischen Außenseiter als Usurpator bekämpften, soll Hussein in Mekka eine geheime Botschaft der Einwohner von Kufa erhalten haben, die ihn aufforderten, sich in Babylon an der Spitze eines Heeres der Gläubigen zu stellen. Yazid war jedoch über die beabsichtigte Revolte informiert. Er kam ihr zuvor, indem er den unzuverlässigen Herrscher von Kufa durch den resoluten Herrscher von Basra ersetzte und ihren vorzeitigen Ausbruch provozierte schon bevor Hussein mit seinen Anhängern Babylon erreichte, wo er seinen Anspruch auf das Kalifat geltend machen wollte. Ohne die erhoffte Unterstützung der Einwohner, die ihn laut schiitischer Überlieferung „allein ließen“, wurde er in einen aussichtslosen Kampf verwickelt, an dessen Ende er grausam getötet und enthauptet wurde.

 

Es gibt zwar unterschiedliche, ja gar widersprüchliche Überlieferungen dieser Ereignisse und der Motive Husseins, sich in dieser aussichtslosen Lage auf einen Kampf mit voraussehbarem blutigem Ende eingelassen zu haben. Entscheidend für die Nachhaltigkeit der dominanten Version, die zum paradigmatischen Bezugsrahmen der Selbsterfahrung der gläubigen Menschen, der Interpretation ihrer eigenen Lage und der sich daraus ergebenden Verhaltensstrategie und da­mit der Entfesselung der chiliastisch[74] geprägten Bewegungen wurde, ist seine Stand­haftigkeit, trotz der Gewissheit seines bevorstehenden Schicksals, als Märtyrer getötet zu werden. Er soll angesichts dieser Gewissheit sogar Ange­hörige des „Haschim-Clans“[75] davon abgeraten haben, ihn bei seinem Vorhaben zu begleiten: „Wer mich begleitet wird Märtyrer; wer aber mich nicht begleitet, wird keine Erlösung finden.“[76]

 

Der Überlieferung nach soll er nicht nur den Drohungen seiner Feinde, die ihm als Motiv nur eine „rational“ kalkulierte Strategie der politischen Machter­greifung unterstellt hätten, getrotzt haben, die ihn mit dem Tode gedroht hätten, falls er nicht bedingungslos kapituliert und sich der bestehenden Herrschaft unterwirft. „Eher werde ich sterben, als dies geschehen zu lassen“, soll er auf die Aufforderung, sich zu ergeben und Yazid „Gefolgschaft zu schwören“, gesagt haben. Denn für ihn bedeutete, sich Yazid zu unterwerfen, eine „offensichtliche Schande und Erniedrigung“. Eine solche selbstwertabträgliche Verhaltens­strategie liege den „gott-zentrischen“ Menschen fern: „Solchen Menschen wie Yazid Gefolgschaft zu schwören, ist eine offensichtliche Schande und Erniedri­gung und für das Geschlecht des Propheten und alle Edelmütigen unange­messen. Für die Männer Gottes ist solche Demütigung und Erniedrigung unangemessen, weil Gott, der Prophet und die Gläubigen, die makellosen Frauen und ehrenhaften Männer ihre Unterdrückung und Schmach nicht zulassen. Keiner von ihnen zieht die Unterwerfung unter einer anstandswidrigen und besudelten Herrschaft einem ehrenhaften Tod vor.“[77]

 

Laut Überlieferung soll er auch die nach „rationalem Kalkül“ erteilten Rat­schläge seiner Freunde abgelehnt haben, die ihm sein Vorhaben angesichts der bestehenden Machtdifferentiale als sinnlos und selbstmörderisch ausreden wollten. Mit der Ablehnung des chiliastischen Quietismus einer apokalyptischen Weltabgeschiedenheit seiner Freunde, wird er mit seinem Sendungsbewusstsein zum Symbol eines chiliastischen Aktivismus, der sein Schicksal in der Hand Gottes sieht. Er sieht den Sinn seines Lebens in der (aktiven) Wiederherstellung, Aufrechterhaltung, Verteidigung und Expansion jener strebenswertesten norma­tiven Strukturen der Gesellschaft, die er durch den Propheten als göttlich ver­kündet und etabliert glaubte und nun durch die „Usurpatoren“ pervertiert sah. „Seht ihr nicht, dass das Recht [im Sinne der normativen Struktur der Gesellschaft; D.G.] suspendiert ist und das Unrecht regiert? Es ist hier, wo sich die Gläubigen nach Gottes Antlitz sehnen, das weltliche Leben aufgeben und den Tod und das Martyrium auf sich nehmen sollen.“[78] So fühlte er sich als Verkörperung eines „gott-zentrischen“ Menschen durch sein „forensisches Gewissen“ in Gottes Gestalt unwiderstehlich aufgefordert, sich für den Reviva­lis­mus von „Gottes Herrschaft“ einzusetzen – selbst durch eine selbst­mörderische Auflehnung.

 

5.     Überall ist Kerbala: Der nach Kerbala führende Weg geht über die Minenfelder

 

Diese Überlieferungen zeichnen für die Gläubigen einen scheinbar „ewigen“, seit „Kain und Abel“ existierenden selbstwertdienlichen Zielkonflikt inter­de­pen­denter Menschen als Einzelne und Gruppen, die mit ihren Machtdifferentialen und entsprechenden selbstwertrelevanten, alternativen Verhaltensstrategien zum ‚Sieg des Blutes über den Säbel’ führen, wie es im Koran steht.[79]  Wirkungs­mächtig werden diese, in der Generationenkette durch Rituale u.a. reprodu­zierten historischen Erinnerungen, indem sie dadurch zu untilgbaren Bestand­teilen des kollektiven Gedächtnisses und als solche der Identität der gläubigen Schiiten im Sinne eines „erinnerten Wandlungskontinuums“ werden. Sie konstituieren ihre Ich- und Wir-Ideale, die sie als ihre „zweite Natur“ zu be­stimmten Handlungsmustern zwingen. Für sie ist Imam Hussein die Verkörpe­rung des Martyriums als Erlösung, zu dessen Verherrlichung und sozialer Vererbung seiner Verhaltensstrategie die traditionellen Prozessionen im Trauer­monat ‚Muharram’ dienen. Bei diesen alljährlichen Trauerprozessionen wird nicht nur um den brutal niedergemetzelten und enthaupteten Hussein und seine Gefährten getrauert, sondern zugleich kollektiv versichert, seinem Vorbild zu folgen. Dabei symbolisiert sein blutiges Schicksal für die gläubigen Schiiten den „Sieg des Blutes über den Säbel“. 

 

Ohne dieses Vorbild für den standhaften Tod als selbstwertdienliche Erlösung wäre weder die Islamisierung der iranischen Revolution möglich gewesen noch der massenhafte Einsatz der „Freiwilligen“ des iranisch-irakischen Krieges, die voller Enthusiasmus über die irakischen Minenfelder liefen und den Weg durch ihren Köpereinsatz freisprengten, um den Vormarsch der technologisch schwächeren iranischen Truppen Richtung „Kerbala“ zu ermöglichen. Vor allem die allgemein zugänglichen Testamente der „Freiwilligen“ sind das beste Dokument der Aktualisierung dieses Schemas von Selbstwerten und der Individualisierung[80] dieser zum sozialen Habitus der Gläubigen gewordenen kollektiven Glaubensaxiome und Werthaltungen.

 

 

 

5.1. Re-Symbolisierung von Kerbala nach Husseins Niederlage zum „Sieg des Blutes über den Säbel“

 

Doch Kerbala wird erst zum Symbol einer selbstmörderischen Verhaltens­strategie der Schiiten durch eine Desymbolisierung eines geographischen Bezugsrahmens eines Ereignisses, der zunächst nicht die Funktion hatte, soziale Verhaltensentwürfe anzubieten. Zu einem Bezugsrahmen der Selbsterfahrung der Schiiten wird das zweckungebundene Symbol Kerbala erst dadurch, dass durch die Erfahrung der ‚Aschura-Tragödie’[81] die Wortvorstellung von der zuvor existierenden Inhaltsvorstellung getrennt und mit einer traumatischen Erfahrung neu verknüpft und der nächsten Generationen weiter vermittelt wurde. Als solch ein erfahrungsgesättigtes kollektives Trauma wurde folglich Kerbala für die Schiiten re-symbolisiert und als ein System sprachlich organisierter selbstwertrelevanter Praxisanweisungen über Jahrhunderte hinweg durch alljährliche Aschura-Prozessionen und Passionsspiele kultiviert und tradiert. Es ist also diese kollektivtraumatische Bedeutung des sozialen Symbols Kerbala, die als eine Art sozial vererbte Realitätserfahrung zum Bedeutungs­träger im Sinne eines obligatorischen Verhaltensentwurfes für die Schiiten als Außenseiter wurde. Als eine Art latente Symbolisierung der Selbstwertbe­ziehungen der unterdrückten und stigmatisierten, aber aufstrebenden Schiiten im Sinne von sich gruppencharismatisch erfahrenden Außenseitern nimmt für sie „Kerbala ist überall!“ einen entsprechend symbolisch vermittelten Aufforde­rungs­charakter an. Kerbala wird zum Symbol für eine leiblich erfahrene Wirklich­keit, die jedoch historisch permanent neu re-kontextualisiert wird, indem der „Yazid“ als Verkörperung der Ungerechtigkeit und Unterdrückung der Etablierten aktuell neu affektiv besetzt wird. Damit gehen entsprechende Verhaltenserwartungen der Schiiten an sich selbst und aneinander einher, die als eine Art von ‚Erwartungs-Erwartungen’ kultiviert werden. Es sind diese mit tradierten Erinnerungsbildern verkoppelten selbstwertrelevanten Handlungsan­weisungen, die als „Erwartungen“ an sich und aneinander sowie ‚Erwartungs-Erwartungen’[82] der Schiiten, als ihr zum Selbstzwang gewordener Fremdzwang jederzeit mobilisierbar sind, sobald sie sich einer solchen selbstwertbe­droh­lichen, ausweglosen Situation ausgesetzt fühlen. Denn mit der „Verinner­lich­ung“ der Verhaltens- und Erlebensmuster als Selbstzwänge, erwartet „man“ nicht nur von sich und voneinander, sich entsprechend zu verhalten und zu erleben. Man erwartet auch von anderen, diese Erwartung an einen zu richten. Dadurch wird erst die eigene individuelle und kollektive Identität mit entsprechenden Selbstwertbeziehungen bestätigt.[83]

 

Diese Verhaltens- und Erlebensmuster verankern sich emotional durch Habi­tuali­sie­rung, welche als Lernprozess sowohl eine neuronale als auch eine leibliche Verankerung impliziert und auf einer Gehirn-Körper-Kommunikation beruht.[84] Als eine der Schichten ihres sozialen Habitus verkörpern sie sich – neurobiologisch gesehen[85] – in ihrem Gehirn in Form komplexer Nervenver­schaltungen herausgeformter, ihr Denken, Fühlen und Handeln bestimmender Muster. Als sozial ererbte und im Laufe ihres eigenen Lebens erworbene und in ihrem Gehirn verankerte Verschaltungsmuster treiben diese gespeicherten Aktivierungsmuster zwischen den Nervenzellen diese Menschen situations­spezifisch an und bringen sie dazu, ihr Leben auf ihre Weise zu gestalten, u.a. auch selbstmörderisch. Durch Wiederholung dieses spezifischen Aktivierungs­musters entsteht eine ‚sensibilisierte neuronale Reaktion’, die als ‚erlerntes Verhaltensmuster’ auch dann aktiviert werden kann, wenn ein nur ähnlicher Auslöser vorliegt.[86] Als Rückgriff auf sozial vererbte und eigenerfahrungs­gesättigte, handlungsleitende, Orientierung bietende ‚innere’ Muster ist also ihr sozialer Habitus das, was diese Menschen dazu bringt, tendenziell das zu denken, zu empfinden oder so zu handeln, wie sie das nun einmal tun, wenn diese „inneren“ Muster aktiviert werden.[87] Damit verfügen sie also zu jedem Zeitpunkt nicht nur über bestimmte, ihre Reaktionen und Handlungen lenkende, sondern auch bestimmte, den betreffenden Handlungsimpuls auslösende „innere“ Bilder.[88] Als ein soziogenes Gepräge eines „Netzwerkes neuronaler Kommunikation“[89] also legt ihr sozialer Habitus ihnen, wie einen „Messfühler“ oder „Maßstab“, nahe, ob und wie sie in einer bestimmten Situation zu reagieren und zu handeln haben. [90]

 

5.2. Zur Tradierung und Habitualisierung des Kerbala-Traumas als ein „somatischer Marker“ – Ein Exkurs zu „somatischen Markern“

 

Diese durch Erfahrungen in und für Beziehungen entstandenen markierten Körperzustände nehmen als Körpersignale den Muslimen genauso wie jeden Menschen zwar nicht das Denken ab, aber helfen ihnen beim Denken, indem sie ihre Wahlmöglichkeiten ‚ins rechte Licht rücken’ und rasch eingrenzen, so dass eine Entscheidung augenblicklich gefällt werden kann. Man könnte sich das Ganze als ein quasi automatisches System zur Bewertung von Vorhersagen vorstellen, das die außerordentlich verschiedenen Szenarien der antizipierten Zukunft beurteilt, ob man es wünscht oder nicht. Es handelt sich also bei diesen ‚somatischen Markern’ um eine Art Tendenzapparat.[91] Welche Tendenzen auftreten, hängt auch bei Muslimen davon ab, wann welche Bedeutungen ange­eignet worden sind: Was für ein somatischer Zustand und was für eine Empfindung bei einem bestimmten Individuum an einem bestimmten Punkt in seiner Geschichte und einer bestimmten Situation hervorgerufen werden, ist dabei entscheidend.[92] Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, die menschliche Fähigkeit zum Überleben, beruht also auch bei Muslimen auf einer Kom­munikation zwischen dem Gehirn mit dem gesamten Körper, wobei das Gehirn das „aufmerksame Publikum des Körpers“ ist; eines Körpers, der sich als ein Wandlungskontinuum in den Beziehungen des einzelnen Menschen zur Welt, zu anderen Menschen als Einzelne und Gruppen und zu Dingen permanent ver­ändert. Es ist also ein körperabhängiges und erfahrungsabhängiges Gehirn. Es wäre jedoch unangemessen anzunehmen, ihr Gehirn verarbeite ‚Informationen’, oder ihr Gedächtnis erinnere Informationen. Vielmehr handelt es sich um sozial gebildete bedeutungsvolle kommunikative Erfahrungen, die ihr Gehirn permanent beschäftigen und sowohl ihr Gedächtnis wie ihr Bewusstsein entwickeln und aufrechterhalten. Die entscheidenden Operatoren bei der Bewer­tung von ihren Erfahrungen und Zuweisung von Bedeutungen sind allerdings ihre Emotionen.[93] Doch ihre Emotionen selbst sind körperbasierte Evaluationen, deren Kriterien maßgeblich im organisierten und organisierenden Prozess ihres interpersonellen Austauschs geformt werden.[94] Es sind ihre zwischen­menschlichen Verflechtungszusammenhänge, durch die größtenteils ihre neuronalen Verknüpfungen geformt werden, aus denen ihr Gedächtnis besteht. Dabei sind sowohl die neuronale Struktur als auch die Funktionsweise ihres Gedächtnisses assoziativ organisiert. Ihre Erinnerung ist daher immer Erinnerung einer Erfahrung, die auf die Aktivierung temporaler und räumlicher Muster zurückgeht, die sich über viele Gruppen von Neuronen erstrecken.

 

„Jedes Neuron kann zu einer großen Anzahl solcher Gruppen zählen und entsprechend durch eine große Anzahl neuer Erfahrungen aktiviert werden. Jede neue Erfahrung wird auf der Grundlage der bestehenden Erfahrungen eing­eschrieben“, [die sie dadurch überlagert, DG]. Das heißt, jede neue Erinnerung kann durch vorangegangene Erinnerungen beeinflusst werden und bestehende Erinnerungen verändern.“[95] Dank dieser Überlagerung der Erinnerungen sorgt „das distributive Speicherverfahren des Gedächtnisses [..] dafür, dass ein und dieselbe Erfahrung in sehr unterschiedlichen Kombinationen mit anderen Erfah­rungen erinnert werden kann und jedes Mal als Ergebnis vieler verschiedener assoziativer Verknüpfungen betrachtet werden kann.“[96]

 

Dadurch ist jedes „Sich-Erinnern“ nicht lediglich ein Abrufen, sondern selbst auch ein Verändern der Erinnerung. Dies deshalb, weil die Abrufsituation immer eine neue Situation ist, „die dem vorhandenen Engramm eine neue Verknüpfung hinzufügt – was nichts anderes heißt, als dass neuronale Verknüpfungen während des Abrufs und Einspeicherns aktiviert bzw. gebildet werden, die bis­lang noch nicht zu diesem speziellen Engramm gehörten. Sie assoziieren sich dazu“.[97] Ihre Erinnerung ist demzufolge immer die Erinnerung (eines Ereignisses) plus die Erinnerung an eine Erinnerung.[98] Was erinnert wird und die Art, wie erinnert wird, sind höchstgradig bestimmt von ihren vergangenen und aktuell gelebten Beziehungen, die u.a. durch ihre Strukturähnlichkeit assoziiert werden können. Der Verlauf der Figurationen, die Muslime wie alle andere Menschen miteinander bilden, ist somit selbst konstituierend für Erinne­rungen, und bei ihrem figurationalen Bild handelt es sich um ein emotionales Bild, nicht um Wissen, sondern um Gewissheit.[99] So gesehen, ist nicht nur das, was man ‚der Islam’ nennt, ein erinnertes Wandlungskontinuum, sondern das Gedächtnis der Muslime selbst ist als Wandlungskontinuum[100] zu verstehen. Emotional kommunikativ strukturiert und strukturierend lebt ihr Gedächtnis in diesem Verflechtungsprozess im ‚Spannungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen und Gruppen’.[101]

 

5.3. Zur Ritualisierung der sozialen Vererbung der mystifizierten Erfahrungen von Kerbala als Bezugsrahmen der Selbsterfahrung der Gläubigen

 

Wie bei jedem Menschen sind auch bei den islamisch geprägten Menschen die neuronal geprägten Wege ihres Denkens und Fühlens davon abhängig, wie sie diese Verschaltungen in der Regel nutzen. In diesem Habitualisierungsprozess individualisieren sie mehr oder weniger diese neuronalen Muster. Als eine Art Ablagerungen sozial vermittelter und individueller Erfahrungen dieser Menschen entsteht ihr sozialer Habitus[102] daher als neuronale Aktivierungs­muster, deren Struktureigentümlichkeiten und besondere Gewichtungen Funktion der Gruppenprozesse sind, in denen sie verwickelt sind.

