Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

2

Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Iran - quo vadis

Iran - quo vadis: Einige Thesen zu Charaktermerkmalen der „Islamischen Republik“ und den sich daraus ergebenden Entwicklungsperspektiven[1].

 

„Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.“ (Albert Einstein)

 

In meinem heutigen Beitrag möchte ich mit Ihnen über die Charaktermerkmale der „Islamischen Republik“ und die sich daraus ergebenden Entwicklungsperspektiven diskutieren.

 

Denn eine Prognose der Entwicklungsperspektiven Irans wäre ohne eine Diagnose der Charakterstruktur der „Islamischen Republik“ eine wunsch- oder furchtgeleitete Aussage. Um ein realitätsangemessenes Bild der Entwicklungsperspektiven Irans zu zeichnen, müssen wir uns daher mit den strukturimmanenten Entwicklungstendenzen dieser Staatsgesellschaft beschäftigen, die ich hier thesenartig zur Diskussion stellen möchte. Diese Entwicklungstendenzen manifestieren sich aber unübersehbar in den wahrnehmbaren institutionellen Krisen, die diese „Republik“ seit Anfang an begleitet haben.

 

Um aber den Vortrag möglichst kurz zu halten, werde ich thesenartig vor allem einige in der Regel sonst vernachlässigten psychogenetischen Aspekte der institutionellen Krise der „Islamischen Republik“ diskutieren, deren Berücksichtigung die postrevolutionären Ereignisse verständlicher machen. Denn die Grundlage aller sozialen Prozesse sind die involvierten interdependenten Menschen, deren Wünsche und Ängste, deren Leidenschaften und „Vernunft“, deren Neigung zum Guten und zum Bösen. Um die Dynamik sozialer Prozesse zu verstehen, muss daher die Dynamik der psychologischen Prozesse verstanden werden, die sich im Einzelnen abspielen, genauso wie der Einzelne nur verstanden werden kann im Kontext der ihn oder sie prägenden Traditionslinien[2]. In diesem Zusammenhang sind jedoch primär die weniger bewussten Motive der involvierten Menschen von entscheidender Bedeutung als ihre mehr bewussten Wünsche, die in der Regel in verschiedenen ideologischen Formen rationalisiert werden können.[3] Daraus ergeben sich meine folgenden Thesen:

 

1. Die „Islamische Republik“ ist samt ihrer bösartigen Destruktivität und Unmenschlichkeit die Manifestation der Triade des Verfallsyndroms, wie sie sich in Khomeinismus artikulierte. Dieses Verfallsyndrom impliziert als Quintessenz alles Bösen[4] drei Tendenzen der Nekrophilie (Liebe zum Toten und alles Unlebendige), des bösartigen konfessionellen Narzissmus (krankhafte Selbstliebe) und damit einhergehender Fremdenfeindlichkeit sowie der inzestuösen Symbiose der regressiven Kerngruppen der Macht und der Massenbasis dieser Herrschaftsform. Diese destruktiven Orientierungen bedingen als Manifestation der Selbstzwänge der Khomeinisten:

1.      Eine zwanghafte aggressive und destruktive innen- und außenpolitische Orientierung.

2.      Folglich den Verlust der Verhandlungsbereitschaft mit der „Weltgemeinschaft“, vor allem mit den zu den ewigen und unversöhnlichen „Feinden“ erklärten USA und Israel sowie mit den Oppositionellen für einen „vernünftigen“ Ausgang aus den sich zunehmend eskalierenden innen- und außenpolitischen Konflikten,

3.      Diese Rigidität der innen- und außenpolitischen Orientierungen ergibt sich aus dem zunehmenden Verlust der Freiheit, zwischen rationalen und irrationalen Interessen im Leben, zwischen Wachstum oder Stagnation und Tod zu entscheiden,

4.      Dieser Verlust der Freiheit bedingt innenpolitisch die Unverhandelbarkeit der „absoluten Schriftgelehrten-Herrschaft“ als formeller und praktischer Negation der Volkssouveränität, und damit der Unreformierbarkeit der „Islamischen Republik“.

