Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Zu zivilisatorischen Aspekten des interreligiösen Dialoges der monotheistischen Religionen

 

(Zur Zivilisierung und De-Zivilisierung des Menschen- und Gottesbildes in den islamisch geprägten Gesellschaften, wie sie sich in unterschiedlichen Lesarten des Islams manifestieren)1

 

 

 

In meinem heutigen Beitrag möchte ich über einige zivilisatorischen Aspekten des interreligiösen Dialoges der monotheistischen Religionen mit Ihnen diskutieren. Denn die gegenwärtige Sprachlosigkeit der gewalttätigen Islamisten und deren Identifizierung mit dem Islam als ein Wandlungskontinuum machen die Unterscheidung zwischen Zivilisierungs- und De-Zivilisierungsschüben des Menschen- und Gottesbildes in den islamisch geprägten Gesellschaften umso dringlicher denn je. Ohne diese wäre ein interreligiöser Dialog unmöglich. Diese Unterscheidung möchte ich am Beispiel der Entwicklung Irans diskutieren, weil er der erste "Islamische Staat" ist, wie er von Islamisten herbei gebombt wird.

 

Daher möchte ich zunächst hervorheben, dass es inzwischen ein breites Spektrum islamischer Strömungen unter den Geistlichen gibt, deren ausgeprägte polare Traditionslinien auf der einen Seite konservative Islamisten und auf der anderen Seite modern-liberale Muslime sind. Während Islamisten den Islam mit der Scharia gleichsetzen und ihn als Kodex präziser Rechts- und Verhaltensvorschriften begreifen, der die politisch relevanten Normen und Institutionen bindend festlegt, was einer demokratischen Grundordnung widerspricht; strebt die modernisierte Geistlichkeit danach, die Kompatibilität von Islam und institutioneller Demokratisierung dadurch herzustellen, indem sie die Scharia ethisiert und als Kanon grundlegender Maximen und Werte versteht, die den Menschen die Freiheit vernunftgeleiteter Deutung und Anwendung der heiligen Texte lassen und damit tendenziell eine Autonomisierung der „politischen Sphäre“ erlauben.

 

Diese Formalisierungs- bzw. Ethisierungstendenzen des Islams sind die beiden dominanten Entwicklungstendenzen des Islams, der wie jeder andere soziale Prozess zwar reversibel ist, aber eine gerichtete Entwicklung aufweist. Dessen Entwicklung ist aber ein Teilaspekt einer gesamtgesellschaftlichen Transformation, d.h. einer Veränderung der Sozial- und Persönlichkeitsstruktur der involvierten Menschen. Mit diesen Transformationsprozessen geht einher eine gerichtete Veränderung der Selbstwahrnehmung der Menschen hin zu einem zunehmend individualisierten, d.h. autonomeren und selbstwirksameren Selbstbild. Dieses Selbstbild ist die Manifestation der Verschiebung der Balance von Fremdzwängen und Selbstzwängen zu Gunsten der letzteren und damit auch der Balance von Trieb- und Selbstzwängen und der Veränderung der Art des individuellen Einbaus der letzteren im Laufe ihres Zivilisierungsprozesses. Denn Menschen sind von Natur aus nicht zivilisiert, aber sie haben von Natur aus eine Anlage, die unter bestimmten Bedingungen eine Zivilisierung, also eine individuelle Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung von den primären auf sekundäre Zielen hin und gegebenenfalls auch deren sublimatorische Umgestaltung, möglich machen.

 

Mit diesem zivilisatorischen Transformationsprozess des Selbstbildes der Menschen geht einher eine Transformation ihres Gottesbildes, das seine furchterregende Funktion als Stütze einer relativ gebrechlichen Selbstregulierung niemals verliert. Mit der zunehmenden Individualisierung des Menschen geht einher nicht nur der zunehmende Funktionsverlust Gottes als Ersatz für die sich zunehmend entwickelnden individuellen Gewissen und den Verstand. Er zivilisiert sich auch in der Vorstellung der Menschen. Er erscheint ihnen weniger leidenschaftlich, wild-, und unberechenbar. Er ist nicht mehr heute menschenfreundlich und voller Wohlwollen, morgen grausam, voller Hass und zerstörerisch, wie sehr mächtige Menschen und ungezähmte Naturgewalten, weil sich die schwankenden natürlichen und sozialen Gefahrenniveaus reduziert haben.