 

Die von den gegenwarts- und zustandsreduzierten Ansätzen vernachlässigte strukturierende Kraft gruppenspezifischer Beziehungen, in die Menschen hinein­wachsen und die sie miteinander eingehen, ergibt sich aus ihrer Sicherheit und Geborgenheit, Halt und Orientierung vermittelnden Funktionen – kurz ihrer (physischen, sozialen und psychischen) Überlebensfunktionen. Um die Befriedi­gungs­möglichkeiten all dieser existentiellen Bedürfnisse nicht zu verlieren, sind Menschen mehr oder weniger gezwungen, ihr Denken, Fühlen und Handeln an die oft genug sehr einseitigen Vorstellungen, Erwartungen oder Forderungen derjenigen Menschen anzupassen, denen sie sich zugehörig bzw. in deren Nähe sie sich sicher fühlen. Zusätzlich unterstützt wird dieser Anpassungsprozess meist noch durch Belohnung gruppenkonformer und Bestrafung aller den Zusammen­halt der Gruppe gefährdenden Verhaltensweisen, Vorstellungen und Haltungen. Je attraktiver daher die in Aussicht gestellte Belohnung (z.B. paradiesische Glückszustände) oder aber je furchtbarer die angedrohte Bestrafung in den Augen der betreffenden Person erscheint (z.B. Höllenqualen), desto besser gelingt die auf diese Weise erzwungene ‚Dressurleistung’, desto effektiver scheinen die dazu erforderlichen und unter entsprechend starker emotionaler Aktivierung genutzten Nervenzell­verschaltungen gebahnt, gefestigt und ausgebaut zu werden. Das gilt nicht nur für all jene Verschaltungsmuster, die für die Lenkung und Steuerung all jener Fähigkeiten und Fertigkeiten gebraucht werden, die man beherrschen muss, wenn man zu einer bestimmten Gruppe oder Gemeinschaft gehören, die Anerkennung anderer finden und sich in dieser Gemeinschaft sicher fühlen will. Das gilt auch für all das Wissen, das man erwerben, und all die Kenntnisse, die man sich aneignen muss, um sich mit den anderen Mitgliedern dieser Gruppe verständigen und austauschen zu können. Und nicht zuletzt führt das (universelle) Bedürfnis, zu einer wie auch immer beschaffenen und wodurch auch immer zusammengehaltenen Gemein­schaft dazuzugehören, zwangsläufig dazu, dass auch die von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft geteilten Überzeugungen, deren Menschen-, Feind-, und Weltbilder, die von ihnen verfolgten Ziele und die von ihnen entworfenen Visionen ebenso übernommen werden wie die diesen kollektiven Bildern zugrunde liegenden und zu ihrer praktischen Umsetzung erforderlichen Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diejenigen, die sich am wenigsten gegen derartige soziale Strukturierungsprozesse und die damit einhergehende Kanalisierung und Bahnung bestimmter neuronaler Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn wehren können, sind die in die jeweiligen sozialen Gemein­schaften, in eine Familie, eine Sippe, eine dörfliche oder städtische Lebens- und Kulturgemeinschaft hineinwachsenden Kinder. Die in höheren assoziativen Bereichen ihres Gehirns erst nach der Geburt ausreifenden Verschaltungen sind in fast beliebiger Weise durch die jeweils von Eltern, Verwandten, Freunden vorgelebten oder vorgeschriebenen, durch Belohnung oder Bestrafung bekräftigten Reaktionsmuster formbar (aber nicht willkürlich!). Diese immense Formbarkeit des sich entwickelnden menschlichen Gehirns ist die entscheidende Voraussetzung für die transgenerationale Weitergabe der von einer Gemein­schaft bzw. von den erwachsenen Mitgliedern dieser Gemeinschaft entwickelten und für bedeutsam erachteten Fähigkeiten und Fertigkeiten, Kenntnisse und Überzeugungen, Vorstellungen und Ideen. Ohne diese Formbarkeit gäbe es keine Erziehung und Sozialisation, keine Bildung und keine Kultur. Aber alles, was formbar ist, ist auch verformbar. Die von den Mitgliedern einer Gesellschaft überlieferten, genutzten und weitergegebenen kollektiven Bilder können unter bestimmten Bedingungen eben auch immer enger und starrer werden.[103] Dazu gehört das mystifizierte Bild Husseins und seiner ehrenhaften „Notfallreaktion“ in Kerbala als eine Schicht des sozialen Habitus der Schiiten.

 

Zu einer dominanten Schicht des sozialen Habitus der Gläubigen wurde die – als apokalyptischer Sieg Husseins über seine Gegner gefeierte – Niederlage von Kerbala allerdings, weil sie ursprünglich eine Überlebensfunktion für die schiitische Minderheit als Außenseiter unter der etablierten sunnitischen Herr­schaft der Kalifen hatte und später durch die alljährlichen Aschura-Prozessionen und Passionsspiele kultiviert wurde. In diesem Sinne wurde sein als „Sieg des Blutes über den Säbel“ begriffener blutiger Tod als paradigmatischer Bezugs­rahmen der Selbsterfahrung der aufstiegsorientierten Außenseiter sozial vererbt. Dabei wurde vor allem der selbstwertrelevante Aspekt seines „Blutopfers“ dadurch vorbildlich hervorgehoben und etablierte sich als für die Gläubigen verbindliches Schema von Selbstwerten. So reproduzierten sich als sozialer Habitus der folgenden Generationen die gleichen, wenn nicht gar noch stärkeren Verhaltens- und Empfindensmuster, die emotional noch tiefer angelegt und noch starrer sind als die ihrer Vorbilder.

 

Doch diese selbstwertrelevante paradigmatische Selbsterfahrung der Gläubigen in ihrer transgenerational fortschreitenden Blickverengung konnte v.a. deswegen rituell sozial vererbt werden und wirkungsmächtig bleiben, weil die physische Gewalt als Regulationsprinzip ihrer Selbstwertbeziehungen immer noch nicht auf allen Integrationsebenen suspendiert ist. Dieser Zusammenhang wird nach­vollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Menschen auch unter diesen gewaltsamen Umständen der An- und Enteignung der Macht- und Statuschancen für sich und andere etwas von Wert sind und für die selbstwertrelevante Deutung der Ereignisse auf entsprechende Deutungsmuster angewiesen sind, die sie als angemessen erwiesen glauben. Daher erhält der tatsächliche Gang der Ereignisse für die darin verwickelten Gläubigen weiterhin in diesem tradierten Schema von Selbstwerten Bedeutung und Sinn. Einem Schema, das seit nahezu 14 Jahrhunderten durch die Geistlichkeit kultiviert und sozial vererbt wurde.

 

Doch weil die Menschen anscheinend zwischen Gestalt- und Struktur­ähnlich­keiten der Konflikte, in denen sie verwickelt waren bzw. sind, intuitiv, d.h. entsprechend ihrer „somatischen Marker“ unterscheiden konnten, wandelte sich in den „Aschura-Ritualen“ die aktuelle Gestalt ihrer jeweiligen Konfliktlagen entsprechend den strukturellen Analogien zwischen der tradierten Konfliktlage in Kerbala und den prägenden eigenen Erfahrungen der Teilnehmer im Laufe der Jahrhunderte. Konstitutiv waren zudem immer bei diesen strukturähnlichen selbstwertrelevanten rituellen Vergleichen der Gläubigen die manichäischen Erlebensmuster ihrer Konfliktlagen mit einem gerichteten Wandel ihrer Ich- und Wir-Bezüge.

 

War anfänglich die Erfahrung des Konfliktes mit den etablierten Sunniten prägend für die Aschura-Kulte, so wurde dies im segmentär organisierten Iran, in dem der Schiismus mit der Safawiden Dynastie (16. Jh.) zur Staatsreligion erhoben wurde, die Erfahrung der Konflikte mit konkurrierenden städtischen Loyalitätsgruppen. Als Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung als Einzelne und Gruppen und damit als Indikator für die Reichweite ihrer Identifizierung mit­einander wurden dann diese Konflikte in den Aschura-Riten in der Regel nicht nur symbolisch ausgetragen, sondern auch gewaltsam. Seit dem Ende des 19. Jahr­hunderts gingen mit der Verschiebung der Hauptspannungsachse ihrer Be­ziehungen auch allmählich die Erfahrungen mit der kolonialen Herrschaft in die Interpretation ihrer Konfliktlagen mit ein.

 

Der alljährliche Aschura-Ritus ist daher ein einzigartiger Anzeiger für die gerichtete Transformation der sozialen Erfahrung der gesellschaftlichen Haupt­spannungs­achsen, die das Leben dieser Menschen prägen, und für die langsame soziale Verallgemeinerung neuer prägender Erfahrungen solcher Konfliktlagen bei relativ geringfügiger Modifizierung ihres sozialen Habitus, des ‚senso­motorisch-organismisch organisierten Substrates’ ihres Erlebens und Verhaltens. Mit dieser Verschiebung der erfahrenen Hauptspannungsachse ihrer inner- und zwischenstaatlichen Beziehungen veränderte sich der Bezugsrahmen ihrer Selbst­erfahrung als Einzelne und als Gruppen und damit ihre Ich- und Wir-Identität, wie sie sich in den Aschura-Passionsspielen manifestierte. Dabei ent­nahmen sie immer als Teilnehmer der Aschura-Rituale ihren Alltagsrollen den Stoff für das Ritual. So führten sie mit Hilfe der Aschura-Aufführungen ihre eigenen Konflikte und Leiden symbolisch vor, ohne allerdings dabei ihre Alltagsrollen zugunsten ihrer rituellen Identitäten aufzugeben. In dieser Eigenart gesellschaftlicher Reproduktion und Vererbung historisch geprägter Verhaltens- und Erlebensmuster in Kerbala ist es begründet, dass das Aschura-Ritual weiter­hin einen einzigartigen Aufschluss über kollektive Leidenserfahrungen der islamisch geprägten Menschen im Iran und deren gerichtete Veränderung bietet.[104]

 

6.     Zur eskalierenden Mobilisierung der kollektiven Phantasie­vorstellungen als Funktion eines „Doppelbinderprozesses“

 

Nicht die Sehnsucht der Selbstmordattentäter nach dem Tod ist die eigentliche Gefahrenquelle, sondern jene Selbstwert­beziehungen, die diese Sehnsucht hervorrufen. (D.G.)

 

Diese über Jahrhunderte institutionalisierten Verhaltens- und Erlebensmuster der aufstiegsorientierten Außenseiter sind als eine Schicht des sozialen Habitus der islamisch geprägten Menschen nicht nur im Iran permanent virulent, trotz und zuweilen wegen der sich durchsetzenden Modernisierungsprozesse in islamisch geprägten Gesellschaften. Mit dem Zerfall des osmanischen Reiches, dem zu­nehm­enden Verlust der etablierten Position der Sunniten infolge des Kolonialismus, der Entstehung des Staates Israel sowie der damit verbundenen demütigenden Erfahrungen der militärischen Niederlagen der arabischen Armeen in ihren Versuchen der Wiederherstellung ihrer erschütterten Selbstwertbeziehungen beginnen die kollektiven Leidenserfahrungen der Außen­seiter­position sich unter Muslimen zu verallgemeinern. Die Entstehung der Muslim-Bruderschaft[105] (Ichawan al-Muslimin) in Ägypten ist das wahr­nehm­bare Signal der Reislamisierungstedenzen, der Entstehung des militanten Islamismus und der damit einhergehenden Bereitschaft zum obligatorischen altruistischen Selbstmord zur Re-Integration der sich gruppencharismatisch begreifenden Muslime in einem hegemonial fähigen islamischen Reich.

 

Diese Tendenz zur obligatorischen Selbstaufopferung der Gläubigen wurde allerdings unterschwellig reproduziert durch die alltäglichen Gebete, Wall­fahrten und sonstige rituellen Handlungen der Gläubigen. Sie wird somit als die hoch geschätzte und religiös sanktionierte selbstwertdienlichste Verhaltens­strategie sozial vererbt, wird sozusagen zu einem mehr oder weniger bewussten Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Menschen, der Gesamtheit der tradierten und benutzten handlungsleitenden Kenntnisse, Vorschriften und Orientierung bietenden Ideen und Visionen. 

 

6.1. Martyrium als Reaktionsmuster in ausweglosen Situationen, in die islamisch geprägte Menschen geraten

 

„Mord und Selbstmord sind keine ungewöhnlichen Folgen, wenn es keinen anderen Ausweg gibt, um der Erfahrung der Ohnmacht zu entgehen.“[106]

 

Langfristig ging aber diese soziale Vererbung des Martyriums als selbstwert­dienliche Verhaltensstrategie einher mit einer transgenerational fortschreitenden Blickverengung. Entstanden als eine ehrenhafte „Notfallreaktion“ Husseins in einer ausweglosen existentiellen Konfliktlage, wird sie idealisiert und schließ­lich zum dogmatischen Leitbild stilisiert, bis sie so starr und unflexibel geworden ist, dass sie notwendige Abstimmungen des sozialen Habitus der Menschen auf neue strukturelle Entwicklungsprozesse und damit die An­erkennung ihres neuen sozialen Kontextes zunehmend erschwert. Angesichts der sich daraus ergebenden Ermangelung alternativer, Orientierung bietender und handlungsleitender innerer Selbst- und Welt-Bilder werden diese Menschen daher immer wieder in ähnliche ausweglose Situationen hinein manövriert, in denen sich eine zunehmende Verunsicherung als Nachhinkeffekt ihres sozialen Habitus ausbreitet, mit einem entsprechend eskalierenden „Doppelbinder­prozess“: Bis der mit der zunehmenden Verunsicherung einhergehenden existentiellen Angst schließlich nur noch durch den Rückgriff auf ältere, primitivere „Notfallreaktionen“ zur Sicherung des eigenen Überlebens begegnet werden kann.[107] Notfallreaktionen, das sagt schon der Name, sind keine Strategien zur alltäglichen Lebensbewältigung, sondern außeralltägliche, ange­sichts einer existentiellen Bedrohung zur Sicherung des nackten Überlebens der Menschen abgerufene, Reaktions- und Handlungsmuster. Sie sind evolutionär älter und daher fester verankerte innere Bilder zur Bewältigung von Notfällen als alle anderen Reaktions- und handlungsleitenden Muster. Aktiviert werden sie immer dann, wenn die später entwickelten und meist auch differenzierteren Muster angesichts der durch eine „Annihilationsdrohung“[108] ausgelösten Er­schütterung des Informationsver­arbeitungs­systems bei Menschen nicht mehr abrufbar oder nutzbar sind. Dann reagiert der betreffende Mensch mit einer dieser archaischen Notfallhandlungen, in die auch alle anderen Säugetiere in lebensbedrohlichen Situationen zurückfallen: Flucht oder Angriff. 

 

In seiner kollektiven Ausprägung manifestiert sich der Angriff als Krieg, wozu den Islamisten die erforderlichen Machtressourcen fehlen. Würden sie aber die Flucht ergreifen oder sich nur noch um ihre persönlichen Belange kümmern, be­deutete das die Auflösung ihres affektiv besetzten islamisch geprägten Gemein­wesens. Weil ihnen weder eine Flucht angesichts ihrer Ich-Wir-Balance zugunsten Ihrer Wir-Identität möglich ist, noch ein Angriff, aufgrund der un­über­windbaren Machtdifferentiale zu ihren Ungunsten, werden ihnen entweder soziale Apathie oder unterschiedlichste Formen so genannter „Übersprungs­handlungen“[109] nahe gelegt, wozu auch die mit der Verschmelzungsphantasie der Selbstmordattentäter einhergehende „Ich-Entgrenzung“ und ihre auto­destruktiven Tendenzen gezählt werden können. 

 

In solch einer ausweglosen Situation stehen die islamisch geprägten Menschen wie fast alle Menschen zumindest in einem Entscheidungsdilemma. Sie müssen abwägen, was ihnen wichtiger ist: ihr nacktes Überleben oder das, was dieses Leben in ihren Augen erst lebenswert macht. Zu Selbstmordattentaten werden manche von ihnen allerdings getrieben durch die seit vierzehn Jahrhunderten sozial vermittelten und durch eigene Erfahrungen so stark gebahnten und deshalb noch immer wieder abrufbaren inneren Selbst- und Welt-Bilder, die sie an der effektiven Umsetzung einer „Notfallreaktion“ auf eine existentielle Gefährdung zur bloßen Sicherung ihrer physischen Existenz um jeden Preis hindern. Ihnen steht in solchen Momenten nicht nur das Bild eines drohenden Verlusts von Hab und Gut, von Normen und Werten oder von sozialen Bindungen vor Augen. Bei ihnen sind anscheinend diese eigenen, sozial ver­mittelten und im Lauf des eigenen Lebens erworbenen selbstwertrelevanten Selbst- und Welt-Bilder sogar so stark und so stabil affektiv verankert, dass sie als handlungsleitende Muster die Aktivierung einer zur bloßen Rettung des eigenen Lebens notwendigen Notfallreaktion unterdrücken. Deshalb sind sie eher bereit, ihr physisches Leben zu opfern, als darauf zu verzichten, was ihnen lieb und wert ist.[110]

 

Der islamistische Selbstmordattentäter kann sich nicht für eine konsequente Umsetzung einer lebensrettenden Notfallreaktion angesichts der bestehenden Machtdifferentiale entscheiden, weil ihm dabei all das verloren gehen würde, was sein Leben bisher lebenswert gemacht hat – seine als göttlich hoch geschätzte normative Ordnung seiner Gesellschaft. Er würde ansonsten nicht nur un­wiederbringlich die Achtung seiner Glaubensgenossen verlieren. Am schlimmsten wäre für ihn jedoch der Verlust der Selbstachtung, den er aushalten müsste, wenn er sich selbst auf Kosten dessen retten würde, was ihm lieb und wert ist – seine Ich- und Wir-Ideale, die er dabei verleugnen müsste. Sein Selbstbild wäre nicht mehr mit dem in Deckung zu bringen, was er getan und wie er gehandelt hätte. Kein Mensch kann über längere Zeit mit einem solchen inneren Widerspruch und dem dadurch in ihm ausgelösten Gefühl von Scham und Selbstzweifel leben, geschweige denn ein Islamist, dessen Balance der Ich- und Wir-Identität zugunsten seines idealisierten Selbstbildes neigt und dessen Vorbild Mohammed oder Hussein ist. Ihm bleibt in solch einer Situation nur seine eigene physische Hingabe als die einzige Alternative, sollte er das gesamte Bild nicht in Frage stellen, das er sich bisher von sich selbst gemacht hat, in dem all das enthalten ist, was ihm bisher wichtig war, und das sein bisheriges Fühlen, Denken und Handeln bestimmt hat. Solch ein Zusammenbruch des Selbstbildes ist für keinen Menschen lange auszuhalten. Jeder Gedanke, jede Idee, jedes Bild, alles, was einem solchen Menschen nun in den Kopf kommt oder ihm eingeredet wird, kann ihm allzu leicht wie ein Halt bietender Rettungspfahl erscheinen. An dem versucht er nun mit aller Macht das führerlos gewordene, auf sturmge­peitschter offener See dahin treibende Schiff seines gekenterten Selbstbildes festzuzurren. Die Mobilisierung der latenten Bereitschaft der islamisch ge­prägten Menschen zum Selbstmordattentat im Sinne eines ‚Märtyrer­todes’ ist Funktion solch einer traumatischen Situation der Bedrohung der normativen Struktur ihrer Gesellschaft und/oder ihrer gruppen­charismatischen ‚Souverä­nität’, in die sie angesichts der bestehenden Machtbalance zu ihren Ungunsten geraten sind. Dass andere Menschen diesen scheinbar zufälligerweise gefundenen und realitätsfremden Rettungspfahl als Hirngespinst, als Wahn­gedanken, Wahnidee oder Wahnbild bezeichnen und darin kein brauchbares, handlungsleitendes und Orientierung bietendes Selbst- und Welt-Bild erkennen können, macht die Situation für sie nicht besser. Im Gegenteil! Weil sie nichts anderes als diesen Pfahl zur Stabilisierung ihres Selbst, zur Einordnung ihrer Wahrnehmung und zur Lenkung ihrer Gedanken und Handlungen besitzen, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sich mit aller Macht daran zu klammern. Je mehr sie die anderen deshalb ablehnen oder verhöhnen, desto intensiver müssen sie  sich an genau diesem, Halt bietenden und dabei immer übermächtiger werdenden Bild festhalten und orientieren.[111]