 

2. Die Abwehr dieser destruktiven Orientierungen der „Islamischen Republik“ manifestiert sich:

            1. in einer außenpolitisch zunehmenden internationalen Isolation, und

      2. innenpolitisch in einer sich permanent sozial ausweitenden oppositionellen Bewegung, die sich zuletzt als „Grüne Bewegung“ artikulierte.

Die „Grüne Bewegung“ symbolisiert daher die zunehmenden Wachstumstendenzen der iranischen Gesellschaft, d.h. die Tendenzen zur Biophilie (Liebe zum Leben und Lebendigen), zur individuellen Unabhängigkeit und zur Überwindung des kollektiven Narzissmus wie sie sich in der entsprechenden Empathiefähigkeit und Nächstenliebe der sozialen Träger dieser Bewegung manifestiert. Ihre öffentliche Demonstration der Solidarität mit den Opfern des 11. Septembers ist Ausdruck dieser Nächstenliebe.

 

3. Die Triade des bislang noch dominanten Verfallsyndroms manifestierte sich allerdings bereits in den zentralen Parolen der Massen während des Aufstandes in den späten 1970er Jahren und der „Islamisierung“ der Revolution, indem sie „Weder westlich noch östlich, (sondern) islamische Republik“ skandierten.

 

Damit entpuppte sich der Khomeinismus als ein soziales Glaubenssystem im Gegensatz zum Kapitalismus und Kommunismus, in dessen Namen alles Abweichende im Innen und Außen erbarmungslos bekämpft werden soll. Eine permanente innen- und außenpolitische Krisenatmosphäre und Konfliktlage ist daher eine immanente Begleiterscheinung der „Islamischen Republik“.

 

Diese innen- und außenpolitisch unversöhnlichen und zuweilen blutigen Konflikte ergeben sich aus den immanenten Zielkonflikten des Khomeinismus mit allen anderen Glaubenssystemen.

 

Denn beim Khomeinismus steht, wie in Zentrum jedes sozialen Glaubenssystems, die Frage, in welcher Weise Menschen ihr eigenes gesellschaftliches Leben miteinander ordnen sollen.

 

Damit ist der Khomeinismus vor allem eine Antwort auf die Frage nach der normativen Struktur der Gesellschaft und ein Leitgedanke der Kämpfe, in die die Menschen verwickelt werden sollen.

 

Was Khomeini aber unter „Islamische Republik“ verstand, hatte er bereits in den sechziger Jahren in seinem Exil in Irak in einem Buch über den „Islamischen Staat“ (Velajat-e Faghih), die „Schriftgelehrten Herrschaft“[5] ausführlich dargestellt. Für ihn ist die normative Struktur der Gesellschaft durch die Shari´a vorgegeben, denn Koran und „Überlieferungen“ liefern obligatorisch das ewig gültige normative Regelwerk für die Gesellschaft der Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod.

 

Sie seien nicht nur gültig für die kurze Zeit der Herrschaft Muhammads und der ihm folgenden 12 Imame gewesen, sondern ewig. Die Exekution dieser heilig erklärten normativen Strukturen der Gesellschaft sei aber die Pflicht der „Schriftgelehrten“.

 

4. Die Durchsetzung dieser Regressiven Orientierung durch die „Geistlichkeit“ wird mit der immer noch andauernden Verborgenheit des 12. Imam, Mahdi rationalisiert: Da der 12. Imam als legitimer Herrscher entrückt sei, sind die „Schriftgelehrten“ zur Durchsetzung dieser normativen Strukturen verpflichtet, um „Chaos“ zu verhindern; denn es kann ja sein, dass der „Mahdi“ (der Erlöser) noch einige Jahrtausende verborgen bleibe.