 

Diese interdependenten Selbst- und Gottesbilder der Menschen bestimmen als soziale a’priorien die Gerichtetheit ihrer gesamten Wahrnehmung. Daraus ergeben sich unterschiedliche Lesarten von Koran und Sunna. Diese Differenzen sind weniger den Texten selbst geschuldet als vielmehr den textfremden interdependenten Selbst- und Gottesbildern der Menschen. Als ihre Glaubensaxiome und Werthaltungen manifestieren sie ein Zivilisationsdifferential unterschiedlicher Menschen, bestimmen aber auch die Gerichtetheit ihrer Wahrnehmung der heiligen Texte und ihrer formalisierten und ethisierten Lesarten.

 

Es ist dieser veränderte Wahrnehmungseffekt der zivilisierten Gottes- und Menschenbilder der Geistlichkeit und ihrer Klientel, der sich in der Ethisierung des Islam manifestiert und den Menschen die Hauptrolle in der Gestaltung ihres sozialen Lebens einräumt; während ihre Formalisierung als Scharia diese Gestaltungschance untersagt. Dabei ist die Formalisierungstendenz des dominanten Teils der Geistlichkeit und ihrer Klientel - also der Islamisten - ein Nachhinkeffekt ihres sozialen Habitus. Als ein zivilisatorischer Gegenprozess ist diese letztgenannte Tendenz dominant geworden im Zusammenhang mit dem erhöhten Gefahrenniveau, das sie als Funktion der Modernisierung der Gesellschaft erfahren haben. Mit der Modernisierung ist nicht nur ein selbstwertrelevanter sozialer Abstieg der traditionellen sozialen Gruppen, wie der Großgrundbesitzer, traditioneller Händler und Gewerbetreibender verbunden, sondern auch der Funktionsverlust der Geistlichkeit. Die letzteren verlieren nicht nur ihre juristischen Funktionen sondern auch die dominante Stellung der Scharia als normativer Struktur der Gesellschaft, die sie als ihre eigen definierten Werte demonstrativ hervorheben und wieder einführen wollen.

 

Zu diesem schmerzhaft empfundenen, selbstwertrelevanten sozialen Abstieg kommt die mit der zunehmenden Individualisierung einhergehende Notwendigkeit der Selbststeuerung, die diese traditionellen sozialen Gruppen überfordert.

 

Es sind daher auch ihre relativ triebdurchlässigen, labilen und weniger autonomen Selbstzwangsinstanzen, die sich in ihrem Bedürfnis nach ständiger Unterstützung und Verstärkung durch Fremdzwänge manifestiert. Zu diesen Fremdzwängen gehören u. a. die Zwänge kollektiver Phantasien und ein Gottesbild, das als ihr forensisches Gewissen funktioniert. Zu deren Funktionen gehört die Hilfestellung und Verstärkung ihrer relativ fragilen persönlichen Selbstzwangsinstanzen. Diese Fragilität der eigenen Selbstzwangsinstanzen manifestiert sich in einem Bild von Menschen, die scheinbar ihres eigenen Glücks unkundig, ihren rebellischen Trieben unterlegen und zur normativen Strukturierung ihres sozialen, ökonomischen und politischen Lebens unfähig sind, für die Gott als Kompensation Gesetze erlässt.

 

Angesichts dieser Gesetzesunkundigkeit der Menschen bestehe die Sendung des Propheten in der Übermittlung der ewig geltenden göttlichen Gesetze. Aus diesem Grunde dreht sich für sie die Offenbarung Gottes nur um Gesetzgebung, während die göttlichen Gesetze das Herzstück ihres Islams bilden.  Dabei begreift die konservative Geistlichkeit wie jeder Islamist Gottesgesetzgebung im geläufigen Sinne und das Gesetz als Verkörperung der absolut geltenden Werte unter besonderen äußeren Bedingungen. Diesem Gottesbild als Gesetzgeber entspricht ihr interdependentes Menschenbild. Es ist das Bild eines in der Pflicht stehenden, unmündigen Menschen, ohne jeglichen Rechtsanspruch. Er ist nur Bewahrer der Gottessendung. Seine Pflicht sei nur begrenzt durch allgemeine Bedingungen wie die Machtverhältnisse und Vernunft.