 

6.2. Martyrium als Ohnmacht-, Scham- und Verzweiflungsreaktion gegen die seblbstwertbedrohliche Gefahr

 

„Erst wenn wir verstehen, weshalb und wovor Menschen Angst haben und was mit ihnen passiert, können wir nach geeigneten Auswegen suchen“[112]

 

Ihre  Sehnsucht nach einem als ewig gedachten Leben im Paradies im Sinne eines unwiderstehlichen verhaltenssteuernden affektiven Impulses wird also mobilisiert als Folgereaktion auf eine kollektive „Vergewaltigungserfahrung“[113] der Menschen, wie sie sich ergeben kann durch die unmittelbare Fremd­herr­schaft oder/und vermittelt durch die Gefährdung der normativen Struktur ihrer Gesellschaft durch Modernisierungsprozesse als Funktion der Globalisierung der Zivilisationsmuster der machtstärkeren Staatsgesellschaften. In beiden Fällen führt die Erfahrung dieser als unabwendbar erlebten Gefahr der Unter­drückung der sich charismatisch begreifenden Wir-Gruppe und der eigenen affektiv besetzten sozialen Existenz zu einer Überflutung von feindlichen, zunächst unbewältigbar erscheinenden Reizen und damit zu destabilisierenden Auswirkungen auf die im Gehirn angelegten neuronalen Verschaltungen. Diese Destabilisierung der höherstufigen kognitiven Prozesse führt zur Mobilisierung der kollektiven Phantasievorstellungen der betroffenen Menschen im Sinne der Verschiebung der Figuration der Schichten ihres sozialen Habitus zugunsten einer Art weniger kontrollierten Gefahrenabwehr der „Vergewaltigten“. Damit geraten sie in einen eskalierenden Doppelbinder­prozess, einen „Teufelkreis“ der unkontrollierbaren Stressreaktion: Je bedrohter sie sich in einer ausweglos erlebten Situation fühlen, desto phantasiegeladener werden ihre Situations­vorstellungen, die zum weiteren Verlust ihrer Kontrollchancen führen. Dieser sich in unangemessenen Abwehrmaßnahmen manifestierende Kontrollverlust erhöht seinerseits ihre Gefährdung in Gestalt der selbtwertbedrohlicheren Reaktionen der Sie-Gruppe, die zur Verstärkung des Phantasiegehalts ihres Erlebens der Ereignisse und damit schließlich zur weiteren Eskalation der damit verbundenen selbstmörderischen destruktiven Verhaltenstendenzen führt.

 

Eine solche ‚posttraumatische Stressverarbeitungsstörung’ entsteht, wenn die antizipierten oder real ablaufenden Ereignisse nicht bloß bedrohliche Ausmaße anzunehmen scheinen. In diesem Fall wären Menschen alarmiert und würden nach einer Möglichkeit suchen, die Bedrohung abzuwenden, das Problem zu lösen. Wenn aber die bedrohliche Situation wie im Falle einer militärischen Okkupation der islamisch geprägten Gesellschaften oder einer Bedrohung der normativen Struktur ihrer Gesellschaft als Funktion der Modernisierung so ausweglos erscheint, so dass man sie weder ignorieren noch ihr entkommen kann, dann ist es mit der kontrollierbaren Stressverarbeitung vorbei. Aus der anfänglichen Angst werden Verzweiflung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die körperlich ablaufende Stressreaktion ist nicht mehr aufhaltbar, sie ist un­kontrollier­bar geworden. Vergeblich suchen Menschen noch immer nach einer Lösung oder warten darauf, dass ein Wunder geschieht und alles wieder so wird, wie es vorher war. Da solche Wunder selten geschehen, bleibt ihnen schließlich nichts anderes übrig, als sich ihrem unabwendbaren Schicksal zu fügen[114] – wie Hussein, der „Fürst der Märtyrer.“

 

6.3. Zu strukturellen Ähnlichkeiten einer „Selbstaufopferungs-Mentalität“ der islamisch geprägten Menschen jenseits ihrer Gestalt-Unterschiede als eine der Schichten ihres sozialen Habitus

 

Diese tradierte selbstwertdienliche autodestruktive Strategie der islamisch ge­prägten Menschen erschwert ihrerseits die Fähigkeit bei den sich vergewaltigt fühlenden Menschen, den – gemessen an eigenen Idealen – erfahrenen sozialen Ab­stieg der eigenen Wir-Gruppe in die eigene Lebensgeschichte integrieren zu können und die Bereitschaft, diese selbstwertbedrohliche Erfahrung zu ‚ver­schmelzen’ und zu betrauern. Diese Bereitschaft setzt eine Fähigkeit zu trauern voraus,[115] deren angemessene Entwicklung aber aufgrund dieser Tradition der Entwicklung der Macht- und Statusverhältnisse hinterher hinkt. Auf diese Weise wird die Integration der Realität der traumatisierenden Erfahrung des sozialen Abstieges ihrer sich charismatisch empfindenden Wir-Gruppe blockiert. Als eine Art Nachhinkeffekt des sozialen Habitus wird somit die Möglichkeit vertan, diese schmerzhafte Erfahrung als eigene ‚unglückliche Lebensgeschichte’ los­zu­lassen, und sich dabei nicht mehr als Opfer zu fühlen.

 

Mangels einer realitätsangemesseneren zukunftsorientierten Alternative, steht den sich in unentrinnbarer selbstwertbedrohlicher Situation befindlichen islamisch geprägten Menschen die sprachlich schwer fassbare Botschaft der verwirrenden Verhaltensmuster eines Selbstmordattentäters vor Augen – ‚lieber Tod als Schande“.  

 

Dieser Mechanismus manifestiert sich in strukturellen Ähnlichkeiten einer „Selbstaufopferungs-Mentalität“ dieser Menschen jenseits ihrer Gestalt-Unter­schiede als eine der Schichten ihres sozialen Habitus, die hier am Beispiel der Iraner kurz dargestellt wird. Diese auf Herstellung, Aufrechterhaltung, Ver­teidigung oder Ausbau der Selbstwertbeziehungen zugunsten der islamisch geprägten Menschen als Einzelne und Gruppen gerichtete Selbstopfer-Mentalität ist mit dem entsprechenden Leidenscharisma inzwischen emotional so tief ver­wurzelt, dass sie sich sogar zu einem säkularisierten Leitgedanken der vor­revolutionären marxistisch-leninistischen Aktivisten weiterentwickelte. Dies manifestiert sich nicht nur in ihrer gemeinsamen Verherrlichung des „bewaff­neten Kampfes“ als Regulationsprinzip der Selbstwertbeziehungen und damit einhergehendem Mittel zum Austragen inner- und zwischenstaatlicher Ziel­konflikte. Sie wird auch dokumentiert in den strukturellen Ähnlichkeiten der Testamente der Islamisten und der „marxistisch-leninistischen“ Guerilla-Kämpfer, die anhand eines Vergleichs der Testamente zweier Mitglieder der „Volksfeda’in“ feststellbar sind.[116] Verwechselt man nicht die Gestalt- mit strukturellen Ähnlichkeiten der Testamentsarten und Testatoren, finden sich chiliastisch geprägte inhaltliche Parallelen, die freilich in scheinbar grund­verschiedenen Weltanschauungen wurzeln. Sie erscheinen als unterschiedliche ideologische Formen einer gruppencharismatischen Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung paradiesischer Glückzustände auf Erden, kurz eines ‚nativistisch’ geprägten ‚Chiliasmus’.[117]

 

Es ist nicht nur die Faszination der Destruktivität von Husseins Ich- und Wir-Idealen, die ihn zum Vorbild aufstrebender schiitischer Außenseiter machte. Sie identifizieren sich nicht nur mit ihm, weil er angesichts seiner verhältnismäßig geringen Machtchancen als Nachkomme des Propheten „eher zu sterben bereit war als sich zu ergeben“. Sie sind fasziniert von seiner Opferbereitschaft vor allem wegen der strukturellen Ähnlichkeit ihrer eigenen Gefühlslage in einer spezifischen Beziehungsfalle angesichts einer jahrhundertelangen Geschichte der „orientalischen Despotie“ und des damit einhergehenden geringen Grads sozialer Durchlässigkeit, wie sie sie auch in den gegenwärtigen zwischen­staat­lichen Beziehungen ähnlich erleben. Es ist die Erfahrung der Dynamik dieser traumatischen Beziehungsfalle angesichts unüberwindbarer Macht­differentiale, dieses Ausgeliefertseins als Untertanen, ohne regulierte Aufstiegschance in den islamisch geprägten Gesellschaften, die Gewalt zum sozial akzeptablen Regulations­prinzip der Selbstwertbeziehungen und damit Hussein zur Verkörpe­rung eines selbstwertdienenden Verhaltensmusters der Schiiten machte. Mit der ’Usurpation’ als dominante Form der An- und Enteignungsform der Macht- und Status­quellen in den islamisch geprägten Gesellschaften wurde schon unmittel­bar nach dem Ableben des Propheten und bei seiner Nachfolgeregelung der bewaffnete Kampf für die „Herstellung der Gerechtigkeit“ und damit auch die Opferbereitschaft im Kampf der „Wahrheit gegen die Lüge“ legitimiert. Mit diesem manichäischen Weltbild, das einhergeht mit einer’„Lager-Mentalität’, geht es bei jeder selbstwertrelevanten Konfliktaustragung keineswegs um eine institutionelle Kontrolle der Mächtigen oder um eine gerechtere Partizipation an den Macht- und Statuschancen. Es geht vielmehr um „alles oder nichts.“ Mit dieser destruktiven selbstwertdienlichen Strategie der sich gruppencharismatisch empfindenden Menschen wird gleichsam jeder „orientalische Despot“ mit seinen quasi absoluten Machtbefugnissen herausgefordert, der wiederum in der Verteidigung seiner monopolisierten Macht- und Statuschancen im Sinne einer selbstwertdienlichen Strategie erbarmungslos mit all seinen Machtchancen reagieren muss. Mit jeder folgenden traumatischen Niederlage entsteht ein kollektives Trauma, das (wie oben beschrieben) sozial vererbt wird und die Grundlage einer Großgruppenidentität der Menschen bildet, deren Gemeinsam­keit in der Feindschaft gegen den unbarmherzigen „Usurpator“ besteht. Die Schiiten, d.h. „die Parteigänger“ Alis, entstanden als konfessionelle Außenseiter genauso wie die sonst in der Geschichte der islamisch geprägten Gesellschaften entstandenen „Parteien.“

 

Diesen destruktiven Anspruch teilen heutzutage die schiitischen (Hisbollah in Libanon) und sunnitischen Islamisten („Hamas“)[118] mit den „ML-orientierten „Volksfeda’in“ („fedẳ’i jan-e Khalgh“) im vorrevolutionären Iran genauso wie mit den erfolgreichen Khomeinisten, die all ihre vorrevolutionären Koalitions­partner von der Teilhabe an gemeinsam eroberten Macht- und Statuschancen ausschlossen und zuweilen physisch liquidierten. Diese „Machtmonopolisten“ werden nun wiederum von ihren ausgeschiedenen Gegnern als „Usurpatoren“ bekämpft, mit der Hoffnung auf Monopolisierung der Macht- und Status­chancen. Entscheidend  sind dabei vor allem die posthumen Schuldzuweisungen der Verlierer des Konkurrenz- und Ausscheidungskampfes, Opfer der „Hinter­hältigkeit“, „Lüge“ und grausamen Unterdrückung geworden zu sein. Es ist diese Opfer-Mentalität, die aus einem relativ geringen Selbstreflexionsvermögen heraus ein Leidenscharisma kreiert und sozial vererbt. Darin liegt die strukturelle Gemeinsamkeit der „opferbereiten Märtyrer“ jenseits ihrer Gestalt-Unterschiede.

 

6.3.1. Zum strukturellen Vergleich der testamentarischen Selbstoffen­barungen der islamistischen „Freiwilligen“ des Iran-Irak-Krieges und der säkularisierten oppositionellen „Märtyrer“

 

Dieser Zusammenhang von Gewaltherrschaft, Vergewaltigungserfahrung, Gewalt­bereitschaft und autodestruktiven Tendenzen der Selbstmordattentäter als Gemeinsamkeit der „opferbereiten Märtyrer“ ist jenseits ihrer „ideologischen“ Artikulationsformen u. a. durch die Testamente der „Islamisten“ und „Marxist-Leninisten“ dokumentiert und durch das sich inzwischen verschobene Profil der Selbstmordattentäter praktisch demonstriert. Denn ein Selbstmordattentat ist kein bloßer Selbstmord. Es ist keine zielgehemmte Aggression, die sich gegen den Aggressor wendet. Im Gegenteil: Es zielt vor allem auf die physische Vernichtung der als Feinde definierten Menschen. Allerdings ist diese Aggression angesichts der Vergewaltigungserfahrung der Selbstmordattentäter so überwältigend, so dass er (der Selbstmordattentäter) angesichts der ihm unüber­windbar erscheinenden Machtdifferentiale seine eigene physische Ver­nichtung dabei in Kauf nehmen muss. Die Entladung dieser autodestruktiven Aggression gegen seine als Feinde empfundenen Menschen ist indes möglich durch die Verherrlichung der Gewalt als Regulationsprinzip der Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe, sowie die Verteufelung der eigenen Feinde als Einzelne und Gruppe(n) und eine gruppencharismatische Selbstidealisierung, die mit der Verschmelzungsphantasie des Selbstmordattentäters mit dem Objekt der eigenen Hingabe zu seiner Ich-Entgrenzung und damit zur Überwindung seiner eigenen existentiellen Ängste angesichts des antizipierten eigenen Todes führt.

 

Doch diese strukturelle Ähnlichkeit der Verhaltens- und Erlebensmuster der „Märtyrer“ gegenüber ihren inner- und außerstaatlichen Feinden reproduziert sich als Folge der strukturellen Ähnlichkeit ihrer inner- und zwischenstaatlichen Beziehungen, weil und so lange die Gewalt als Regulationsprinzip zwischen­menschlicher Beziehungen nicht suspendiert ist, wie sie sich in der „Islamischen Revolution“ und des postrevolutionären Iran-Irak-Krieges manifestierte. Der Vergleich der Testamente der islamistischen und säkularisierten „Märtyrer“ dieser inner- und zwischenstaatlichen gewaltsamen Austragung von Ziel­konflikten belegt diesen selbstwertrelevanten Zusammenhang von Gewalt und autodestruktiver Gegengewalt der Vergewaltigten.

 

6.3.1.1. Zu selbstwertrelevanten Selbstoffenbarungsaspekten der Testamente der iranischen „Freiwilligen“ des Iran-Irak-Krieges

 

Die Testamente der iranischen „Freiwilligen“ des Iran-Irak-Krieges, die scharenweise die Minenfelder durch ihren Körpereinsatz räumten, sind wie jeder Kommunikationsbeitrag strukturell geprägt durch ihre Inhalts-, Beziehungs-, Selbst­offen­barungs- und Appell-Aspekte.[119] Doch hier sollen nur mit einer knappen Darstellung einiger wesentlicher Momente der Selbstoffenbarungs- und Beziehungsaspekte der Testatoren einige der wesentlichen Vergleichs­di­men­sionen der islamistischen und säkularisierten Dispositionen zum „Martyrium“ angesichts der Gewalterfahrung hervorgehoben werden.[120]

 

Der hohe Formalitätsgrad der islamistischen Testamente, der zumeist Anlass zur Annahme gibt, sie seien von „oben“ diktiert worden, manifestiert sich nicht nur in ihrem formalen Aufbau. Diese formalisierte äußere Struktur der in Briefform verfassten Testamente, die in ihren einleitenden und abschließenden Teilen eng an juristische Formula des Legats im Erbrecht angelehnt sind, sowie die strikte Reihenfolge der Themata, dokumentieren v.a. den relativ geringen Grad der Individualisierung des sozialen Habitus dieser „Märtyrer“.

 

Für gewöhnlich steht an der Spitze eines Testaments die Koranische „basmala“[121], nicht selten von der persischen Version gefolgt. Bisweilen wird der Gottesbegriff der Testatoren durch eine abgewandelte „basmala“ spezifiziert, – „im Namen des Herrn der Märtyrer“, „im Namen des Herrn der Entrechteten“ – der als Distinktionsmittel den sozialen Selbstoffenbarungs­charakter der „Märtyrer“ hervorhebt, während „shahada“, das mit schiitischen dogmatischen Zusätzen und Elogen von Mohammed bis zum Mahdi[122] versehene selbstwertrelevante Glaubensbekenntnis, die allgemeine Selbstoffen­barung jedes gläubigen Schiiten im Unterschied zu Nicht-Gläubigen betont. Diese allgemeineren und spezifischeren Bezugsrahmen der Selbsterfahrung bzw. Wir-Bezüge der Märtyrer offenbaren die überlagerten Schichten ihres sozialen Habitus. Sie werden fortgesetzt zu allermeist mit einem thematisch assoziativem Koranvers (sehr beliebt sind: Koran 2: 149ff.; 3: 171; 4: 76; 9: 112; 33: 23f.). Oft werden sie begleitet von der persischen Übersetzung oder Paraphrase – ist doch die Beherrschung der Sprache des Propheten ein nicht allgemein zu­gängliches Statussymbol der Gläubigen.

 

Als Ingredienzien des Selbstwertes stehen anstelle des Koranverses oder mit ihm arabische Gebete oder Zitate aus den sunnitischen oder schiitischen Über­lieferungen, Ali- oder Hussein-Worte, Khomeini-Aussprüche oder auch Zitate aus der Mystik zum kämpferischen „Entwerden“ des Ich (des Märtyrers) im Du (Gott). Mit dieser affektiven Besetzung eines gemeinsamen Objektes der Hingabe bis hin zu einer Verschmelzungsphantasie geht nicht nur ein Verlust der Ich-Grenze einher, welche zugleich die Gemeinschaft der todesmutigen Islam­isten als „gott-zentrische“ Menschen reproduziert. Mit diesem disso­ziativen[123] Aspekt einer ‚posttraumatischen Stress-Verarbeitungsstörung’ der in unmittelbaren Kampfhandlungen verwickelten Menschen heben sich die „Frei­willigen“ der „Himmelfahrtskommandos“[124] zugleich von der Mehrheit der  islamisch geprägten Menschen ab, die keine „Selbstmordattentäter“ werden.