 

5. Ausgangspunkt seiner Begründung der Notwendigkeit der „Schriftgelehrten- Herrschaft“ ist aber sein menschenverachtendes Menschenbild als ewig Unmündige, die einen Vormund brauchen.[6] Als Unmündige haben Menschen demnach keine Rechte sondern nur Pflichten, zu deren Erfüllung sie die Geistlichkeit befehligen muss.

 

6. Die Triade des Verfallsyndroms dieser regressiven Orientierung des Khomeinismus manifestiert sich daher:

  •  in seiner regressiven inzestuösen Symbiose mit der Shari´a als Quelle narzisstischer Befriedigung,
  •  in seiner narzisstischen Überheblichkeit, die Schriftgelehrten über Menschen zu erheben, über die sie als Gottes Stellvertreter absolute Gewalt ausüben dürfen, wie sie in der Verfassung der „Islamischen Republik“ als „absolute Herrschaft des Schriftgelehrten“ institutionalisiert wurde.
  •  in seiner nekrophilen Betonung der Notwendigkeit der Shari´a als „Recht und Ordnung“, deren Aufrechterhaltung absolute Priorität zukomme. Dafür dürfen sogar „die primären Gebote des Islams“ suspendiert werden. Diese Liebe zum Toten artikuliert sich im absoluten Vorrang der Shari´a, die in Gestalt der „Schriftgelehrten-Herrschaft“ nicht nur im Iran verewigt werden soll. Denn nicht die normative Struktur der Gesellschaft steht im Dienste der Menschen, sondern die Menschen stehen im Dienste dieser Ordnung, für deren Aufrechterhaltung alles erlaubt sei. Die postrevolutionäre Allgegenwart der Gewalttätigkeit in der „Islamischen Republik“ und ihre aggressive außenpolitische Orientierung ist Folge dieser machiavellistischen nekrophilen Tendenzen und der damit einhergehenden Mentalität paranoiden Hasses gegen allen zum „Feind“ erklärten Menschen und Staaten. Denn alles Abweichende, d.h. was nicht im Sinne des Khomeinismus „Islamisch“ ist, wird zum „Feind“ erklärt.

 

7. Die soziale Basis dieser nekrophilen Herrschaftsform besteht aus jenen sozialen Gruppen, die durch die „Modernisierung“ der Staatsgesellschaft sozial abgestiegen waren und von den vorrevolutionären Etablierten als „Ommol“ bzw. „ewig Gestrige“ stigmatisiert wurden, vor allem:

  • Die durch die Landreform sozial abgestiegenen ehemaligen Großgrundbesitzer,
  • Das durch die Industrialisierung sozial abgestiegene zersetzte traditionelle Kleinbürgertum, die kleinen Gewerbetreiber und traditionellen Großhändler (Bazar), die sich in religiösen Netzwerken seit Jahrzehnten zusammen geschlossen hatten und eine Symbiose mit der Geistlichkeit bildeten,
  • Die durch die Säkularisierung der Bildung und der Justiz zunehmend entfunktionalisierte Geistlichkeit,
  • Die durch die „Verwestlichung“ überforderten konservativen Männer und Frauen,
  • Jene Menschen, die die Familienrechtsreform und das Frauenwahlrecht sowie die Gleichberechtigung aller Konfessionen als einen unerträglichen Macht- und Statusverlust erlebten,
  • Die entwurzelten ehemaligen Bauern, die seit der „Landreform“ in den sechziger Jahren als Massenindividuen in die Städte wanderten und statt sich zu urbanisieren zur kulturellen Verdörflichung der Städte beitrugen.

Die „Islamisierung“ der Revolution war die Manifestation des Umschlags des kollektiven Trauerns dieser, um die Umkehrung der etablierten Selbstwertbeziehungen kämpfenden, ehemaligen Außenseiter in ihrem Hegemonialrausch. Ihre gemeinsame Identifikation miteinander über ihren charismatischen Führer, Khomeini, konstituierte die Massenbasis des Khomeinismus in Gestalt einer sozialen Bewegung der „islamischen Gemeinschaft“ („Umma“), mit ihrer inzestuösen Symbiose mit Khomeini, als Quelle ihrer narzisstischen Befriedigung.  