 

 

 

Demgegenüber begreift der zivilisiertere Teil der Geistlichkeit die Gesetzgebung Gottes im Sinne von Erlassen und Bestätigung ewig gültiger Werte, wie z.B. Gerechtigkeit. Für sie ist Gott kein Gesetzgeber sondern in erster Linie der Garant der ethischen Grundsätze als Orientierungsmittel der Menschen. Demnach ist Gott der „Sinnstifter der Werte“, während die Sendung der Propheten in der Etablierung der ethischen Grundlagen der irdischen Gesetzgebung besteht.

 

Die anthropologische Voraussetzung dieses Gottesbildes ist der historisch konkrete Mensch, der Gott als eine forensische Gewissensinstanz und Fremdzwang als Selbstzwang weitgehend verinnerlicht hat - im Sinne  Jesu Christi, der sagt: "das wahre Reich Gottes ist inwendig". Für diesen Menschen ist die Religiosität eher ein mystisches Gefühl und Nachleben der göttlichen Moral und humanes Verhalten. Demnach habe die Geistlichkeit die Aufgabe, die sinnstiftenden Wertprobleme der Menschen als ihr zentrales Problem zu lösen. Für diese Geistlichkeit sind es diese historisch bedingten Menschen, die Gott mit seiner Offenbarung der ewig gültigen Wertmaßstäbe anspricht und die sich ihm gegenüber moralisch verpflichtet fühlen. Von daher erwarten sie in dem heiligen Text keineswegs absolut gültige Modelle der sozialen, ökonomischen und politischen Ordnung zu finden. Sie erwarten nur, die allgemeinen Gebote und absolut gültigen Werte für die sich permanent wandelnde Gesellschaft der Menschen zu finden – so Mohammed Mudjtahed Schabestari, einer der prominenten Geistlichen in Opposition zu den Islamisten.

 

Folglich sind es weniger die statisch gedachten Islam und Demokratie, deren Kompatibilität oder Inkompatibilität festgestellt werden sollen, als vielmehr miteinander konkurrierende, graduell unterschiedlich zivilisierte Muslime mit unterschiedlichen Lesarten ihrer heiligen Schrift. Das Ergebnis ihrer Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe ist zwar Folge einer kognitiven Umstrukturierung der islamisch geprägten Menschen. Doch diese Umstrukturierung selbst hängt ab von der sich verschiebenden Balance zwischen Engagement und Distanzierung der involvierten Menschen zugunsten der Distanzierung, wie sie sich aus dem empfundenen Gefahrenniveau ergibt. Letztere ist aber Funktion der globalen und nationalen Ziel- und Interessenkonflikte und der Art ihrer Austragung.

 

 

 

Zum postrevolutionären Zivilisierungsschub der religiösen Orientierung im Iran

 

 

 

Neben diesen polaren Positionen der Geistlichkeit entstand nach der "Islamischen Revolution" im Iran eine zunehmend größere Gruppe von  Muslimen, die sich auf eine neue Lesart des Korans als der einzigen Quelle der Glaubensaxiome und Werthaltungen der Muslime konzentrieren.

 

Doch bevor ich auf die innovativen Aspekte  ihres Islamverständnisses als ein Gegengift zum Islamismus eingehe, möchte ich zunächst thesenartig auf einen Zivilisierungsschub der religiösen Orientierung im nachrevolutionären Iran hinweisen, die ich als eine der unbeabsichtigten Folgen der Islamisierung der dortigen Revolution bezeichne; und als einen Nachholeffekt des sozialen Habitus der involvierten Menschen auffasse. Das bedeutet, dass ich den postrevolutionären institutionellen Ent-Demokratisierungs- und De-Zivilisierungsschub als einen Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Mehrheit der sozialen Träger der Revolution begreife. Als solche ist die „Islamische Republik“ der erste „Islamische Staat“ nach einer langen Modernisierungsphase in jüngster Geschichte, in der die dogmatische Tradition des Islams festgeschrieben wurde.

 

Da die Glaubensaxiome Setzungen sind, die nicht erkenntnismäßig, sondern bekenntnismäßig festgestellt werden, wurde mit der dogmatischen Tradition des Islams, die als Orientierungsmittel ein Ersatz für fehlende Instinkte der Menschen ist, über Jahrhunderte eine unschöpferische, starre Haltung der islamisch geprägten Menschen sich selbst, anderen Menschen und dem Leben gegenüber reproduziert. Diese Haltung manifestiert sich gegenwärtig in Gestalt des Islamismus, welcher im nachrevolutionären Iran einen Zivilisierungsschub auslöste.