 

Ihre Bereitschaft zur „Himmelfahrt“, symbolisiert durch den ihnen ausge­händigten „Schlüssel zum Eingang zum Paradies“, den sie am Hals trugen, bevor sie zu ihrem „Himmelfahrtkommando“ im Sinne von „mêr ãğ“ auf­brachen, ist eine Art „Fugue-Episode“, die ‚peritraumatisch’, also noch während einer traumatischen Schockphase in der Kampfhandlung, stattfindet. Diese „Himmel­fahrt“ der „Freiwilligen“ ist begleitet von einem weiteren, sehr intensiven dissoziativen Geschehen, mit Derealisierung und Depersonalisierung, wie sie sich in den testamentarischen Selbstoffenbarungen der traumatisierten „Freiwilligen“ manifestieren. 

 

Bedenkt man dabei, dass diese „Freiwilligen“ nicht nur traumatisiert wurden durch die plötzliche massive Invasion der irakischen Armee und Besetzung weiter Teile eines zuvor revolutionär befreiten Landes als Objekt ihrer Hingabe, sondern zugleich durch ihre unmittelbaren blutigen Erfahrungen der sehr verlust­reichen Kampfhandlungen an der Front, wird der Stellenwert solcher Derealisierung verständlich. Sie setzt bei ihnen als eine Bewältigungsstrategie in einer ausweglosen Situation ein, in der keine andere mehr hilft, weil sie weder fliehen, noch gegen das ihnen bevorstehendes Unheil ankämpfen können. Doch ihrer Opferbereitschaft stehen ihre diesseits gerichteten affektiven Bindungen entgegen, die sie mit Gottes Hilfe zu überwinden versuchen, denn: Um sich opfern zu können, muss das Leben für sie nicht mehr lebenswert sein, was z.B. wie folgt als Wunsch zum Ausdruck kommt: „O Herr, mache die Welt in meinen Augen verachtenswert und entferne die (Vorstellung von) materiellen Genüssen von mir, die meine Nähe zu dir verhindern.“[125]

 

Mit diesem derealisierenden Überwindungsversuch der eigenen Ambivalenz geht einher eine Depersonalisierung, wie sie durch eine massiv phantasie­gesättigte und fragmentierte Selbstwahrnehmung, testamentarisch dokumentiert wurde: „O Gott, ich möchte, dass mein Körper unter dem feindlichen Kettenfahrzeug zermalmt wird und ich den Widerhall der Zertrümmerung meiner Knochen höre, damit ich Qual erleide und dadurch vielleicht ein wenig von meinen Sünden beglichen wird. (Ich möchte), dass meine Zunge vor Durst trocknet, damit ich weiß, was Hussein, seine Gefährten und sein sechsmonatiges Kind, Ali–Assghar erleiden mussten. O, mein Herr! Es ist genug mit Warten.“[126] Mit dem letzten Wunsch wird ersichtlich, wie sich die anfängliche Angst eines traumatisierten Menschen, selbstentfremdet als freudige Sehnsucht nach Erlö­sung – von eigenen Sünden – empfunden wird. Es ist in der Tat eine adäquate Reaktion eines traumatisierten Menschen, der die gefürchteten, ihm bevor­stehenden Todesqualen mit Hilfe selbstwertdienlicher Phantasien erträglich zu machen versucht, als ob er selbst etwas anders als sein Körper wäre. Diese selbstentfremdete Wahrnehmung und Verarbeitung der Ereignisse, die das Alltagsbewusstsein außer Kraft setzt und den „Freiwilligen“ der Himmelfahrts­kommandos während der Aktion in eine dissoziative Trance versetzt, manifestierte sich schon u.a. bei Imam Hussain, dem Vorbild aller „Frei­willigen“. Wenn Imam Hussein am Frühmorgen seines Martyriums als Vorbereitung zur Schlacht sich erst wäscht und dann mit Moschus einreibt, mit der Vision: „Zwischen uns und den schwarzäugigen Jungfrauen des Paradieses steht nichts mehr, als dass jene Soldaten dort kommen und uns erschlagen“, demonstriert er, wie Derealisierung und Depersonalisierung als Abwehr­mechanismen ablaufen. Dies vor allem, wenn man sich vergegenwärtigt, wie er gestorben sein soll: Nachdem er mehrmals schwer verletzt immer noch nicht stirbt, fällt er erst, als der Befehlshaber der gegnerischen Truppe, „Schamer“, „einen Reitertrupp mehrfach über ihn hinwegpreschen ließ, der ihn in den Boden trampelte, eine nicht mehr erkennbare Masse aus Fleisch und Erde.“[127] Die gleiche selbstentfremdete Wahrnehmung manifestiert sich auch in der testamen­tarischen Anordnung Mohammad Attas, nur Männer an seine Leiche zu lassen und seine Genitalien nur mit Gummihandschuhen zu berühren, obwohl ihm klar sein müsste, dass nach seinem höllischen Einsatz gegen das „World Trade Center“ am 11. September im Cockpit einer mit Kerosin beladenen Boeing nichts von ihm zum Anfassen übrig bleibt.

 

Doch diese Realitätsabwendung manifestiert sich auch in deren selbstwert­dienlichen Bitten an Gott um Vergebung für ihr bisheriges Alltagsleben und Danksagungen für ihre Hinführung auf „Gottes Weg“, den sie nun mit dem Einsatz ihres Lebens konsequent fortsetzen. So z.B. dieser „ipsativ-temporale Vergleich“[128], mit dem der eigene Entwicklungsverlauf des „Freiwilligen“ von einer weltlichen Orientierung bis zu seiner apokalyptischen Weltabgeschieden­heit eines zum Martyrium bereiten Menschen als selbstwertrelevant hervor­gehoben wird: „Im Namen des großen und erhabenen Gottes, der mich mit dem Führungslicht von der Dunkelheit entfernte, als ich bis zum Hals im irdischen Schmutz steckte.“[129]

 

Mit der „merkantilen“ Begründung des Opferganges durch den Märtyrer wird nicht nur die dissoziative Teilhabe an einem Gruppencharisma hervorgehoben. „Wir haben nicht mehr als ein Leben, welches wir auf dem Weg Gottes und der Religion verschenken, mit der Hoffnung auf Gottes Akzeptanz und Zufrieden­heit, hat er doch das Leben und Eigentum der Gläubigen zum Preis des Paradieses gekauft.“[130] Dieser Anspruch wird zudem gerechtfertigt durch die Schilderung der Vorbildfunktion der historischen schiitischen Blutzeugen, sowie mit der Hervorhebung ihres Einsatzes als Kontinuität des schiitischen heiligen Kampfes und Martyriums für die „mustasafin“ („die sozial Schwachen“) der Welt, „der nicht ohne Entlohnung bleiben wird – hat doch Gott gesagt: Wir sind von Gott, für Gott und kehren wir zu ihm zurück“.[131]

 

Diese dissoziativ erhoffte Kompensationsfunktion einer zweifellosen göttlichen Belohnung des eigenen Martyriums scheint dazu zu dienen, ihre unentrinnbare und aussichtslose Lage als „Auserwählte Gottes“ zu überstehen, weil ihnen keine reale Bewältigungsstrategie mehr zur Verfügung steht: „O Gott, wir danken dir dafür, dass du uns nicht zur Gruppe der Missetäter und Abweichler gezählt hast.“[132] Mit ihrer selbstwertdienlichen Derealisierung schützt sich ihr als Selbst empfundenes Informationsverarbeitungssystem, indem ihr psych­isches Erleben die Realität verleugnet.

 

Mit der Frage der „Würdigkeit“ zum Martyrium wird nicht nur die Gewissheit der Aufrichtigkeit der eigenen Motive der physischen Selbstaufgabe – als „Ischtihad“ – überprüft, damit der eigene bevorstehende Tod nicht als Selbstmord – „Intihar“ – sinnlos wird: „(...) und ich hoffe, dass ich akzeptiert werde und mein Martyrium genauso aufrichtig ist wie die vom anfänglichen Islam und von Kerbala“.[133] Sie offenbart zugleich die Bindungsunsicherheit der Menschen, denen selbst ihre angestrebte Bindung[134] mit dem „Absoluten“, dem „einzigen Geliebten“ – ihrem Gott – ungewiss erscheint: “Im Namen Gottes, den ich anbete und vom ganzen Herzen liebe, dessen Bindung jedes Atom meines Daseins anstrebt.“[135]

 

Mit den selbstwertdienlichen Strategien der imamitischen Gehorsamkeitspflicht bis in den Tod im Sinne der obligatorisch empfundenen altruistischen Selbstaus­löschung – „Mein Ziel ist nur Allah und Handeln nach Gottes Gebot und die Verteidigung meines geliebten Landes, sonst nichts.“[136] –, sowie der Erwartung des Endsieges der jeden “Freiwilligen“ und seine Gefährten motivierenden Prinzipien und Ideale wird nicht nur die Valenzfiguration der Märtyrer akzentuiert: „Mit dem Bewusstsein, dass der Islam des Blutes bedarf, damit sein prächtiger Baum Früchte trägt, betrat ich die Front, um dem lieben Islam zu helfen.“[137] Mit diesen Gemeinsamkeiten der phantasiegesättigten Ideale, der Gegner­schaft gegen „Abweichler“ oder „Konterrevolutionäre“ werden in den Testamenten nicht nur jene selbstwertrelevanten Vergleichsdimensionen der „Freiwilligen“ und damit ihre Ausgerichtetheiten aufeinander und entsprechende Bindungen aneinander betont, sondern auch die Figuration der affektiven Valenzen der zum Martyrium bereiten Menschen als charismatischer Gruppe hervorgehoben. Diese Gruppen-Selbstliebe manifestiert sich in ihrem Wir-Bild und Wir-Ideal, die genauso ein Gemenge von gefühlsgeladenen Phantasien und realistischen Vorstellungen ist, wie ihr Ich-Bild und Ich-Ideal. Doch weil ihre Phantasie und Realität angesichts ihrer Machtchancen so massiv in Widerspruch zueinander geraten, wird ihr imaginärer Gehalt besonders akzentuiert. Sie bleiben jedoch in einem gemeinsamen Bezugsrahmen, denn so wie ihre affektiven Phantasien im Falle der Persönlichkeitsfunktionen wie Ich-Bild und Ich-Ideal individuelle Erfahrungen eines Gruppenprozesses verarbeiten, so sind ihr Wir-Bild und Wir-Ideal individuelle Versionen kollektiver Phantasien.[138] Nichtsdestotrotz dokumentiert sich auch hier die enge Verknüpfung ihres persönlichen und ihres Gruppenstolzes. Selbst wenn ihr sozialer und persönlicher Stolz sich in Gebetsform offenbaren, wie in Anrufung an Gott, Mahdi und „Imam“, so ist ihr Gebet doch zugleich Preis- und Dankgebet für die selbstwertdienlichen Errungenschaften und für das Erlebendürfen der ‚Islamischen Revolution’ als Verschiebung der bestehenden Selbstwert­beziehungen im Sinne der Herstellung ihrer positiven Selbst-Bewertung, deren Aufrechterhaltung, Verteidigung und Ausbau nun mit dem Einsatz des eigenen Lebens gegen den äußeren Feind garantiert werden sollen. Hier wird angesichts des bevorstehenden Todes eindrucksvoll dokumentiert, dass Stolz als positive Form der Selbstbewertung von Menschen als Individuen und Gruppen auf einer Vielfalt von Eigenschaften oder Fertigkeiten beruhen kann. Und dieser Wert, den man sich als Gruppenmitglied oder als Person beilegt, ist ein Grundelement der menschlichen Existenz. Er spielt eine zentrale Rolle in den unablässigen Versuchen von Menschengruppen, eine hohe Rangstellung unter ihresgleichen zu erlangen oder aufrechtzuerhalten, und zwar eine höhere Stellung als potentielle Konkurrenten, weswegen diese Versuche sich in Gestalt von Ethnisierung, Konfessionalisierung oder Nationalisierung sozialer Konflikte manifestieren. Dasselbe Bedürfnis nach Bestätigung oder Steigerung des eigenen kollektiven Wertes in einer Gruppenhierarchie findet auch hier seinen Ausdruck in dem Bestreben, durch Wort und Tat die Vorzüge der eigenen Gruppe und die Mängel anderer hervorzuheben.[139] Deswegen ist der Selbst­offenbarungs- und Beziehungsaspekt der Testamente auch vielfach ihr Kernstück, „geschrieben mit leidenschaftlichem Engagement und prall voll von Motiven für das freiwillige und freudig bejahte Lebensopfer.“[140]

 

6.3.1.2. Zur „Selbstaufopferungs-Mentalität“ als Aspekt des sozialen Habitus der säkularisierten Opposition

 

Zwar nahm mit der Islamisierung der Revolution – die sich zunächst als „anti­imperialistischer Kampf“ aller oppositionellen Gruppierungen „gegen das Schah­regime“ formierte und schließlich zum Sieg der islamistischen Formation der Opposition führte –, das Martyrium als Manifestation des Hegemonial­rausches der zumeist jugendlichen Islamisten massenhaften Charakter an, war doch das Durchschnittsalter der Iraner zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre. Aber für die Aktualisierung der Verherrlichung des Martyriums war die dem CIA-Putsch (1953) folgende Militarisierung der brutal verfolgten und in die Enge getriebenen Opposition vor allem säkularer linksgerichteter „Volksfeda‘ien“ ver­antwortlich, die mit dem entschlossenen Einsatz ihres eigenen Lebens vor der Revolution die Verwundbarkeit des Schahregimes demonstrieren und so die ver­ängstigten ‚apathischen Massen’ für einen revolutionären Aufruhr mobilisieren wollten.[141] Die Testamente zweier ihrer Mitglieder, die noch unter dem Schahregime gefoltert und hingerichtet wurden, des Dichters und Journalisten Khosrou Golsorkhi und seines Genossen Karamallah Daneschiyan sowie ihre Verteidigungsreden vor dem Militärtribunal, bieten eine geeignete Vergleichs­basis mit den islamistischen Selbstoffenbarungen, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Einstellungen herauszuarbeiten. Mit diesen säkularen Über­lieferungen der Verherrlichung des Martyriums wird ersichtlich, wie und warum unterhalb einer dünnen Schicht säkularisierter Ideologien eine affektiv tiefer verankerte, ältere Schicht des sozialen Habitus der islamisch geprägten Menschen die revolutionäre Selbstaufgabe motivierte.

 

Mit dem heroisierten Einsatz ihres Lebens in einem ungleichen Kampf wurden vor der „Islamischen Revolution“ „Tapferkeit“ und „Opferbereitschaft“ zu den selbstwertdienlichsten Tugenden der Menschen, die mit ihrem sozialen Geltungs­bedürfnis angesichts zunehmender funktionaler Demokratisierung als Außenseiter soziale Träger einer islamisierten Revolution und „Freiwillige“ eines „Verteidigungskrieges“ wurden. Doch dies bedeutet keineswegs eine bruchlose Kontinuität des Selbstkonzepts und der Selbstbewertungsmaßstäbe der sozialen Träger einer islamisierten Revolution, wie sich in zwei Testament­typen dokumentiert.

 

Zweifellos bestehen einige formale und inhaltliche Unterschiede zwischen den säkularen und islamistischen Testamenten, unterscheiden sich doch die säkula­risierten, linksgerichteten rebellischen Intellektuellen nicht nur durch ihren Bildungs­grad, sondern vor allem durch den Grad ihrer Individualisierung des sozial vererbten Habitus von der Masse der islamistischen „Freiwilligen“ des Krieges. Deswegen fehlt bei ihren Testamenten auch Stereotypisches und Formel­haftes, die ebenfalls nicht, wie bei den Islamisten sehr oft üblich, in thematische Abschnitte zerfallen. Die Erwähnung der Angehörigen, Verwandten und Freunde unterbleibt, weil sie sich von diesen sozialen Integrationsebenen, die durch unmittelbare Bindung der Menschen miteinander konstituieren, emotional bereits weitgehender entbunden haben. Es ist die unterschiedliche Reichweite ihrer Identifizierung mit Menschen unabhängig von deren Gruppen­zu­gehörigkeit im nationalen Rahmen, die sich in diesen Unterschieden manifestiert. Es ist aber zugleich der Säkularisierung ihres Selbstkonzeptes zu verdanken, dass in ihren Testamenten “kein Beten, kein Bitten, kein Lobpreisen, kein Verwünschen, keine metaphysische Bindung“[142] zu finden ist. Durch die Säkularisierung ihres Selbstbegriffes als „Avantgarde des Volkes“ unterscheidet sich ihr charismatischer Bezugspunkt, ihre dualistische Personifizierung des Guten und Bösen sowie ihre Dämonisierung der „Sie-Gruppe“ von den islamistischen. Aus diesem Grunde teilen sie mit ihnen ein sendungsbewusstes Gruppencharisma, das trotz ihrer säkularisierten Prägung für Außenstehende als anmaßende Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit eines „Heilparteienturms“ erscheinen muss. Übersieht man diese strukturellen Gemeinsamkeiten, entgehen einem „die inhaltlichen Parallelen, die freilich in grundverschiedenen Welt­an­schau­ungen wurzeln.“[143] Wegen der Zivilisationsdifferentiale beider Gruppen, die auch den verschiedenen Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung und Welt­an­schau­ungen zugrunde liegen, betont Golsorkhi bereits im ersten Satz seines Vermächtnisses, in erster Person sprechend, er sei iranischer „Volksfedã´i“. Damit bezeichnet er nicht nur die Zugehörigkeit zur betreffenden politischen Gruppierung. Er hebt auch damit seine obligatorisch empfundene Aufopferungs­bereitschaft für das Volk hervor. Mit dieser Verschmelzungsphantasie und Ich-Entgrenzung unterstreicht er im Angesicht eines unausweichlich bevorstehenden Todes seinen Willen und seine Bereitschaft, fürs Überleben und Wohlergehen seines Volkes, des Objektes seiner Hingabe, sein Leben einzusetzen. Mit dem „unerschütterlichen Todesmut“ teilt er zwar mit den islamistischen Testatoren die affektive Bindung an ein selbstwertrelevantes und Sinn vermittelndes „Selbst­objekt“. Seine emotionale Bindung bezieht sich zwar nicht auf einen „Absoluten“, einen einzigen Gott eines „gott-zentrischen“ Menschen, mit der Humanisierung seines „Bindungsobjektes“ vergöttert er jedoch die Menschen als „Volk“. Seine Liebe und tiefe Sympathie zu den so idealisierten Menschen ist das alles, sein Denken und Handeln bestimmende Motiv, geradezu seine „Legitimation“, wie er sich ausdrückt. Auch er nennt eine besondere Zielgruppe, die er zuallererst mit seinem Blut erlösen will, nämlich die hungrigen und bar­füßigen „Massen“ Irans. Er bezeichnet sie aber nicht mit dem Koranischen „mustasafin“. Wie die islamistischen Testamente, die als selbstwertdienliche Strategie den eigenen Gegner stigmatisierend ansprechen, gilt seine Anrede fast im gesamten Testament den „Herren Faschisten“, die so entmenschlicht und deren Liquidierung damit legitimiert wird. Was Golsorkhi seinen Adressaten mit einer sinnstiftenden, historischen Gewissheit prognostiziert, hat eher den Charakter einer Prophezeiung, einer Beschwörung ihres Schicksals, d.i. ihrer Niederlage und des unabwendbaren Sieges des Volkes. Einem teleologischen Geschichtsbegriff entsprungen, ohne den sein politisches Leben und Sterben, ja seine Mission ihm wert- und sinnlos erscheinen müsste, schließt er gedanklich an die Tradition der mahdiistischen Wiedergeburt der islamistischen Testamente an, die ebenfalls die Form der Ankündigung des Erlösers oder seiner Androhung gebrauchen. Was sich allerdings unterscheidet, ist ihre Vorstellung vom Erlöser.