 

8. Ihre Gewalttätigkeit ist Funktion ihrer Nekrophilie, ihres konfessionellen Narzissmus und ihrer inzestuösen Symbiose mit dem „Führer“ als einem Schutz gewährenden „Mutterersatz“, von dem sie sich nicht zu unterscheiden vermögen und jede Kritik an ihm als eine existentielle Bedrohung empfinden.

 

9. Damit erweist sich die „Islamische Republik“ als ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus jener Iraner, die sich entweder noch nicht gefunden oder wieder verloren haben und sich mehr oder weniger als unmündige Untertanen ihrem Führer unterwerfen.

 

10. In einem permanenten Abwehrkampf gegen die als „Islamisierung“ deklarierten Entrechtung und Entwürdigung der Menschen entstand seit der Konstitution der „Islamischen Republik“ eine zunehmende Formierung der enteigneten „Republikaner“ im Iran, die ihre usurpierten Machtchancen wieder anzueignen versuchen. Die „Grüne Bewegung“ ist die gegenwärtige Kulmination dieser Bestrebungen. Sie ist daher der Nachholeffekt des sozialen Habitus der zunehmend rechtsbewussten und mündigen Bürger, die ihre Bürger- und Menschenrechte einklagen.

 

11. Die „Grüne Bewegung“ als eine vielschichtige soziale Bewegung ist aber Produkt der sieben Hauptspannungsachsen der sich zunehmend funktional, wenngleich noch nicht institutionell demokratisierenden Gesellschaft, wie sie sich in folgenden Konflikten manifestieren:

  • Konflikte zwischen Regierenden und den zunehmend rechts- und selbstbewusst gewordenen Regierten,
  • Konflikte zwischen Eigentümern der Produktions- und Konsumtionsmittel und abhängig Beschäftigen, jenseits der innerbürgerlichen Konflikte,
  • Geschlechterkonflikte,
  • Generationenkonflikte,
  • Ethnische und konfessionelle Konflikte,
  • Konflikte zwischen modernen Wissenschaften und Religion als konkurrierende Orientierungsmitteln und ihrer Träger sowie
  • Außenpolitische Konflikte, die sich mit der zunehmenden Verschiebung der zwischenstaatlichen Machtbalance zugunsten der machtschwächeren Staaten zunehmend verschärfen. Diese funktionale Demokratisierung zwischenstaatlicher Beziehungen erfuhr einen Schub mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem damit einhergehenden Zerfall der bipolaren Hauptspannungsachse zwischenstaatlicher Beziehungen. Die gegenwärtigen Konfliktaustragungsstrategien der involvierten Staaten sind ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus ihrer Regierungen angesichts der entstandenen Multipolarität zwischenstaatlicher Beziehungen, wie sie sich auch in neuen zwischenstaatlichen Formierungsversuchen so genannter internationaler Regierungsorganisationen und /lückenhafter) supranationaler Bündnisse manifestiert.

 

Erst im Rahmen der erklärten Menschenrechte und durch realitätsangemessene Lösungsstrategien für diese Hauptkonflikte hat die „Grüne Bewegung“ eine Zukunftschance, ohne in einem Determinismus befangen zu sein.  

 

12. Die „Grüne Bewegung“ ist sehr vielschichtig, in der die unbelehrbaren systemtreuen Teile der „Islamischen Reformisten“ eher als ein Ordnungsfaktor fungieren als ein Interessenvertreter der diskriminierten und erniedrigten Menschen. Dies kommt nicht nur in den ständigen Äußerungen manch ihrer Repräsentanten bezüglich ihrer Systemtreue zum Ausdruck, sondern auch in ihrem Wunsch den „Islamischen“ Charakter des Staates möglichst aufrechtzuerhalten.[7] Für sie scheint die „Demokratisierung“ der „Islamischen Republik“ als einzige mögliche Chance der Erhaltung dieser „Republik“. Deswegen fordern die erhaltungsorientierten „Reformisten“ etwas unmögliches, nämlich die „uneingeschränkte Exekution der Verfassung“ und damit die Belebung der verfassungsmäßig verankerten Bürgerrechte.