 

 

 

Mit dem postrevolutionären Zivilisierungsschub der Glaubensaxiome der Gläubigen geht aber auch eine Transformation ihrer Werthaltungen – als zentrale Elemente der Kultur – einher, die den durch Instinktreduktion und Verhaltensunsicherheit gekennzeichneten Menschen, als generelle Orientierungsstandards dienen.

 

 

 

Diese Zivilisierung der Glaubensaxiome und Werthaltungen wäre aber ohne die traumatischen Erlebnisse der Menschen im nachrevolutionären Iran kaum vorstellbar gewesen. Mit den schmerzhaften Erfahrungen einer religiös legitimierten totalitären Herrschaft entstand ein massenhaftes Bedürfnis nach einer religiösen Umorientierung, welches gegenwärtig von den sich als „religiöse Innovatoren“ („Noandischan-e Dini“) bezeichnenden Muslime befriedigt wird.

 

 

 

Diese Zivilisierung des Islamverständnisses, die sich in einer religiösen Umorientierung manifestiert, ergab sich aus den Reformierungsversuchen des Islams u.a. durch neue hermeneutische Koran-Rezeptionen in seinem historischen Kontext unter Berücksichtigung der linguistischen Aspekte der Koran-Interpretation, da die Sprache die Welt ist, wie die Menschen sie erfahren. Zu diesen Reformationsversuchen gehören auch die neuen Forschungen zum Koran von Dr. Azmayesh, deren Rezeption ich sehr empfehle.

 

 

 

Einer der Aspekte der Zivilisierung der religiösen Orientierung offenbart sich vor allem in einem „barmherzigen Gottesbild“ gegenüber dem unbarmherzigen und blutrünstigen Gottesbild der herrschenden Islamisten. Damit wird eine „Religion der Barmherzigkeit“ der „unbarmherzigen Religion“ der Islamisten entgegengesetzt.

 

 

 

Um die Bedeutung der Zivilisierung des Gottesbildes zu begreifen, muss man die Zivilisierung als eine gerichtete Entwicklung individueller Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung auf sekundäre Ziele und deren Sublimierung begreifen. Diese ist eine Veränderung des sozialen Habitus bzw. der Persönlichkeitsstruktur der Menschen in Richtung auf ebenmäßigere, allseitigere und stabilere Selbstkontrollmuster. Dieser gerichtete psychische Transformationsprozess führt zum Strukturwandel des Seelenaufbaus der Menschen, zu dem auch die Gewissensbildung gehört.

 

 

 

Ohne sich je von Fremdzwängen völlig loszulösen, gewinnen außerdem die Selbstzwänge gegenüber den Fremdzwängen größere Autonomie. Zu diesen Fremdzwängen gehören auch die religiösen Phantasien und Mythen sowie Götter: "Nun habt ihr im Koran einen klaren Beweis von eurem Herren, eine Rechtleitung und Barmherzigkeit".(Der Koran, Sure 6, Vers 157)

 

 

 

Die Götter haben auf früheren Entwicklungsstufen, also etwa auf den durch Stämme und andere vorstaatliche Überlebenseinheiten repräsentierten Stufen Funktionen, die auf späteren Stufen in weit höherem Maße vom individuellen Gewissen und Verstand erfüllt werden. Für die heutigen gottesfürchtigen Gläubigen hat ihr Gott daher eine gewisse forensische Gewissensteilfunktion, dessen Zivilisierung eine entscheidende Bedeutung zukommt; damit können Menschen mit sich selbst und mit anderen Menschen friedlicher leben.

 

 

 

Dazu kommt einer realitätsangemesseneren Darstellung der Anfangsgeschichte des Islams sowie der Biografie des Gründers des Islam, Mohammed, eine entscheidende Bedeutung zu, weil er und seine tradierten Verhaltens- und Denkweisen für die Gläubigen einen fremdzwangsartigen Vorbildcharakter haben. Eine der wesentlichen innovativen Beiträge von Dr. Azmayesh besteht in seiner neuen Darstellung der Anfangsgeschichte des Islams als Fortsetzung der Abrahamischen Traditionslinie und der Biografie Mohammeds.2

 

 

 

Damit werden dem Islamismus als einer globalen Herausforderung alternative Lesarten des Islams als eines Wandlungskontinuums entgegengesetzt. Denn der Koran ist nicht nur geschrieben; er muss auch gelesen werden. Damit wird das nicht mehr lebendige Wort wieder lebendig. Denn Lesen und Denken sind Lebensäußerungen und verleihen den Worten das Leben, das sie verlieren, sobald sie niedergeschrieben worden sind.