 

Mit der sinnstiftenden Gewissheit eines bevorstehenden Sieges eigener Ich- und Wir-Ideale gehen Beteuerungen einher wie die, aus jedem vergossenen Bluts­tropfen erhöben sich Hunderte weiterer Opferwilliger, im Sinne des unauf­hör­lichen Früchtetragens des Selbstopfers. In Gestalt dieser geteilten grenzenlosen Zuversicht in den Sieg ihrer gerechten Sache teilen die beiden Testatoren die Antizipation des Triumphes des bedrängten Volks über ein Unrechtsregime, den „Usurpator“, wobei die einen den Gott, die anderen die „Geschichte“ als ihren Zeugen bemühen. Beide fühlen sich als solche Vollstrecker des Willens Gottes bzw. der „Geschichte“, die sie nur auf ihrer eigenen Seite wähnen. Damit partizipieren sie an Gottes Allmacht bzw. an der Autorität der unaufhaltsam er­scheinenden „Geschichte“. Da die aufstiegsorientierten säkularisierten Rebellen als „Logik der Emotionen“ solch eine phantasierte Machtsteigerung als Wert­steigerung empfinden, begegnen sie ihrem eigenen bevorstehenden Tod auf dem Weg der Sanktionierung der „Geschichte“ genauso mit einem triumphalen Gefühl gegenüber ihren zwar machtstärkeren, aber historisch zum Untergang verurteilten Gegner, wie ein Islamist als Vollstrecker von Gottes Willen auf seinem Himmelfahrtkommando. Ersetzt der säkularisierte aufopferungsbereite Rebell „Gottes Willen“ durch einen historischen Determinismus, bedarf er keiner religiösen Begründung seiner selbstwertdienlichen Strategie in seiner ausweglosen Situation.

 

Doch obwohl in den säkularen Testamenten der linksintellektuellen Rebellen eine religiöse Begründung ihrer selbstwertdienlichen Strategie fehlt, ist doch das emotional tiefer verankerte religiöse Gepräge immer noch bei ihnen virulent, wie sie dissoziativ angesichts ihrer äußersten unentrinnbaren Bedrohung zum Ausdruck kommt. Der unbewusste Rückgriff auf frühere Schichten des sozialen Habitus, auf die sozial vererbten Selbst- und Welt-Bilder, konstituiert die selbstwertdienlichen Selbstoffenbarungen, wie sie in den Testamenten und Ver­teidigungsreden dokumentiert sind. Handlungssteuernd manifestiert sich diese Schicht des sozialen Habitus der islamisch geprägten Intellektuellen z. B. in der von Golsorkhi auf Band aufgezeichneten Verteidigungsrede vor dem Militär­tribunal, in der er seine Einstellung zum Islam umreißt. Danach hat er in der „Schule des Islam“ (maktab-e Islam) nach sozialer Gerechtigkeit geforscht, kam darüber zum Sozialismus und bezeichnet sich selbst vor Gericht als Marxist-Leninisten. Gleich vielen religiösen Modernisten gilt ihm die islamische Früh­zeit, insbesondere die „schiitische Frage“, d.h. die religiös geprägte Etablierten-Außenseiter-Dynamik als zeitlose Problematik und als Muster, weil es tradierte Ideen und Visionen von dem repräsentiert, was islamisch geprägte Menschen als Einzelne und Gruppen in einer Außenseiterposition sind, was sie erstrebenswert finden und was sie vielleicht einmal erreichen wollen. Sie brauchten einst diese Bilder, um Handlungen zu planen, Herausforderungen anzunehmen und auf Bedrohungen zu reagieren. Für den traumatisierten Golsorkhi sind angesichts der ihm bevorstehenden Todesstrafe „Ali“, „Abu Darr“ und „Salmans“ sozial­istische Prototypen, weil sie als „Archetypen“ sein Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Husseins übergeschichtliche Rolle interpretiert er wie Khomeinisten aus demselben Grund, weil die „verinnerlichten“ Bilder, die das Leben zeichnet, länger leben als die jeweiligen Lebensformen, deren Lebensweg sie bestimmt haben und in Zukunft weiter bestimmen werden.[144] Er identifiziert sich ebenso wie die islamistischen Testatoren mit Hussein, wagt, „in hoffnungsloser Minder­zahl“ das Leben aufs Spiel setzend, die Konfrontation mit dem gleichfalls scheinbar zeitlosen Repräsentanten des Hofes, der Armee, der Regierung und dem Mächtigen – der „Yazid“- Repräsentanz. Das ist auch der Grund, warum Golsorkhi hinzufügt, dass das Volk Husseins Weg wiederholt habe und es weiter tun werde, nicht ohne anzumerken, dass in einer marxistischen Gesellschafts­ordnung der wahre Islam als „Überbau“ eine Orientierungshilfe darstellen könne. Der „wahre“ Islam ist für ihn derjenige Alis, mit dessen „Partei“ er sich immer noch identifiziert. Die Wertschätzung des Islam bei Golsorkhi fußt offensichtlich auf seiner Überzeugung, eine Reihe sozialreligiöser Verhaltens­muster der islamischen Frühzeit, darunter speziell solche, die für die frühe Schia als charakteristisch tradiert oder als solche heute aufgefasst werden, seien so menschlich-real, lebensnah und unvergänglich, dass sie sich mit dem gemein­eigentümlichen „natürlichen“ Ethos deckten. Es wäre aber eine Unterstellung, anzunehmen, dass sein geschichtlicher Vergleich bloß instrumentellen Charakter ge­habt hätte und eine Situationsidentität suggerieren sollte, wodurch seine Inquisitoren automatisch als „Yazids“ diskreditiert und seine eigene Ohnmacht als Spiegelbild der Verlassenheit Husseins erkannt werden sollte.[145] Dieser Ver­gleich ist ein Rückgriff auf jenes handlungsleitende, Orientierung bietende innere Muster, das er als eine Schicht seines sozialen Habitus mit den islam­istischen Kandidaten der Himmelfahrtkommandos teilt. Es bringt ihn dazu, genauso wie sie zu denken, zu empfinden oder zu handeln, wie sie das immer tun, wenn diese „inneren“ Muster aktiviert werden. Es sind strukturell ähnliche Situationen, die diese Muster aktiveren, nämlich bedrohliche und zugleich aussichts­lose Konfliktlagen angesichts der bestehenden enormen Macht­differentiale zu ihren Ungunsten.

 

Als ihre „zweite Natur“ sind es im Habitus dieser islamisch geprägten Menschen herausgeformte, ihr Denken, Fühlen und Handeln bestimmende Muster, die dafür sorgen, dass das Testament von Golsorkhis Genossen und Mitangeklagten, Daneschiyan, dieselbe Gewissheit in seiner Gesamtperspektive atmet. Dane­schiyan sieht in der rückhaltlosen Selbsthingabe, die das iranische Volk seinen Söhnen zugemutet hat, Unterpfand und Gewähr für eine bessere Zukunft. Auch hier, wenngleich nicht vordergründig religiös motiviert, führt der Weg zum Heil durch das Leiden. Diese selbstwertdienliche leidenscharismatische Strategie besteht unter anderem in Akten des Opfertums, der Selbstentsagung und des Widerstandes. Ohne solche Eigenschaften bzw. Handlungen als selbstwert­relevante Vergleichsdimensionen bzw. Standards ist für ihn keine selbstwert­dienliche „Befreiungsbewegung“ denkbar und erfolgreich. Somit ist jeder „Aufrichtige“ gehalten, mit seinem Lebenseinsatz zum Gelingen dieser „Befreiungs­bewegung“ beizutragen. Die eigene Auslöschung gilt wie in den islamistischen Testamenten als „unser geringstes Geschenk“ für den Sieg des Volkes, weil er intuitiv weiß, dass das Schicksal von Einzelnen weitgehend durch ihre eigene und die Identifizierung anderer, von der Beschaffenheit und Lage einer ihrer Gruppen abhängen kann. Als höchst selbstwertrelevante Form der eigenen Identifizierung ist auch hier der altruistische Tod, der bewusst in Kauf genommene Tod ein Bindeglied zu einer besseren, leidlosen und lichten Welt, weil er mit dem Tod seinen unerträglich gewordenen Schmerz zu verlieren glaubt. Auch hier lockt dieses Licht am Ende eines Tunnels, ihm gilt letztlich die freudige Selbsthingabe. Aber es ist weit davon entfernt, Symbol spiritueller Erleuchtung und Zufriedenheit zu sein; mit diesem dissoziativen „Tunnel­blick“,[146] mit dieser Derealisierung nicht integrativ wahrnehmbarer Realität der Macht- und Stausdifferentiale als Traumaeffekt, tritt jedes Moment der Seligkeit des individuellen Selbst völlig zurück: Es ist, als verströme es, das Selbst, sich im Massenglück und lebe darin weiter.[147] Dieser Verlust der Ich-Grenze im Sinne einer Verschmelzungsphantasie des Einzelnen mit „dem Islam“, „dem Führer“, „dem Volk“ und anderen möglichen affektiv besetzten kollektiven Selbst­konzepten, entsteht durch eine extreme Verschiebung der Balance zwischen Ich- und Wir-Identität zugunsten der Gruppen-Selbstliebe, der als Trauma­effekt zum Martyrium treibt, weil und so lange das Schicksal von Individuen mehr oder weniger durch ihre eigene und die Identifizierung anderer, von der Beschaffenheit und Lage einer ihrer Gruppen abhängt. 

 

Es sind also strukturell ähnliche, schamvoll als unentrinnbar empfundene Situationen, die diese selbstwertdienlichen Verhaltensmuster aktiveren, weil der tatsächliche Gang der Ereignisse für die Menschen, die darin verwickelt sind, Bedeutung und Sinn erhält durch seine selbstwertrelevante Funktion der Erhöhung oder Erniedrigung in einem vorgegebenen Schema von Selbst­werten.[148] Eine unentrinnbare selbstwertbedrohliche Lage, in die diese Menschen angesichts ihrer der Realität unangemessenen Ich- und Wir-Ideale getrieben werden, treibt sie zugleich dazu, sich trotz enormer Machtdifferentiale zu ihren Ungunsten durch aussichtslose selbstwertdienliche Strategien zu „be­freien“. Es sind ihre als Selbstzwänge verhaltenssteuernden Ich- und Wir-Ideale, die sie angesichts und trotz ihrer relativ geringen Machtchancen zu ihren destruktiven selbstwertdienlichen Strategien bis zum Martyrium treiben. Diese auto­destruktive Strategie wird angesichts der vorherrschenden Macht­differentiale zu ihren Ungunsten aber mobilisiert durch dissoziative Formen der Realitätsbewältigung als Traumaeffekt, sobald eine Stressverarbeitungs-Störung der sich vergewaltigt empfindenden Menschen vorliegt. Sie ist deswegen situations- und personenspezifisch ausgeprägt, weil die selbstwertbedrohlichen Situationen der Menschen und ihre ‚Stress-Resistenz’ unterschiedlich sind. Das ist auch der Grund, warum nicht alle islamisch geprägten Menschen in traumatisierenden Situationen zum Himmelfahrtkommando als eine selbstwert­dienliche Strategie greifen. Doch selbst dieser Stress-Resistenz der Menschen im Sinne ihrer unterschiedlichen Arte und Grade der sozial vermittelten Kontroll­chancen der zunächst unbewältigbar erscheinenden feindlichen Reizen sind natürliche und gesellschaftliche Grenzen gesetzt. Sie manifestiert sich in zivilisatorisch vermittelten unterschiedlichen Bewältigungsmechanismen der Realitäts- und Selbst-Erfahrung der Menschen in Gestalt ihrer unterschiedlichen Selbstdistanzierungsfähigkeit.

 

6.3.2. Zum „Märtyrer“ als tradiertes Selbstkonzept der islamisch geprägten Menschen angesichts der existentiellen Bedeutung des Selbstwertgefühls und der Selbstwertbeziehungen

 

Mit dem “Martyrium” wird die existentielle Bedeutung des Selbstwertgefühls und der Selbstwertbeziehungen auf dramatische Art und Weise praktisch demonstriert. Allein die Entwicklung der Selbstwertbeziehungen im Sinne ihrer Zivilisierung bzw. De-Zivilisierung, wie sie sich als Funktion funktionaler Demokratisierung der inner- und zwischenstaatlichen Beziehungen ergibt, unter­scheidet Gesellschaften und ihre Beziehungen zueinander strukturell. Dies manifestiert sich in dem Bedürfnis, sich über seine Mitmenschen zu erheben und demnach etwas in ihnen zu entdecken, auf das man herabsehen kann. Dieses selbst­wertrelevante Bedürfnis ist so weit verbreitet und so tief verwurzelt, dass unter den vielen Gesellschaften, die sich auf der Erde herausgebildet haben, kaum eine einzige anzutreffen ist, die nicht einen Weg gefunden und tradiert hat, eine andere Gesellschaft als Außenseitergesellschaft, als eine Art Sündenbock für ihre eigenen Mängel zu nutzen. Daraus ergeben sich unweigerlich Ziel­konflikte, die angesichts des Organisationsgrades der Menschheit als sich gegen­seitig bedrohende Staaten mit unterschiedlichen Machtchancen zuweilen gewalt­sam ausgetragen werden. Das ist auch der Grund der Wirkungsmächtigkeit des Martyriums und des ihm zugrunde liegenden Schemas von Selbstwerten in den islamisch geprägten Gesellschaften.

 

Berücksichtigt man die gewaltsamen Formen der Austragung der Gruppen­konflikte, von denen die Soziogenese und Psychogenese dieses tradierten Schemas von Selbstwerten seit der Entstehung und Expansion des Islams als Integrations­mittel der islamisierten Menschen zu Angriffs- und Verteidigungs­einheit(en) geprägt ist, wird die gegenwärtig wahrnehmbare Verschiebung des Profils der „Selbstmordattentäter“ verständlich. So stoßen Selbstmordattentate in der palästinensischen Bevölkerung weiterhin auf breite Zustimmung, obwohl am 16. April 1993 sich zum ersten Mal ein palästinensischer Selbstmordattentäter der „Hamas“ in die Luft sprengte, als gerade der Friedensprozess von Oslo startete. Einer palästinensischen Studie zufolge begrüßen 78 % der Palästinenser im Gaza-Streifen die blutigen Anschläge, was auch an der Popularität der „Hamas“ in diesem Gebiet liegt. Seit diesem ersten Selbstmordanschlag hat sich jedoch das Profil des klassischen  Attentäters grundlegend geändert. Bislang ging man davon aus, dass sich lediglich unverheiratete, junge, arbeitslose und islamistische Männer dafür entscheiden. Eine Studie belegt, dass nur noch 64% von 50 untersuchten Attentätern dem klassischen Profil entsprechen. Inzwischen sprengen sich auch junge Frauen in die Luft, die kurz vor dem Magister-Abschluss stehen, verheiratete Familienväter, Minderjährige, Professorensöhne und Kinder vermögender Restaurantbesitzer. Auch diejenigen, die nicht in Verdacht stehen, einer Gehirnwäsche durch Hamas- und Dschihad-Funktionäre unterzogen worden zu sein, also säkulare Gruppen wie die Fatah-Organisation Arafats und die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ schicken inzwischen Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürtel auf blutige Mission.[149]

 

Als Mittel der Verschiebung der Selbstwertbeziehungen interdependenter Gruppen zugunsten der eigenen Überlebenseinheit werden die „Selbstmord­attentate“ also inzwischen ebenfalls von eher säkularisierten Menschen ausgeführt. Demnach liegt es vielmehr in der gesellschaftlich akzeptierten Über­lebens­funktion der Gewalt als Regulationsprinzip der Konflikte, die sich angesichts der zuweilen als feindliche Kollektive organisierten Menschheit reproduziert, als die Aussicht auf einen Logenplatz im Paradies, die zur Re­produktion des Martyriums, des Krieger-Ethos als Aspekt des sozialen Habitus der sich gegenseitig traumatisierenden Menschen beiträgt. Selbst mit der Behauptung, „Selbstmordattentäter fallen ein für alle Mal aus der Welt der militärischen Aktionen heraus und betreten einen eigenen Bereich“,[150] kann man nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, dass dieses Krieger-Ethos aus dem Krieg und für den Krieg entstanden ist, weil sich die Menschen immer noch gegenseitig existentiell bedrohen. Von daher trifft es nicht zu, dass die Bedingungen, „sicher nicht leicht zu erforschen sind, die im Dunkeln liegen und deren Formen mit ihrer Umgebung verschmelzen“, unter denen der Mensch explodieren kann.[151] Es liegt vielmehr an der Furcht vor völliger Versklavung, Ausbeutung, Beraubung oder physischer Vernichtung durch andere Gruppen, die mit der Gruppenfeindschaft und ihrer gewaltsamen Austragung zur Re­produktion des Martyriums beiträgt.

