Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Wasserschlacht im Park als Akt des zivilen Ungehorsams im Iran

mehriran.de - Interview mit Prof. Dawud Gholamasad aus dem Jahr 2006. Obwohl sich der zivile Ungehorsam in den letzten Jahren zu offenen Protesten ausgeweitet hat, veröffentlichen wir hier dieses Interview, um auf den Entwicklungsverlauf der Stimmung im Iran aufmerksam zu machen.

 

mehriran.de - Herr Gholamasad, in Ihrem neuen Buch über die "Grüne Bewegung" im Iran betonen Sie, sie sei ein Zeichen für eine massive gesellschaftliche Veränderung, nämlich die Abkehr von der Verherrlichung des Toten hin zur Sehnsucht nach Leben, Freude und Selbstverwirklichung. Aber zurzeit scheint, dass die Reformbewegung gescheitert ist.

Die „Grüne Bewegung“ wird schon von Anfang an – vor allem durch das Regime – für tot erklärt. Und andere halten sie jetzt für gescheitert. Doch sie ist weder das eine noch das andere. Sie hat sich vielmehr zu einer Transformationsbewegung verwandelt. Gescheitert sind  diejenigen, die das bestehende System erhalten und nur ein wenig reformieren wollten. Zu ihnen gehörten die Kontrahenten Ahmadinedschads bei den letzten Wahlen, einige Anhänger von Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi. Das bedeutet aber nicht, dass die Alternative eine gewaltsame Transformation sein muss. Die iranische Gesellschaft erfährt derzeit einen fundamentalen Wandel: Die heutige Jugend will nichts mehr von Märtyrertum und der Liebe zum Toten (Nekrophilie) wissen. Sie will lebendig leben. Sie will nachholen, was ihr lange verwehrt wurde.

Seit Monaten riskieren junge Muslime in Nord-Afrika und im Nahem Osten ihr Leben, wenn sie gegen die Despoten rebellieren. Warum schweigt die Jugend Irans?

Die „Grüne Bewegung“ hatte eine blutige Konfrontation stets vermieden. Und dies wird als ihr Scheitern interpretiert. Das ist aber zu kurz gedacht. Im iranischen Alltag verhalten sich viele Menschen subversiv gegen das Regime. Sie leisten nichts anderes als zivilen Ungehorsam.


Wo erkennen Sie denn den Widerstand gegen das Regime?


Man übersieht ihn leicht, weil er nicht wie Widerstand wirkt. Vor einigen Tagen zum Beispiel haben sich Jugendliche im Norden Teherans bei einer Wasserschlacht mit Wasserpistolen ausgetobt. Später wurde ihr Spiel im Staatsfernsehen verurteilt. Oder Jugendliche unterstützen verarmte Straßenkinder, indem sie in Teheran demonstrativ Autos   waschen und ihnen das Geld überlassen. Solche Aktionen werden aber verteufelt. Ganz zentral ist bei all den Aktionen das, wofür die "Grüne Bewegung" steht: Sie repräsentiert die Liebe zum Leben und Lebendigen. Und so lange diese Tendenzen existieren, existiert auch die transformierende Bewegung im Iran. Besonders junge Menschen merken, dass das System instabil wird. Und sie suchen dann nach Wegen, ihr lebendiges Leben zu gestalten.


Wo sehen Sie die Konfliktlinie zwischen der Jugend und dem Regime?


Die Herrschaft der Schriftgelehrten basiert auf einem menschenverachtenden Bild des ewig Unmündigen, der stets einen Vormund in Gestalt der Schriftgelehrten bedarf. Als Unmündige hat er zudem keine Rechte sondern nur Pflichten. Dabei stehen nicht die staatlichen Institutionen im Dienste der Menschen, sondern die Menschen im Dienste der bestehenden Ordnung. Diese Staatsauffassung aber ist angesichts der Lebendigkeit der Jugend kaum durchsetzbar. Millionen junger Menschen im Iran wollen nicht im Dienste eines Unterdrücker-Regimes stehen, sondern sich selbst verwirklichen. Die Menschen, die vor zwei Jahren auf die Straßen gingen und für ihre Rechte demonstrierten, gehören zu jenen, die zunehmend rechts-bewusst geworden sind. Sie fühlen sich als mündige Bürger und stehen damit im Widerspruch zu einem Regime, das sie für ewig unmündig hält.