 

 

 

So kann man die Aussage, Mohammed sei der letzte Gesandte Gottes gruppencharismatisch auslegen und wie die Islamisten „als auserwählte Kinder Gottes“ die Weltherrschaft beanspruchen. Oder sie als Beginn der Aufklärung im Sinne Kants als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ begreifen; und dabei den Wahlspruch der Aufklärung bedienen: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Dabei kann man sich wie Dr. Azmayesh auf  den Koran, Sure 21, Verse 51 - 71 beziehen, in dem Abraham die Götzenanbeter fragt: "Wollt ihr euch nicht des Verstandes bedienen?" Wobei Abraham als -  mit dem Verstand ausgestattetes - Vorbild eines ritterlich gesinnten Edelmannes für die ganze Menschheit dargestellt wird: "Wir gewährten vordem Abraham Denkvermögen und das  Nachdenken über die Wahrheit, und wir wussten Bescheid über ihn." (Sure 21, Vers 51)

 

 

 

Wir lesen, dass wir uns Gottes Gesetze unterwerfen sollen im Sinne der Islamisten als einer Unterwerfung unter die Scharia; oder diese als Naturgesetze entdecken und befolgen; bzw. als soziale Regelmäßigkeiten wie z.B. der Zivilisation erkennen und uns entsprechend den Zivilisationsstandards - als moralphilosophisch begründete Gebote und Verbote - benehmen. In diesem Sinne folgen wir verantwortungsbewusst den Natur- und Humanwissenschaftlern sowie den Moralphilosophen als neuen Propheten, die durch Paradigmenwechsel immer erneut ersetzt werden können. Dabei können wir im Sinne Aristoteles ein Gebot A nicht als etwas Gutes befolgen, weil es Gott geboten hat; sondern weil das Gebot A im Sinne des Zivilisationsstandards gut ist, wurde es uns von Gott auferlegt: "Er hat herab gesandt zu dir das Buch mit der Wahrheit, bestätigend das, was ihm vorausging; und vordem sandte Er herab die Thora und das Evangelium als eine Richtschnur für die Menschen; und Er hat herab gesandt die Maßstäbe", (weil sie gut sind) (Der Koran, Sure 3, Vers 1 - 3)

 

 

 

Wir können uns fatalistisch dem von Gott bestimmten Schicksal hingeben oder unser Schicksal als Ergebnis der selbstverantwortlichen Lösung der vom Leben gestellten Aufgaben begreifen: "In der Prophetengeschichte liegt eine Lehre für Menschen, die sich des Verstandes bedienen." (Der Koran, Sure 12, Vers 111)

 

 

 

Wir können Sure 4, Vers 62 im Koran: „Oh ihr, die glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben“ so auslegen, wie die Theologen den Vers auffassen, die Jahrhunderte lang die „orientalische Despotie“  als Usurpatoren begriffen, aber trotzdem als  „Schatten Gottes auf Erden“ und Garanten der Ordnung und der Unterbindung der Anarchie legitimierten. Oder wie Khomeini als Begründung der Notwendigkeit der Hierokratie heranziehen, weil die Menschen angeblich unmündig seien und eines Vormundes bedürfen. Und solange der entrückte zwölfte Imam Mahdi nicht wieder erscheint, komme diese Aufgabe der Geistlichkeit zu.

 

Schließlich kann man auch, die Volkssouveränität als Grundprinzip einer demokratisch verfassten Gesellschaft vorausgesetzt, daraus eine Parlamentarische Demokratie  legitimieren.

 

 

 

Es ist also nicht nur geschrieben; es muss auch gelesen werden. Darauf kommt es an, wie es auch im Koran hervorgehoben wird: "Er ist es, Der dir das Buch herab gesandt hat. Es enthält eindeutige, grundlegende Verse, die den Kern des Buches bilden und Verse, die verschieden gedeutet werden können. Diejenige aber, die abwegige Absichten hegen, befassen sich vorrangig mit den nicht eindeutigen, mit der Absicht, Verwirrung zu stiften und eigene Deutungen zu entwickeln. Die einzig richtige Deutung weiß nur Gott allein."( Der Koran, Sure 3, Vers 7)

 

Schon daraus geht hervor, dass die Entstehung verschiedener Islamversionen auf einige mögliche kommunikative Missverständnisse der Konvertierten hervorgeht, wenn man einen bewussten Betrugsversuch der scheinbar "Bekehrten" ausschließen will. Dies vor allem, wenn man die Kommunikationsverflechtungen im Koran nicht berücksichtigt. Eine nicht Berücksichtigung dieses kommunikativen Aspektes der Koranversen, gepaart mit der Annahme der Heiligkeit des Buches und alles, was drin steht, hat zu erheblichen Missverständnisse unter den buchstabentreuen Muslime geführt.