 

Inzwischen sind es, wie im Israel-Palästina Konflikt, vor allem zunehmend die Jugendlichen, die durch soziale Vererbung der traumatisierenden Erfahrungen sowie durch ihre eigenen alltäglichen Erfahrungen der Gewalt und ihre Persönlich­keit zersetzenden Demütigungen chronisch traumatisiert werden und angesichts ihrer ‚Posttraumatischen Belastungsstörung’ die Scharen von geeigneten „Freiwilligen“ für „Himmelfahrtkommandos“, für die selbst­mörderische Destruktion der als Feinde erfahrenen Menschen liefern. Abu Aram, der in einer palästinensischen Behörde, die sich „Vorbeugende Sicherheit“ nennt und vor der israelischen Besetzung der autonomen Palästinenser-Städte mit Israel kooperierte, hat acht Landsleute, die gefasst wurden, kurz bevor sie einen Anschlag verüben konnten, nach ihren Beweg­gründen gefragt. Er nennt drei Motive: „Erniedrigung, Erniedrigung, und abermals Erniedrigung“: „Manchmal müssten sich palästinensische Frauen an der israelischen Kontrollposten entkleiden. Es kommt auch vor, dass Männer gezwungen würden, Frauen in aller Öffentlichkeit zu küssen – in der arabischen Gesellschaft ist das verpönt. Manchmal gingen die Schikanen so weit, dass zu bestimmten Zeiten alle Palästinenser mit Namen Mohammed nicht passieren dürften, berichtet Abu Aram. Viele Frauen hätten an den Kontrollposten gebären müssen, weil israelische Soldaten ihnen die Passage zum nächsten Krankenhaus verwehrt hätten.“ [152]

 

6.3.3. Das Selbstkonzept der „Märtyrer“ als gemeinsam geteilte Einstellung der islamisch geprägten „Freiwilligen“ für „Himmelfahrtskommandos“ sich selbst gegenüber

 

Die selbstwertrelevante Funktion der „Selbstmordattentate“ wird daher nur dann nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Menschen immer etwas von Wert für sich und für andere sind – und zwar als Einzelne und Gruppen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass der zunächst als „homo-clausus“ gedachte „Selbstmordattentäter“ sich durch seine (individuell) „narzisstisch gestörte Persönlichkeits­struktur“ verstehen und erklären lassen würde, selbst wenn man den sonst scheinbar absolut unabhängig von anderen sich selbst liebenden oder hassenden Menschen im Nachhinein mit anderen, ähnlich isoliert gedachten Menschen „interagieren“ lässt. Mit dem Begriff der Selbstwertbeziehungen wird der einzelne Mensch in seiner existenziellen Angewiesenheit und Abhängigkeit von anderen Menschen gedacht – und zwar von der Geburt bis zum Tod, ja selbst bis zum „Freitod“. Das Narzissmuskonzept wird darüber hinaus deswegen durch den realitätsangemesseneren Begriff der Selbstwertbeziehungen ersetzt, weil selbst in den weit individualisierten Industriegesellschaften immer noch sehr oft das Schicksal von Individuen durch ihre eigene und die Identifizierung anderer, von der Beschaffenheit und Lage einer ihrer Gruppen abhängen kann. Von daher sind Menschen nicht nur als Einzelne immer etwas von Wert für sich und für andere sondern auch als Gruppen. Es ist diesen existenziellen inter­dependenten Selbstwertbeziehungen der Menschen zuzuschreiben, dass der tatsächliche Gang der Ereignisse für die darin verwickelten Menschen Bedeutung und Sinn erhält durch seine selbstwertrelevante Funktion in einem vorgegebenen Schema von Selbstwerten.[153] Ohne diese selbstwertdienlichen oder selbstwertbedrohlichen Dimensionen der Ereignisse wäre keine kriegerische Auseinandersetzung der Menschen versteh- und erklärbar. Die z. B. sich scheinbar bloß um territoriale Verteidigung oder Expansion drehenden Palästina- oder Iran-Irak-Konflikte wie die aller mehr oder weniger staatlich organisierten Menschen, wären gegenstandslos, bedeutete das Ergebnis ihres blutigen Krieges nicht letztlich einen sozialen Auf- oder Abstiegprozess für die involvierten Menschen. Der „Falkland-Konflikt“ und die massive militärische Intervention Großbritanniens zur Wiederherstellung der eigenen Besitz­an­sprüche ist ein weiteres ausgezeichnetes Beispiel für die selbstwertdienliche Funktion kriegerischer Aktionen, da die Insel keinerlei sicherheitsrelevante Bedeutung für die sich als „Großbritannien“ empfindenden Briten hatte, die Margaret Thatcher für ihre selbstwerterhöhende Aktion aber mit Wiederwahl belohnten. Denn für eine ehemalige Kolonialmacht, im Sinne ihres identitäts­stiftenden Wir-Bildes für ihre Angehörigen, wäre der Verlust einer der übrig­gebliebenen Symbole eigener „Größe“ emotional schwer zu verkraften gewesen, weil dadurch die affektiv besetzte erinnerte eigene Größe und damit ihr National­stolz, ihre Selbstliebe als eine „glorreiche Nation“ verletzt worden wäre.

 

Gruppenprozessorientiert gesehen ist ihre gewaltsame territoriale Auseinander­setzung eine ihrer selbstwertdienlichen Strategien zur Herstellung, Aufrecht­erhaltung, Verteidigung oder zum Ausbau ihrer positiven Selbst-Bewertung. Sie sind zu solch einer Kampfform verurteilt, solange keine regulierten Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe um die Macht- und Statuschancen durch die Suspendierung der Gewalt als Regulationsprinzip möglich sind. Mit dem gewonnenen oder verlorenen Territorium gewinnen bzw. verlieren die Kontrahenten im Sinne eines „Nullsummenspiels“ eine der Ingredienzien ihres Selbstwertes, weil entsprechend der „Logik der Emotionen“ jeder Landgewinn oder -verlust als Wertgewinn oder -verlust erlebt wird – insbesondere, wenn es sich um ein „Heiliges Land“ handelt und die Kontrahenten sich selbst jeweils als „auserwähltes Volk“ erleben. Die Herstellung, Aufrechterhaltung, Verteidigung und der Ausbau ihrer territorialen Integrität symbolisieren also selbstwert­dienliche Strategien, weil Wehrhaftigkeit eine selbstwertrelevante Vergleichs­dimension der mehr oder weniger staatlich organisierten Menschen und damit Bezugspunkt ihrer Selbstwertbeziehungen ist. Hinzu kommt die Herstellung, Aufrechterhaltung, Verteidigung oder der Ausbau der normativen Struktur der Gesellschaften, die sie im staatlich organisierten Rahmen miteinander bilden – sei sie „demokratisch“ oder „islamisch“. In diesen sozialen Überlebenskämpfen um die territoriale Integrität und/oder um die als eigen definierten Werte wird der Einsatz des eigenen Lebens in jeder Gesellschaft gefordert, weil die Teilnahme an diesen Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfen nicht nur gruppencharismatisch mit eigener Höherwertigkeit legitimiert wird, sondern zugleich dabei die Herstellung, Aufrechterhaltung, Verteidigung oder der Aus­bau des eigenen Selbstwertes auf Kosten anderer Menschen als Einzelne oder Gruppen angestrebt wird.

 

Diese selbstwertdienlichen existentiellen Konkurrenz- und Ausscheidungs­kämpfe um die vorhandenen Macht- und Statusquellen werden allerdings so lange mit dem Einsatz des eigenen und fremden Lebens geführt, solange Menschen in exklusiven Gruppen organisiert sind. Mit zunehmender Integration der Menschen als Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung und Selbstwert­beziehungen entsteht zwar die Bedingung der Möglichkeit der Erweiterung der Reichweite ihrer Identifizierung unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit, bis sie möglicherweise in der Lage sind, die Menschheit als Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung zu akzeptieren. Bis dahin wird jedoch die individuelle Opferbereitschaft im Überlebenskampf der Angriffs- und Verteidigungs­einheiten weiterhin gefordert und gefördert, weil jeder Integrationsschub zugleich selbstwertdienliche soziale Auf- und selbstwertbedrohliche Abstiegs­prozesse impliziert. Allerdings wird diese Forderung in Staatsgesellschaften unterschiedlicher Traditionslinien, Prägung und Entwicklungsstände unter­schiedlich sanktioniert, solange die Entwicklung der entsprechenden Empathie mit den Integrationsverlierern mit der funktionalen Integration nicht schritt hält. In den islamisch geprägten Gesellschaften wird den „Kriegshelden“ als „Märtyrern“ die Gesellschaft der „herrlichen Genossen“ in Aussicht gestellt, in deren Glorienschein sie sich sonnen dürfen.[154] Damit genießen sie die höchstmögliche Wertschätzung ihrer Gruppenmitglieder auch jenseits ihrer individuellen Lebenszeit.

 

Mit der Hoffnung auf den höchst geschätzten Status[155] eines Märtyrers strebt jeder im Kampf befindliche Islamist „Gottes Zufriedenheit“ an, dessen Nähe sein sehnsüchtigster Wunsch ist. Damit definiert sich das „Martyrium“ als das selbstwertdienlichste Verhaltensmuster eines todesmutigen Islamisten, der durch seine Opferbereitschaft in einem Angriffs- oder Verteidigungskrieg seiner Überlebenseinheit höchstes Ansehen in der Öffentlichkeit erringen kann. Allerdings unterscheiden sich zwei offensive und defensive Typen von Märtyrern, je nach der Verschiebung der Balance des Angriffs- und Ver­teidigungscharakters ihrer Überlebenseinheit. In diesem Sinne ist der Islamist ein defensiver Typ, solange er eine fremde Invasion – sei es eine militärische oder eine kulturelle – abwehrt; übersetzt er allerdings seine „Verteidigung“ in eine Offensive zur Expansion territorialer Reichweite seiner Einflusszone, verwandelt er sich in einen offensiven Typ. Ein Islamist, der eine „Global­isierung auf islamisch“ anstrebt, gehört eindeutig dem offensiven Typ an:

 

„»Die Globalisierung an sich ist nicht schlecht«, erklärt er [= Scheich Jussef al-Qaradawi; D.G.] seinen Zuhörerinnen im Hotelsaal [im Sheraton-Hotel in Doha; D.G.]. »Derzeit jedoch ist die Globalisierung eine reine Amerikanisierung, die uns nur Krieg und Ver­derben bringt.« Erst der Blick zurück in die Geschichte, lässt den Scheich sanfter urteilen: »Es gab eine Zeit, da war Amerika ein friedliches Land voller Indianer. Damals sprach die wissenschaftliche Welt Arabisch, Bagdad war der Nabel der Welt.« Seine Stimme klingt träumerisch: »Dahin müssen wir wieder kommen. Wir wollen eine Globalisierung – mit islamischem Vorzeichen.«“[156]

 

Dessen ungeachtet repräsentiert (das) „Martyrium“ ein affektiv besetztes und als solches verpflichtendes Selbstkonzept, also eine selbstbezogene Einstellung der Gläubigen als Einzelner und Gruppenmitglieder. Als mehr oder weniger individualisierter sozialer Habitus der islamisch geprägten Menschen weist diese verhaltenssteuernde Einstellung der Islamisten eine kognitive und eine evaluative Komponente auf, die inhaltsanalytisch in ihren „Testamenten“ erschließbar sind. Während ihre kognitive Komponente die Struktur und den Inhalt des Selbstkonzeptes repräsentiert, entspricht die evaluative Komponente ihrem Selbstwert im Verhältnis zu den vergleichbaren Menschen als Einzelne und Gruppen, mit denen sie gruppenintern und extern konkurrieren. Die sehr beliebten, thematisch assoziierten Koranverse (Koran 2: 149ff.; 3: 171; 4: 76; 9: 112; 33: 23f.), die an der Spitze der Testamente der „Märtyrer“ des Iran-Irak-Krieges stehen, dokumentieren ihr Schema von Selbstwerten. So z. B. Sure 33.23, 24: „Unter den Gläubigen waren Männer, welche wahr machten, was sie Allah gelobt hatten. Einige von ihnen erfüllten ihr Gelübde, und andere warten noch darauf und wandeln sich nicht. Auf dass Allah die Wahrhaftigen für ihre Wahrhaftigkeit belohne und Heuchler bestrafe, so er es will, oder sich zu ihnen kehre. Siehe, Allah ist verzeihend und barmherzig.“ Im Sinne dieser selbstwer­trelevanten Vergleichsdimension offenbart ein „Märtyrer“ seinen gruppen­charismatischen Anspruch in seinem Testament: „Gott sei gedankt, dass du mich nicht zum Mitglied der Gruppen der Abweichler und Aufrührer werden ließest.“[157]

 

Dieses tradierte Schema von Selbstwerten wird von den sunnitischen Islamisten genauso geteilt wie von den schiitischen. Allein für die Rechtfertigung ihrer „Selbstmordattentate“ als „Martyrium“ beziehen sich allerdings die Sunniten auf Mohammed zurückgehende „Traditionen“ (Ahadith), die als uninspirierte Wiedergabe inspirierter Aussprüche des Propheten gelten. So legitimiert z. B. die „Hamas“ die „Rechtmäßigkeit“ der Selbstmordattentate als „Martyrium“, d.h. ihre Übereinstimmung mit der „Scharia“ als Gottes Gesetz vor allem durch eine Unterscheidung zwischen koranisch verbotenem, egoistisch motivierten individuellen Selbstmord und – durch die Überlieferungen des Propheten und Begründungen eminenter Rechtsgelehrten in der Geschichte – erlaubtem indivi­du­ellen Akt eines Muslims im Krieg, der zum Selbstmord führen kann. Doch nicht ihre Entdeckung der entsprechenden religiösen Rechtfertigungen bringen die Selbstmordattentäter hervor, sondern die soziogenen Ängste, die das Leben für manche Menschen nicht mehr lebenswert machen. Deswegen kann nur dann nach geeigneten Auswegen aus der eskalierenden selbstmörderischen Destruk­tivität gesucht werden, wenn verstanden wird, weshalb und wovor diese Menschen Angst haben und was mit ihnen passiert. Dies setzt aber die Einsicht voraus, dass die Pathologisierung und Kriminalisierung der Selbstmordattentäter mit ihrer (‚moralisch’) entlastenden Funktion zwar die „Schuldfrage“ indivi­dualisierend klärt – und damit nur einen weiteren Beitrag zur Eskalation der Gewalt leistet –, ohne sie jedoch zu erklären und zu ihrer Deeskalation bei­zutragen. Erst die Einsicht in pathologisierende Vergewaltigungserfahrungen der Menschen in asymmet­rischen Machtbalancen als Soziogenese und Psycho­genese der selbst­mörderischen Destruktionen erlaubt eine angemessene soziale „Therapie“ als Präventiv- und Begleitmaßnahme zu ihrer Eindämmung – sind doch Mord und Selbstmord keine ungewöhnlichen Folgen, wenn es keinen anderen Ausweg gibt, um der Erfahrung der Ohnmacht zu entgehen. Folglich ist weniger die sich aus dieser Ohnmachtserfahrung ergebende Sehnsucht der Selbstmordattentäter nach dem Tod die eigentliche Gefahrenquelle, als vielmehr jene selbstwert­relevanten Beziehungen, die diese Sehnsucht hervorrufen.

 

 

 



[1] Testamentteil, 86/64; in: Seyyed Mehdi Fahimi (Hrsg.): An Encyclopedia of the War Front; Testaments, Diaries, Aphorisms, Teheran, 1381 (2002), Volume 7, S. 22. (Persisch, eig. Übers.)

[2] Man erklärte z. B. bei massenmedialen Verarbeitungsversuchen der Bombenattentate in London den „religiösen Fanatismus“ als verantwortlich für diese selbstmörderische Aktionen: „Tony Blair has said it is time to stand up to the "evil ideology" behind the London bombings and other attacks. Such violence was not in response to any particular policy or founded in any injustice, but in a "fanaticism" that had to be confronted, he said.” (Story from BBC NEWS: http://news.bbc.co.uk/go/pr/fr/-/2/hi/uk_news/politics/4688909.stm; Published: 2005/07/16 17:11:21 GMT)

Doch der wenig erklärende, aber stigmatisierende Begriff „Fanatismus“ bedeutet „blind-übertriebener und unduldsamer Eifer für eine Überzeugung“, was soziologisch so viel bedeutet, wie die Verschiebung der Balance zwischen „Engagement und Distanzierung“ zugunsten des Engagements des Täters im Sinne einer eher affektgesteuerten Handlung. „Fanatiker“ (lateinisch: fanaticus) bedeutet lexikalisch „von der Gottheit ergriffen, rasend“. Doch diese Ergriffenheit erlebt der Islamist als „gott-zentrisch“ („Khoda-Mehwar“), dreht sich bei ihm alles um „Gottes Zufriedenheit“ im Unterschied zu „ego-zentrischen“ Menschen(„Khod-Mehwar“), wie sie sich im zunehmenden Modernisierungs- und damit einher­gehenden Individualisierungsprozess entwickeln“. (Vergl. Resa Schbahari & Nasser Ghassemi: “A consideration about obstructive elements on the ideology of self-sacrifice and martyrdom ideology and presentation of cultural and social models for the promotion of self-sacrifice and martyrdom in different economic, cultural and social fields; in: „SHOHUD“, Investigative Cultural, Seasonal of Islamic Revolution’s MartyrFoundation, Vol. 2 No. 6,7 spring & summer 2001, S.110, englische Übersetzung des persischen Titels im „abstract“ durch die Autoren.)

Diese „ich-entgrenzte“ Persönlichkeitsstruktur der „gott-zentrischen“ Menschen wird hier als Funktion eines Doppelbinderprozesses untersucht, der sich aus der Verschiebung der Balance zwischen Engagement und Distanzierung zugunsten des Engagements traumatisierter Menschen ergibt.

[3] Ein exemplarisches Beispiel für diese Gleichbehandlung der selbstmörderischen Tendenzen ist Schmidbauers Erklärungsversuch: Wolfgang Schmidbauer, Der Mensch als Bombe. Eine Psychoanalyse des neuen Terrorismus, Reinbek bei Hammburg 2003.

[4] Vergl. Emile Durkheim, Der Selbstmord, Neuwied und Berlin; 1983, S. 320 f.

[5] ibid., S. 272

[6] In diesem Sinne hebt Durkheim hervor: „Wenn wir gesehen haben, dass eine übermäßige Vereinzelung zum Selbstmord führt, so hat eine nicht genügend ausgeprägte Individualität dieselbe Wirkung. Wenn der Mensch aus der Gesellschaft herausgelöst wird, begeht er leicht Selbstmord. Das tut er auch, wenn er zu sehr in sie verstrickt ist.“ (Emile Durkheim, Der Selbstmord, S. 242)

[7] Die weltweiten Anstrengungen im Kampf gegen Terrorismus haben einer Bilanz des US-Geheimdienstes CIA zufolge die Gefahr im vergangenen Jahr nicht verringert. Mit 1907 Menschenopfern bei 651 Terroranschlägen im Jahre 2004 hätten sich im Gegenteil sogar die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht. Die meisten Toten wurden im Nahen Osten verzeichnet, wo im vergangenen Jahr 726 Menschen bei 270 Anschlägen starben. (Vergl. Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ), 29.04.05, S. 3)

[8] „In diesem Buch will ich eine weitere soziale Form der narzisstischen Störungen unter­suchen: den explosiven Narzissmus der ‘menschlichen Bombe’.“ (Schmidbauer: Der Mensch als Bombe, S. 17) Wolfgang Schmidbauer, der die „Selbstmordattentäter“ als „explosive Narzissten“ begreift, ist ein Psychoanalytiker, der die sozialen Dimensionen psychischer Störungen doch nicht gänzlich außer Acht lässt. Doch auch er vernachlässigt die Gruppen­prozesse als Sozio- und Psychogenese der autodestruktiven Destruktivität eines „Märtyrers“, weswegen er den „Selbstmordattentäter“ und den Amokläufer gleich behandelt. (Vergl. ibid: S. 22f. )

[9] „In dieser Verschmelzung von Neid und Wut wurzelt die absurde Tat. Das Flugzeug wird gekapert, um es in den Racheengel einer mittelalterlichen Welt zu verwandeln. Aber dieses Spitzenprodukt der modernen Technologie für einen solchen Akt zu benötigen, zeigt das Elend und Parasitentum der Täter...“ (Wolfgang Schmidbauer, Der Mensch als Bombe, S. 16). Mit diesen Schimpftiraden scheint Schmidbauer im Anschluss an die „Publikums­beschimpfung“ eines neuen Theaters eine neue psychotherapeutische Schule entwickelt zu haben, die auf Patientenbeschimpfung basiert – besteht doch die ausdrückliche Konsequenz seiner Analyse in der individuellen Therapie der „Selbstmordattentäter“. An der Reaktion eines solchen erfahrenen Therapeuten kann man die emotionale Betroffenheit der Menschen angesichts solcher furchterregenden Aktionen abschätzen.