Warum meidet die Opposition einen aktiven Kampf gegen den obersten Ajatollah und den Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad?


Dass die "Grüne Bewegung" Organisationsprobleme hat, lässt sich nicht bestreiten. Sie hängen ganz zentral damit zusammen, dass das Regime die Kommunikationskanäle der Gesellschaft kontrolliert und regelt. Nicht umsonst forciert Iran derzeit ein eigenes Internetnetz. Die Folgen sind, dass ohne eine freie Kommunikation keine Organisation möglich ist. Diese Reformbewegung besteht daher aus keiner Partei oder einem Verband. Doch innerhalb dieser Bewegung gibt es sehr wohl organisierte Gruppen, wie etwa Ansätze unabhängiger Arbeiter- und Frauenbewegungen, die islamisch reformorientierten Parteien, ethnische (wie kurdische oder belutschische) und konfessionelle Organisationen (wie Derwisch-Orden, Bahais, Christen, Juden).


Behindern zu viele Interessen die Opposition? In anderen Ländern wie Ägypten und Syrien schaffen die Menschen es, sich auf ein Ziel zu verständigen - gegen das Regime.


Die Iraner haben sehr wohl gelernt, wozu es führt, wenn man sich nur gegen etwas auflehnt ohne zu wissen, wofür. Die Revolution von 1978/79 schuf die „Islamischen Republik“ mit ihrer über 30 jährigen blutigen Geschichte. Deswegen werden dieses Mal nicht mehr „die Köpfe“, sondern Interessen organisiert. Eine radikale Ideologie spielt bei der Organisation der neuen Bewegung keine Rolle mehr. Man könnte aber die „Grüne Bewegung“ jedoch in zwei Hauptströmungen teilen: Da sind einmal die islamisch geprägten Kräfte, die das Regime nur immanent reformieren wollen. So gesehen streben sie eine Stabilisierung der bestehenden Ordnung an.  Und die andere Strömung besteht (eher) aus (nicht religiösen) Kräften, die tatsächlich einen fundamentalen aber gewaltlosen Wechsel anstreben. Nach der blutigen Niederschlagung der friedlichen Proteste vor zwei Jahren und infolge vieler Verhaftungen, ist großen Teilen der Opposition klar, dass nur eine systemimmanente Reform der bestehenden Ordnung  nicht möglich ist.


Schließt sich eine langsame Reform aus dem Regime heraus aus?


Das Problem besteht darin, dass das Staatskonzept ein Quadratur des Kreises sein will: Es ist einerseits eine Republik und andererseits verbrieft die Verfassung die absolute Herrschaft der Schriftgelehrten. Sie sind eine Art Stellvertreter des verborgenen 12. Imams nach Mohammed. Ihre zentrale Aufgabe ist demnach die Sicherung der bestehenden Ordnung um jeden Preis, ohne die eine Anarchie zu erwarten sei. Und dieser Antagonismus zwischen Republik und der Schriftgelehrten-Herrschaft ist nur überwindbar, indem entweder die republikanische Komponente unterdrückt wird, was die Mächtigen schon seit Jahrzehnten tun. Oder die Republikaner überwinden die Schriftgelehrten-Herrschaft. Doch jeder Versuch, die Schriftgelehrten-Herrschaft verfassungsmäßig einzuschränken, ist bisher gescheitert.


Was muss geschehen, damit das Regime doch zu Veränderungen gezwungen werden kann?


Es geschieht bereits, indem Menschen ihr lebendiges Leben im Alltagsleben in phantasievollen Formen ständig auszuleben versuchen. Sie spielen ein Katz- und Mausspiel mit dem Establishment, das mit jeder Reaktion seine Legitimation zunehmend einbüßt. Die Wasserschlacht, die verteufelt wird, ist ein Teil dieses Spiels. Parallel können wir beobachten, dass die herrschenden Diskussion einer Säkularisierung folgt. Das ist ein klares Zeichen das das Establishment die "kulturelle Hegemonie" zunehmend einbüßt.  

 

Buch: Irans neuer Umbruch. Von der Liebe zum Toten zur Liebe zum Leben.
ecce_verlag, Hannover 2010, 109 Seiten - 9,90 Euro, ISBN: 978-3981397802

 

Interview aus dem Jahr 2006, mit freundlichem Dank an Prof. Dawud Gholamasad, Hannover