 

 

 

Was daher eine realitätsangemessene Lesart vor allem kennzeichnet, ist eine kommunikationspsychologische Interpretation der Bekenntniszusammenhänge im Koran, wie ich sie verstehe. Dies wäre ohne eine historische Kontextualisierung der in der Regel missverstandenen Wörter im Koran nicht angemessen möglich, wenn man die vier Dimensionen dieser Kommunikation differenziert aus dem Munde Mohammeds und seiner Adressaten berücksichtigen wollte. Im Unterschied zur sonst üblichen dogmatischen und buchstabentreuen Lesart, die das Buch zu einem Steinbruch verwandeln, aus dem manche das herausholen, was sie wollen, muss die kommunikationsdiagnostische Lesart der Botschaft Mohammeds folgende vier Dimensionen seines Kommunikationszusammenhanges mit seinen Gegnern und den scheinbar Bekehrten berücksichtigen, wie sie im Koran vermittelt werden:

 

 

 

  1. Den inhaltlichen Aspekt, d.h. worüber gegenseitig gesprochen wurde,

  2. Den Selbstoffenbarungsaspekt, d.h. was gegenseitig von sich selbst kundgegeben wurde,

  3. Den Beziehungsaspekt, d.h. was die Kommunikationspartner gegenseitig voneinander gehalten haben,

  4. Den Appellaspekt, d.h. wozu sich die Kommunikationspartner veranlassen wollten.

 

 

 

Nur so können die abweichenden Ziel- und Zwecksetzungen der Bekenntnisse Mohammeds und seiner Bekehrungsversuche und der seiner Gegner und der scheinbar Bekehrten aus den Koran-Versen herausdestilliert werden. Dabei können die abweichenden persönlichen Zwecksetzungen der scheinbar Bekehrten und den von Mohammed vorgegebenen Leitbilder der Gläubigen unterschieden werden, um die weitere Geschichte des Islams als eines Wandlungskontinuums im Sinne der Etablierung eines Herrschaft legitimierenden Dogmas zu begreifen. Denn man fragt nicht, woher, durch welche Ursache sich das menschliche Handeln bestimmt, sondern man fragt, wozu, im Dienste welches Zweckes verhält sich der Mensch so, wie er sich verhält.: "...Wir haben dir den Koran nicht herab gesandt, damit du dich über die Ungläubigen grämst, sondern er ist vielmehr eine Ermahnung an die, die Gott fürchten" (Der Koran, Sure 20, Vers 1 - 3)  

 

 

 

Aus diesen Ziel- und Zweckkonflikten heraus entstanden schon zu Lebzeiten Mohammeds hautsächlich zwei Islamversionen, die über 14 Jahrhunderte die Geschichte des Islams prägten. Schon im Koran, Sure 3, Verse 7 - 8 wird auf die verschiedene Lesarten des Korans hingewiesen, weswegen ich hier noch einmal widerholen möchte: "Er ist es, Der dir das Buch herab gesandt hat. Es enthält eindeutige, grundlegende Verse, die den Kern des Buches bilden und Verse, die verschieden gedeutet werden können. Diejenige aber, die abwegige Absichten hegen, befassen sich vorrangig mit den nicht eindeutigen, mit der Absicht, Verwirrung zu stiften und eigene Deutungen zu entwickeln. Die einzig richtige Deutung weiß nur Gott allein." Daraus geht hervor, dass es schon seit Mohammed verschiedene Islamversionen gegeben hat. Ein interreligiöser Dialog muss daher diese Tatsache unbedingt berücksichtigen

 

 

 

1 Vortag in Leipzig mit dem Rahmenrhema "islamisch-christlicher Dialog"

 

2 Seyed Mostafa Azmayesh, "Neue Forschungen zum Koran - Wie und warum es zu zwei gegensätzlichen Islam Versionen gekommen ist", Hannover 2016. Selbstverlag: Kontakt und Anfrage über: koranbuch@gmail.com