[10] „Der explosive Narzissmus bedroht unser Selbstgefühl.“ (Wolfgang Schmidbauer, Der Mensch als Bombe, S. 10)

[11] Vergl. Rainer Krause, Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre Bd. 1, Köln 1997, S. 49f. Ich möchte mit dem Begriff der Empathie hier nicht nahe legen, dass die vorliegende Beziehungsfalle durch eine Psychologisierung der Einen oder Anderen überwindbar wäre. Vielmehr geht es darum, sowohl der seelenblinden Sicht auf die Menschen als auch einer Psychologisierung durch die Unterstellung eigener Empfindensmuster eine Sicht entgegen­zustellen, mit der durch die Anerkennung der Unterschiede in den Empfindensmustern sowohl einer Entmenschlichung einerseits als auch einer Vereinnahmung durch Verkennung, was ebenso gewalttätig sein kann, entgegengewirkt werden kann.

[12] So z.B. Testamentteil Nr. 17/62: “Ich hoffe, dass ich bei Hussein und den Märtyrern auf dem Weg der Wahrheit und des Islam nicht beschämt und gedemütigt werde, sondern mit den Märtyrern von Kerbala Ruhmreich werde und Gottes Güte erfahre.“; in: Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, „Schahid und Schahadat dar Adeije und Zijarat“ (Märtyrer und Martyrium in Gebetsformeln), Teheran 2001 (Persisch, eigene Übersetzung), S.17

[13] „Im Gegensatz zu den ‘orthodoxen’ Narzissmustheoretikern war ich immer daran interessiert, wie sich narzisstische Bedürfnisse Einzelner in Gruppen, Institutionen und Organisa­tionen niederschlagen. In diesen Arbeiten entwickelte ich einige spezifische Vor­stellungen über soziale Ausdrucksformen des Narzissmus: den pharisäischen, den kannibalischen, den parasitären Narzissmus. (...) In diesem Buch will ich eine weitere soziale Form der narzisstischen Störungen untersuchen: den explosiven Narzissmus «der menschlichen Bombe»...“(Wolfgang Schmidbauer, Der Mensch als Bombe, 16ff.)

[14] Nur mit dem Begriff der Selbstwertbeziehungen der Menschen als Einzelne und Gruppen kann dann festgestellt werden: „Die mögliche Hochschätzung als Husarenstreich, die im Hintergrund der offiziellen Empörung über die Attentate gedeiht, verdeckt die massive Selbstbestrafung, welche die Täter an sich vollziehen. (...) Die so häufig wiederholten Beteuerungen ihres Märtyrertums können diesen Aspekt nur verleugnen, aber nicht widerlegen.“(Wolfgang Schmidbauer, Der Mensch als Bombe, S. 15.) Diese Feststellung ist auch nur dann möglich, wenn zugleich nicht außer Acht gelassen wird, dass sich die Ich-Wir-Balance der „Selbstmordattentäter“ zugunsten ihrer Wir-Identität verschoben hat. Es ist seine „Gruppen-Selbstliebe“, die ihn zu seiner individuellen Selbstaufgabe zwingt.

[15] Im Unterschied zu  „ego-zentrischen“ Menschen, wie sie sich im zunehmenden Modernisierungs- und damit einhergehenden Individualisierungsprozess entwickeln.

[16] Obwohl ich in meinen früheren Arbeiten diesen Gewissensteilersatz als ein „externalisiertes Gewissen“ bezeichnet habe, übernehme ich hier den von Kittsteiner verwendeten ange­messeneren Begriff „forensisches Gewissen“. Damit soll der Eindruck vermieden werden, als ob das Gewissen in dieser Entwicklungsphase bereits existiert hätte und nachtäglich extern­alisiert wurde. Historisch gesehen, hat sich der Gewissensbildungsprozess jedoch umge­kehrt vollzogen: Das „Gewissen“ des Menschen entsteht als „Verinnerlichung“ des Göttlichen. Was später als „Innenleben“ interpretiert wird, stellte sich ursprünglich als Eingriff der Gottheit dar. Denn im Gewissen ist eine sittliche Erfahrung ausgedrückt, in der ein Akt des Wissens von einer Norm verbunden ist mit einem Gefühl der Unlust und Schmerz in Folge einer Abweichung von den Regeln einer Gemeinschaft. Verlagert sich der Akzent von einer öffen­tlichen „Schande“ auf eine innerlich gefühlte „Schuld“, so tritt die Verurteilung auch dann in Kraft, wenn andere von der Tat niemals etwas erfahren werden. Zugleich hat sich jedoch eine überhöhte “äußere“ Instanz des Mitwissens herausgebildet, die auch diesen „inneren“ Bereich erfasst. Daher erscheint ein Verstoß gegen die gesellschaftlichen Sitten zugleich als Über­schreitung eines göttlichen Gebotes, sofern sie von einer Religion sanktion­iert werden. Furcht vor der Entdeckung durch andere Menschen mischt sich dann mit der Befürchtung einer Strafe durch die alles sehende Gottheit. (Vergl. Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Ffm., 1995, S. 19ff.). Daher begreife ich dieses „forensische Modell des Gewissens“ eher als einen Gewissensteilersatz, weil es als Fremd­zwang seine stützende Funktion nicht gänzlich verloren hat. Was sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte verändert hat, ist die Balance zwischen Selbst- und Fremdzwang zugunsten des ersteren.

[17] Norbert Elias: „Zivilisation“; in: Bernhard Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1986, S. 384f.

[18] Ich danke Michael Fischer für seinen Hinweis auf das mögliche implizierte Miss­verständnis, das mit meiner entwicklungssoziologischen Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Typen von Gewissen verbunden ist. Mit dem Unterschied zwischen einem eher autonomen und einem eher fremdzwanggestützten Gewissen und Verstand als ein Wandlungs­kontinuum möchte ich keineswegs auf einer subtileren, theoretischen Ebene das Etablierten-Außenseiter-Verhältnis zwischen dem (‚zivilisierteren’) „Westen“ und dem (‚weniger zivilisierten’) „Islam“ reproduzieren, und zugleich evtl. am Kernproblem der Etablierten-Außenseiter-Dynamik vorbei leiten. Deswegen möchte ich gleichermaßen auf den komplementären Religiositätsschub in den westlichen Gegenwartsgesellschaften verweisen, der sich einerseits im Sinne einer Verschärfung der bürgerlichen Zivilreligion manifestiert (vergl. das Vorwort in: Heinz Kleger, Alois Müller (Hrsg.): Religion des Bürgers. Zivil­religion in Europa und Amerika. 2. ergänzte Auflage mit einem neuen Vorwort: Von der atlantischen Zivilreligion zur Krise des Westens, Münster 2004) wie auch andererseits in einem ‚Fundamentalisierungsschub’ im Sinne des Paradigmas der etablierten „klassischen“ Religionen in Teilen der westlichen Gesellschaften: vergl. z.B. Josef Braml: Die theo-konservative Politik Amerikas; in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 7/2005, S. 30-38, hier S. 36: „Gerade in Krisenzeiten – Amerika sieht sich seit dem 11. September 2001 im Krieg – fand das Bemühen um eine religiöse Sinngebung immer wieder Eingang in „historische“ Reden amerikanischer Präsidenten. Diese Rhetorik ist darüber hinaus identitäts­stiftend und rückt das „von Gott beinahe auserwählte“ […] Amerika […] in die unmittelbare Nähe des auserwählten Volkes Israel.“

[19] Die sich als „Zeugen“ gegenseitig bedingenden und damit sich gegenseitig ihre eigene Existenz und Wertschätzung bestätigenden Märtyrer- und Gottesbegriffe dürften als Manifest­ationen dieser Prozesse in der Geschichte des „Islams“ im Sinne einer Angriffs- und Verteidigungseinheit entstanden sein und sich reproduzierten haben.

[20] Thomas Patrick Hughes, Lexikon des Islam, München 2000, S. 637f.

[21] Vergl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt /M., 1994, S. 309

[22] Der zweite Sohn Fatimas, der Tochter des Propheten Mohammad, von ihrem Ehemann Ali, dem vierten Kalifen. Er war der Bruder Hassans, des fünften Kalifen. Nach der Auffassung der Schiiten, war er der dritte Kalif. Hussein wurde im Jahre 626 n. Chr. geboren und im Jahre 681 n. Chr. in einem Konflikt mit Yazid, nach der sunnitischen Zählung dem siebten Kalifen, grausam getötet.

[23] Vergl. Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, Schahid und Schahadat dar Adeije und Zijarat, S. 15ff. & 25ff.

Während die („Adeije“) Gebete sind, die sich direkt an den Gott richten, richten sich die „Zijarat“ an die“ Heiligen“ als Vermittler zwischen dem Gläubigen und seinem Gott. Sie zähle ich zu den geeignetsten Quellen einer inhaltsanalytischen Untersuchung des affektiv tief verankerten Selbst- und Weltbildes der islamisch geprägten Menschen.

Aliakbar Alikhanis & Morteza Bohranis affirmative Sammlung der Gebete enthält die Gesamt­heit der, den Tod und Martyrium betreffenden „Gebetsformeln“, die in mehr als zwanzig­tausend Seiten umfassenden, vierzig Büchern der „Beschwörungsformeln“ der sunnitischen und schiitischen Muslime verstreut vorliegen. Dabei sind zum Teil auch die dies­bezüglichen „Überlieferungen“ berücksichtigt worden. Diese und die Sammlung der Testamente der iranischen  „Freiwilligen“ des Iranisch-Irakischen Krieges bilden hier meine Hautquellen der Untersuchung der Erfahrungswelt der „Selbstmordattentäter“.

[24] ibid., S. 52

[25] Ali war der Sohn des Abu Talib und ein leiblicher Vetter Mohammads, der ihn adoptierte. Er heiratete Fatima, Mohammads Tochter, und hatte drei Söhne von ihr, Hassan, Hussain und Muhssin. Ali war der 4. Kalif und regiert von 655 bis 660 n. Chr. In Kufa wurde er von einem vergifteten Schwert verletzt und starb drei Tage darauf im Alter von 59 Jahren. Das Schisma der Schiiten beruht darauf, dass Ali nach dem Tod Mohammads das Kalifat übernehmen sollte, weswegen Abu Bakr, Umar und Uthman von den „Parteigänger“ (= Schiiten) Alis als „Usurpatoren“ abgelehnt wurden.

[26] ibid., S. 52

[27] ibid., S. 53

[28] ibid., S. 57f. Hervorhebung von mir.

[29] Ibid., S. 58

[30] Nach seiner Flucht („Hedschra“) nach Medina am 20. Juni 622 n. Chr., wodurch Mohammed als Außenseiter einem Mordkomplott der Etablierten des Koreischiten-Stammes in Mekka entkam, beginnt nicht nur die islamische Zeitrechnung. Diese Flucht verändert die Verhältnisse und damit auch den Charakter der Abschnitte des Korans, die dort offenbart werden. Ist Mohammad in Mekka der Mahner und Überzeuger gewesen, so wird er in Medina zum Gesetzgeber und Kriegsherrn, und die Verse des Korans bekommen einen mehr didakt­ischen Ton. Reimdichtung weicht der Prosa, und Mohammad beansprucht offen das Amt eines öffentlichen Warners und Propheten.

[31] ( ibid, S. 60)

[32] ibid., S. 101

[33] Vergl. Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse, Ffm. 1978, S. 134

[34] Zitiert bei Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, Schahid und Schahdat dar Adeije und Zijarat, S. 61

[35] ibid., S. 63

[36] „Amr-e be ma΄ruf va nahj-e as monker“ (Befehle die Gebote, untersage die Verbote), im Sinne permanenter sozialer Kontrolle in Form gegenseitiger Kontrolle, um Gottes Geboten Geltung zu verschaffen.

[37] ibid., S. 64

[38] ibid., S. 67

[39] ibid., S. 99

[40] So ein Gebet der Qadir-Rituale: „O Herr lass uns das beste Leben leben und den besten Tod sterben und die beste Rückkehr zu dir haben.“ (ibid., S. 70)

[41] ibid., S. 71

[42] ibid., S. 73

[43] So Imam Ali, zitiert bei Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, Schahid und Schahadat dar Adeije und Ziharat, S. 61

[44] ibid. , S. 80

[45] Mit Norbert Elias verstehe ich unter sozialem Habitus „ein spezifisches Gepräge des einzelnen Menschen, das er mit allen anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt. Es bildet gewissermaßen den Mutterboden für den Individualisierungsprozess (vergl. Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, FfM, 1988, S. 244). Dabei hängt es „von der Anzahl der ineinander verschachtelten Integrationsebenen seiner Gesellschaft ab, wieviel Schichten im sozialen Habitus eines Menschen ineinander verwoben sind. Unter ihnen nimmt gewöhnlich eine bestimmte Schicht einen besonders prominenten Platz ein. Das ist die Schicht, die für die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten sozialen Überlebens­einheit (...) charakteristisch ist“ (ibid., S. 245). Doch diese geschichteten Überlagerungen der sozial vermittelten und individuellen Erfahrungen vollziehen sich in Gestalt hochkomplexer neuronaler Verschaltungsmuster im Gehirn der Menschen, das selbst evolutionär gestaltet ist. Diesen Zusammenhang und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Selbstmord­attentäter in ihrer als ausweglos empfundenen Situation möchte ich hier diskutieren. Dabei beziehe ich mich auf Gerald Hüthers Versuch der Verknüpfung der ‚äußeren und inneren Gestaltungskraft aller Lebensformen’ (Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2005) sowie seine Aus­führungen zu neuesten Erkenntnissen über die biologische Funktion der Stressreaktion. (Gerald Hüther, Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden, Göttingen 2004)

[46] Mohammed, zitiert in: Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, Schahid und Schahadat dar Adeije und Zijarat, a.a.O,  S. 81

[47] Thomas Patrick Hughes, Lexikon des Islam, S. 635f.

[48] ibid.

[49] „Ich wünsche mir leidenschaftlich den Anblick von Gottes Antlitz und liebe das Marty­rium“, so Imam Ali; zitiert in: Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, Schahid und Schahadat dar Adeije und Zijarat, S. 111.

[50] Koran in Sure 4.76

[51] Koran in Sure 29, 10 und 11

[52] Koran in Sure 16, 93

[53] Koran Sure 4:71

[54] Vergl. Uwe P. Kanning, Selbstwertmanagement. Die Psychologie des selbstwertdienlichen Verhaltens, Göttingen 2000, dessen individualpsychologisch orientiertes Selbstwertkonzept ich hier soziologisiere.

[55] fedẳ’i ist ein Mensch, der sein Leben einem symbolischen Repräsentanten der gemeinsam geteilten „Wir-Bezüge“ der Iraner opfert. In diesem Sinne entstanden im Iran nicht nur „fedẳ’i jan-e Islam “, sondern auch „fedẳ’i jan-e Khalgh“ (sich für das Volk Aufopfernde). Eine Be­zeichnung, die iranische Revolutionäre seit der „konstitutionellen Revolution“ gerne als Selbst­begriff benutzten.

[56] Koran, Sure 3:163. 

[57] Koran, Sure 16.99

[58] Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, Schahid und Schahadat dar Adeije und Zijarat, S. 99

[59] ibid., S. 94

[60] ibid., S. 95

[61] ibid., S. 97

[62] Siehe Erläuterungen in diesem Beitrag S. 32ff.

[63] Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, Schahid und Schahadat dar Adeije und Zijarat, S. 100

[64] ibid., S. 99

[65] ibid., S. 97f.

[66] „Auf dem Pfad Gottes getötet werden, ist für mich liebeswürdiger als alle Reichtümer der Welt“, soll der Prophet öfters wiederholt haben. (Zitiert in: ibid.: S. 139f.)

[67] Koran, Sure 4, 71

[68] Was im Jargon der Sicherheitsorgane als „Schläfer“ bezeichnet und als scheinbar zentral organisiert angenommen wird, sind nichts andres als in bestimmter Gefühlslage mobilisierbare Muslime, die durch ihre islamisch geprägte Sozialisierung diese Aufbruchsbereitschaft zum Martyrium im Sinne einer mehr oder weniger dominanten Schicht ihres sozialen Habitus mit den bereits aktivierten Islamisten teilen.

[69] Bernard Lewis, Die Assassinen. Zur Tradition des religiösen Mordes im radikalen Islam, Ffm. 2001.

[70] Christoph Reuter, Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter – Psychogramm eines Phänomens, München 2000.

[71]So legitimiert z. B. „Hamas“ die „Rechtmäßigkeit“ der Selbstmordattentate als „Martyrium“ vor allem durch die Unterscheidung zwischen koranisch verbotenem, egoistisch motivierten individuellen Selbstmord und solchen individuellen selbstmörderischen, kriegerischen Akten eines Muslims, die durch die Überlieferungen des Propheten und Begründungen eminenter Rechtsgelehrten in der Geschichte erlaubt, d.h. in Übereinstimmung mit „Schari´a“ als Gottes Gesetz sind. Dabei beziehen sie sich auf Mohammed zurückgehende Traditionen („Ahadith“), die als uninspirierte Wiedergabe inspirierter Aussprüche des Propheten gelten: „It was narrated by Abu Baker bin Abi Mussa, who said: I heard Huraira saying while facing the enemies: “the prophet (s.a.w.) said: ‘The doors of Heaven are open through Jihad’. A poor man asked: ‘you heard the prophet (s.a.w.) saying that? ’Abu Huraira said: ‘yes’. The man went to his companions, and saying: peace upon you, broke the sheath of his sword and fought to death.”  (Are Martyrdom Operations Lawful – According to Quran and Sunnah; in: http://abdulhaqq.jeeran.com/operations.html)

[72] Vergl. Hans G. Kippenberg: Jeder Tag ‚Ashura’, jedes Grab Kerbala. Zur Ritualisierung der Straßenkämpfe im Iran; in: Religion und Politik im Iran. (Eine Veröffentlichung des Berliner Instituts für Vergleichende Sozialforschung), Red.: Kurt Greussing, Berlin 1981, S. 217-256.

[73] Nach den sunnitischen Zählungen der siebte Kalif.

[74] Chiliasmus bezeichnet die kollektive Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung von paradiesischen Glückszuständen auf Erden.

[75] Haschim (442 – 464 n. Chr.) war der Urgroßvater Mohammads

[76] Zitiert in: Seijed Ataolalah Mohadjerani: Zeynab, Pajamavar-e Aschura (Zeynab, die Botschafterin von Aschura), Teheran 1373 (1994), S. 299

[77] Zitiert in: Aliakbar Alikhani, Morteza Bohrani, Schahid und Schahadat dar Adeije und Zijarat, S. 231

[78] ibid, 229

[79] „Erzähle ihnen die Geschichte der zwei Söhne Adams, wie sie sich in Wahrheit zutrug. Als sie ihr Opfer darbrachten, und das Opfer des einen angenommen und das Opfer des anderen nicht angenommen wurde, sagte Qabil (Kain): »Dich bringe ich um!« Abel antwortete ihm: »Gott nimmt nur das Opfer der Frommen an. Solltest du deine Hand ausstrecken, um mich zu erschlagen, so will ich die meinige nicht ausstrecken, um dich umzubringen, denn ich fürchte Gott, den Herren der Welt. Ich wünsche nur, dass du meine und deine Sünden trägst und auf ewig im Höllenfeuer schmorst, denn das ist der Lohn der Ungerechten.« Doch Kains Herz war so verhärtet, dass er seinen Bruder auf der Stelle erschlug, und so gehörte er nun zu den Verlorenen...“ (Koran, Sure 5, Vers 28 ff.)

[80] In der Regel wird im Zusammenhang mit Sozialisierung der Menschen von „Verinnerlichung“ bestimmter Werte und Normen gesprochen, obwohl jede Sozialisierung einhergeht mit einer mehr oder weniger weitgehenden Individualisierung des sozialen Habitus im Prozess individueller Aneignung bestimmter Verhaltens- und Erlebensmuster

[81] ‚Aschura’ ist der 10. Tag des ersten Monats Muharram im muslimischen Kalender. Er ist für die Schiiten der Tag der Tragödie von Kerbala, d.h. der blutigen Niederlage von Hussein.

[82] Mit den ‚Erwartungs-Erwartungen, verweise ich auf die Identitätsfunktion der „verinnerlichten“ bzw. individualisierten Verhaltens- und Erlebensmuster

[83] Sie sind entsprechend der vorherrschenden Macht- und Statusverhältnisse verbunden mit gruppencharismatischem bzw. gruppenschändlichem Selbstbezug der Etablierten und Außenseiter.

[84] Vergl. Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München, 1997, S. 166: „In dem Maße, wie sich das Gehirn dispositionelle Repräsentationen von Wechselwirkungen mit Dingen und Erlebnissen einverleibt, die für die innere Regulation relevant sind, erhöht sich die Aussicht, dass auch Dinge und Ereignisse einbezogen werden, die nicht unbedingt direkte Bedeutung fürs [physische] Überleben haben müssen. […] Nicht nur die Trennung von Geist und Gehirn ist ein Mythos – auch die Trennung von Geist und Körper dürfte fiktiv sein. Der Geist ist in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes verkörpert, nicht nur verhirnt.“

[85] Vergl. Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder, S. 16.

[86] Vergl. Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002, S. 60

[87] Vergl. Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder, S. 16.

[88] Ibid, S. 83f.

[89] Vergl. Gerald Hüther: Biologie der Angst, S. 9

[90] Die Mechanismen, die der hier ausgeführten Symbolisierung und Re-Kontextualisierung der Kerbala-Legende zugrunde liegen, sind nun keineswegs islamspezifische oder überhaupt kulturspezifische Vorgänge, sondern als De- und Re-Kontextualisierung von Geschichten, Bildern und Legenden ein gängiger Mechanismus des menschlichen Gedächtnisses bei seinem Erinnern und Vergessen. Von daher wären diese Ausführungen über die ‚Phantasie­gesättigtheit’ der Verhaltens- und Empfindensmuster bestimmter Menschen dann irreführend, wenn man sie sich als etwas der Rationalität einer anderen Kultur/Zivilisation diametral Entgegengesetztes vorstellt. Das, was oft etwas idealisierend und bisweilen den ‚Irrationalen’ gegenüber etwas herablassend als Rationalität bezeichnet wird, ist 1.) ein jeweils figurationsspezifisch gewachsenes Bewertungsmuster, 2.) keine Leistung eines denkenden Gehirns, sondern ein leiblicher, bzw. auf einer verleiblichten Erfahrung beruhender Vorgang. Auf diese beiden Punkte möchte ich hier kurz hingewiesen haben, um den Stellenwert des sozialen Habitus als „zweiter Natur“ zu veranschaulichen und zugleich einem möglichen Missverständnis der ‚Verhirnlichung’ der Erfahrung entgegenzuwirken. Dabei greife ich auf Antonio R. Damasios Zugangsversuch zu einer ‚Neurobiologie der Rationalität’ zurück, der der Vorstellung von Rationalität als einer Art ‚höheren Vernunft’, die ohne Gefühle auskomme, die ‚Hypothese der somatischen Marker’ entgegensetzt.

[91] Vergl. Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 239

[92] ibid.: S. 246

[93] Vergl. Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 11

[94] ibid.: S.75f

[95] M.M. Mesulam, bei Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 44

[96] ibid.: S. 44

[97] Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 56

[98] Vergl. ibid.: S. 221

[99] Vergl. ibid.: S. 157f

[100] Vergl. ibid.: S. 21

[101] Vergl. ibid.: S. 13f u. S. 221.

[102] Zwar gibt es einen mehr oder weniger geronnenen Aggregatzustand des kommunikativen Gedächtnisses in Form des ‚kulturellen Gedächtnisses’, doch die zentrale Eigenschaft des kommunikativen Gedächtnisses besteht in seiner Flüssigkeit. (Vergl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 221) Es ist daher die Aufgabe der Sozialwissenschaften, den Verlauf dieses Kontinuums, den es unter dem maßgeblichen Druck der Wirklichkeit nimmt, zu untersuchen und zu erklären. Die fließenden figurationalen Ausgestaltungen, in die die Menschen verflochten sind, sowie die Ausgestaltungen der fließenden Valenzfigurationen der Menschen und das Verhältnis dieser beiden ‚Aspekte der Beziehung’ sind im Wesentlichen das, was mit dem maßgeblichen Druck der Wirklichkeit gemeint ist.

Der hier zur Hilfe genommene Begriff der ‚Habitusschichten’ als figurationsspezifische Prägungsmuster ist ein geeignetes Mittel, diese Aspekte zusammenzudenken, unter Beibehaltung ihrer Prozesshaftigkeit und mit der Möglichkeit, den Prozessverlauf als Dynamik qualitativ zu spezifizieren. Damit kann überhaupt erst die Frage angemessen formuliert werden, wie und warum nach jahrzehntelangen Modernisierungsprozessen und Idealisierungen ‚der’ westlichen Zivilisation eine frühere Habitusschicht im Namen des Islam dominant und auf diese Weise wirksam werden konnte.

[103] Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder, S. 114ff.

[104] Vergl. Hans G. Kippenberg: Jeder Tag ‚Ashura’, jedes Grab Kerbala, S. 217ff.

[105] Eine islamische Organisation mit dem Ziel, die arabischen Länder von der Fremdherrschaft Andersgläubiger zu befreien und eine humanitäre Weltzivilisation auf islamischer Grundlage zu schaffen. Die Muslim-Bruderschaft wurde 1928 in Ismailia (Ägypten) als Geheimbund gegen die britische Vorherrschaft gegründet. Nach 1945 wurde sie ein wichtiger politischer Faktor, dessen sich anfänglich Nasser bediente. 1954 wurde die Muslim-Bruderschaft von ihm verboten, ihr großes Vermögen beschlagnahmt. Von Ägypten aus verbreitete sie sich auch über Palästina, Syrien, Jordanien und den Sudan, wo sie 1955 den Ausschlag gegen die Vereinigung mit Ägypten gab. 1954-1958 war Damaskus ihr Mittelpunkt.

[106] Ernest S. Wolf: Theorie und Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie, Ffm. 1998, S.73.

[107] Bei folgender neurobiologischer Begründung des „Teufelskreises“ einer zunehmend phantasie­gesättigten Orientierungs- und Steuerungsmittel angesichts einer Gefahrensituation beziehe ich mich auf Gerald Hüthers Versuch der Verknüpfung der ‚äußeren und inneren Gestaltungskraft aller Lebensformen’ (Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder) sowie seine Ausführungen zu neuesten Erkenntnissen über die biologische Funktion der Stress­reaktion. (Gerald Hüther, Biologie der Angst). Dabei folge ich streckenweise seinen dies­bezüglichen knappen Formulierungen.

[108] Michaela Huber, Trauma und die Folgen, Trauma und Traumafolgen, Teil 1, Paderborn 2003, S. 39

[109] Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder, S. 118f.

[110] Vergl. ibid., S. 120

[111] Vergl. ibid. S. 120f.

[112] Gerald Hüther, Biologie der Angst, 114

[113] In der Regel wird die Vergewaltigungserfahrung nur auf die sexuelle Vergewaltigung der Frauen reduziert, die mit dem Entwicklungsschub der Frauenbewegung vor allem in den USA zum verstärkten Entwicklungsschub der Psychotraumatologie führte. (Vergl. Judith Herman: Die Narbe der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, Paderborn 2003.) Es ist aber unübersehbar, dass sich die Ausweg­losigkeit der Lage der Islamisten keinesfalls von den traumatischen Erfahrungen der vergewaltigten Frauen und der „Kriegsveteranen“ strukturell unterscheidet. Es würde daher zu einer enormen Einsicht in die Gruppenprozesse beitragen, wenn die bisherigen Ergebnisse der Psychotraumatologie modifiziert auf die gewaltsame Dynamik zwischenstaatlicher und Groß­gruppen­beziehungen herangezogen werden. Dies wäre aber nur möglich, wenn die natürliche Gruppenbezogenheit der Individuen nicht außer Acht lassen wird.

Bedauerlicherweise ist aber in der Psychotraumatologie bis jetzt nahezu ausschließlich das individuelle Opfer der Gewalterfahrung der Ausgangspunkt theoretischer und therapeutischer Überlegungen, obwohl sie ihre Entstehung und massiven Entwicklungsschübe der Unter­suchung der traumatisierten Soldaten und Veteranen des ersten und zweiten Weltkrieges sowie des Vietnamkrieges verdankt. Sie wurde zwar dank des vollzogenen Paradigmen­wechsels unter dem Einfluss der Frauenbewegung in den USA auf die Gewalterfahrung der Frauen inner- und außerhalb der Ehe-Beziehungen ausgeweitet. Trotzdem werden immer noch Gewalterfahrungen der Menschen in ihren Beziehungen als Großgruppen in der Regel vernachlässigt.

[114] Vergl. Gerald Hüther, Biologie der Angst, S. 37

[115] Vergl. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967

[116] Zum inhaltlichen Vergleich siehe: Werner Schmucker, Iranische Märtyrertestamente; in: Die Welt des Islams XXVII, 1987, S. 199ff. Allerdings teile ich nicht den Eindruck der von Schmucker festgestellten „gravierenden, formalen und inhaltlichen Unterschiede“, wenn von ihm die folgenden Punkte hervorgehoben werden – mit dieser Sicht wird die Gemeinsamkeit ihres chiliastisch geprägten Nativismus als demonstrative Hervorhebung der eigenen positiven Selbstbewertung gegen die zu bekämpfende Sie-Gruppe außer Acht gelassen. Nur wenn ihre manichäisch geprägten Selbstwertbeziehungen übersehen oder ignoriert werden, kann man die säkulareren Testamente von ML-Aktivisten wie folgt unterscheiden: „Keine meta­physische Bindung, kein charismatischer Bezugspunkt, keine dualistische Personifizierung des Guten und des Bösen, damit keine Sakralisierung, keine Dämonisierung. Keine Selbstüberheblichkeit und Selbstgefälligkeit. Kein ‘Heilsparteientum’ nach dem Zuschnitt von Hisbollahs.“ (ibid.: S. 199). Siehe auch Dawud Gholamasad, Iran – Die Entstehung der Islamischen Revolution, Hamburg 1985, S. 583ff.

[117] Während sich der ‚Nativismus’ – als demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werte – auf ihr gruppencharismatisches Selbstverständnis bezieht, verweist der Chiliasmus auf ihre kollektive Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung paradiesischer Glückzustände auf Erden.

[118] Am 16. April 1993 sprengte sich zum ersten Mal ein palästinensischer Selbstmord­attentäter der Hamas in die Luft – da startete gerade der Friedensprozess von Oslo. Das Attentat im Westjordanland zeigte, dass es der 1987 gegründeten Palästinensischen Organisation nicht an einem Ausgleich mit Israel gelegen ist, sondern an der Vernichtung des zionistischen Staates. (Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 13.06.2003)

[119] Ich ziehe die durch Friedemann Schulz von Thun differenzierten vierdimensionalen Aspekte der Kommunikation (Miteinander Reden 1, Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg, 200439, S. 25ff.), dem zweidimensionalen Modell von Paul Watzlawick vor, der nur die Inhalts- und Beziehungsaspekte der Kommunikation voneinander unterscheidet. (Paul Watzlawick et al., Menschliche Kommunikation, Bern; Stuttgart; Wien 19826)

[120] Zum Inhaltsaspekt der Testamente siehe: Werner Schmuckers in dieser Hinsicht hervor­ragende Darstellung: Iranische Märtyrertestamente.

[121] „Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen“

[122] Wörtlich „der Geführte“, davon abgeleitet: „der, der zu führen in der Lage ist, der Führer“. Ein Herrscher, der in den letzten Tagen auf der Erde erscheinen soll. Nach Auffassung der Schiiten ist er bereits in der Person Mohammed Abu´l-Qasims, des zwölften Imams, er­schienen, der sich an einem geheimen Ort verborgen hält, bis er am Ende der Welt wieder auftreten wird. Im Gegensatz dazu ist der Mahdi nach der Überzeugung der Sunniten noch nicht erschienen. (Vergl. Thomas Patrick Hughes, Lexikon des Islam, S. 455ff.)

[123] Menschen assoziieren und dissoziieren in beinahe jedem Augenblick ihres Lebens. Dabei fügen sie zusammen (assoziieren) und trennen wieder oder schieben beiseite (dissoziieren), was von ihrem Selbst als zu unwichtig oder zu brisant eingeschätzt wird. Wer gut dissoziieren kann, vermag sich oft „wegzubeamen“ aus der zusammenhängenden Wahrnehmung der Alltags­realität. Dissoziation wird auch in Stress-Situationen besonders als Abwehr­mechanismus eingesetzt. Zu diesen Abwehrmechanismen gehören: Biographische oder Alltags-Amnesie; „Derealisierung“ als inadäquate Wahrnehmung der Realität bei sonst normaler Funktion der Wahrnehmungsorgane; “Depersonalisierung“ als inadäquate Selbst­wahrnehmung oder Teile davon; „Fugue“, sich körperlich von einem Ort an einen anderen begeben und sich dort wieder finden, verbunden mit Amnesie. (Vergl. Michaela Huber, Trauma und die Folgen, Bd. 1, S. 53 ff.)

[124]„Himmelfahrt“ bedeutet in der persischen Sprache „mêr ãğ“, etwas, was jeder Märtyrer anstrebt.

[125] Testamentteil, 86/64; in: Seyyed Mehdi Fahimi (Hrsg.), An Encyclopedia of the War Front, S. 22.

[126] Testamentteil 79/64; in: ibid.: S. 21.

[127] Thomas Patrick Hughes, Lexikon des Islam, S.314.

[128] Uwe P. Kanning, Selbstwertmanagement, S. 192ff.

[129] Testamentteil, 123/62; in: Seyyed Mehdi Fahimi (Hrsg.), An Encyclopedia of the War Front, S. 16

[130] Testamentteil 5/60, ibid.: S. 306ff.

[131] Testamentteil 5/60, ibid.: S. 78ff.

[132] Testamentteil 108/62, ibid.: S. 17 

[133] Testamentteil 3/61, ibid.: S. 42f.

[134] Testamentteil 123/62, ibid.: S. 16; 121/62, 108/62 ibid. S. 16 & 17

[135] Testamentteil 122/62, ibid.: S. 16

[136] Testamentteil 7/61, ibid.: S. 79

[137] Testamentteil 11/62, ibid.: S. 67

[138] Vergl. Norbert Elias, John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Ffm. 1990, S. 43f.

[139] Vergl. ibid.: S. 311f.

[140] Werner Schmucker, Iranische Märtyrertestamente, S. 202ff.

[141] Vergl. Dawud Gholamasad, Iran – Die Entstehung der Islamischen Revolution, S. 544ff.

[142] Werner Schmucker, Iranische Märtyrertestamente, S. 199

[143] ibid.

[144] Vergl. Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder, S. 13f.

[145] Vergl. Schmsuddin Amir Alaí´i, Modjahedan wa schahedan-e rah-e azadi, Teheran 1358, S. 528 ff.; Zitiert bei Werner Schmucker, Iranische Märtyrertestamente, S. 532f.

[146] Bei akutem Stress können manche Menschen sehr stark mit Ausblenden oder Wegdrücken von Elementen reagieren, die normalerweise integrativ wahrgenommen werden. (Vergl. Michaela Huber, Trauma und die Folgen, Bd. 1, S.62)

[147] ibid.

[148] Vergl. Norbert Elias, John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, S. 308

[149] Süddeutsche Zeitung.de vom 12.06.2003

[150] Wolfgang Schmidbauer, Der Mensch als Bombe, S. 15

[151] „Unter Bedingungen, die sicher nicht leicht zu erforschen sind, die im Dunkeln liegen und deren Formen mit ihrer Umgebung verschmelzen, kann der Mensch explodieren. Er verliert jede Struktur, wird unberechenbar, vernichtet andere oder sich selbst.“ (ibid.: S.9)

[152] Heiko Flottau: Rache statt Religion. Die Motive palästinensischer Extremisten haben sich geändert, in: Süddeutsche Zeitung, 01.08.2002; Vergl. ansonsten Raid Sabbah, Der Tod ist mein Geschenk. Die Geschichte eines Selbstmordattentäters, München 2002

[153] Vergl. Norbert Elias, John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, S. 203, 308

[154] “Ich hoffe, dass ich bei Hussein und den Märtyrern auf dem Weg der Wahrheit und Islam nicht beschämt und gedemütigt werde, sondern mit den Märtyrern von Kerbala ruhmreich werde und Gottes Güte erfahre.“ (Testamentteil Nr. 17/62, in: Seyyed Mehdi Fahimi, An Encyclopedia of the War Front, S.17)

[155] „Martyrium ist Ruhm“, war einer der Aussprüche Khomeinis, die “Märtyrer“ gern als ihren Leitgedanken in ihren Testamenten  zitieren: “Bittet Gott, dass Er euch Gelingen gebe, Gelingen des Martyriums und Gelingen des Ruhmes gebe; Martyrium ist Ruhm“: Übersetzt bei Werner Schmucker, Iranische Märtyrertestamente, S. 202

[156] Julia Gerlach, Globalisierung auf Islamisch; in: DIE ZEIT 37/2002

[157] Testamentteil Nr. 108/62, bei: Seyyed Mehdi Fahimi, An Encyclopedia of the War Front, S. 17