 

13. Diese lernunfähigen Teile der „Reformisten“, die gegenwärtig die „Aufklärung“ zu einer ihrer zentralen Aufgaben erklärt haben, verklären eher zuweilen statt aufzuklären, indem sie scheinbar unparteiisch und mit Schadenfreude die gegenwärtigen Konflikte zwischen dem „Führer“ (Khamenei) und dem Präsidenten (Ahmadinedjad) als Bestätigung ihrer von den etablierten Kerngruppen der Macht ignorierten Charakterisierung Ahmadinedjads als populist, korrup und inkompetent hervorheben; damit personalisieren sie diesen institutionellen Konflikt zwischen dem „Führer“ und den „Präsidenten“ und verharmlosen eine seit 30 Jahren verschleppte Staatskrise. Auf diese Weise verdunkeln sie die Tatsache, dass dieser Konflikt eine erneute Manifestation der chronischen institutionellen Krise der „Islamischen Republik“ ist.

 

14. Inzwischen haben ansonsten zunehmend größere Teile der islamischen „Reformisten“, die zum Boykott der „Parlamentswahlen“ aufgerufen haben, auch einsehen müssen, dass diese institutionelle Krise Funktion des Antagonismus zwischen der republikanischen Komponente der Verfassung und der in ihr verbrieften „absoluten Schriftgelehrten-Herrschaft“ ist, die nur durch die Enteignung und Monopolisierung der revolutionären Macht durch Khomeinisten entstehen konnte. Dieser Antagonismus ist daher nur aufhebbar entweder durch die Suspendierung ihrer republikanischen Komponente, so wie es die etablierten Kerngruppen der Macht seit Jahrzehnten versuchen oder durch die Aufhebung der „Schriftgelehrten Herrschaft“. Nur durch die Aufhebung dieser Quadratur des Kreises ist die chronische institutionelle Krise bzw. Staatskrise Irans lösbar.

 

Hannover, den 21.02.2012

 


[1] Vortrag für eine Veranstaltung der "Aktuelle Runde" der Kommunalen Seniorenservice Hannover
am 19. März 2012

[2] Im Unterschied zu Erich Fromm ziehe ich den Begriff „Traditionslinien“ dem Begriff der Kultur vor. (Vergl. Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, 1983, S. 7f.). Der Begriff Traditionslinien meidet die Vorstellung von der Kultur als einer monolithischen Einheit und verdeutlicht eher die prägenden Zwänge auf den sozialen Habitus der Menschen, die einer bestimmten „Tradition“ ausgesetzt sind. Diese tradierten Verhaltens- und Erlebensmuster bilden unterschiedliche Strömungen einer vielschichtigen „Kultur“, wie ein Fluss aus unterschiedlicher zuweilen unsichtbaren Strömungen besteht.

[3] Zur ausführlichen Beschäftigung mit diesen unbewussten Tendenzen Vergl. Dawud Gholamasad: Irans neuer Umbruch – Von der Liebe zum Toten zur Liebe zum Leben, Hannover 2010 „ecce Verlag“.

[4] Das Böse ist ein spezifisch menschliches Phänomen, weil Menschen nicht nur Geschöpfe sondern potentielle Schöpfer ihrer eigenen Erfahrungswelt und damit ihrer eigenen Selbsterfahrung sind. Das Tier hat kein Bedürfnis nach Transzendenz und kann auch deswegen nicht böse sein, handelt es doch nur nach seinem ihm innewohnenden Instinkten, die im Wesentlichen seinem Überleben dienen. Das Böse ist der Versuch der unproduktiven Menschen, sich selbst auf unmenschliche Weise zu transzendieren. Es ist der tragische Versuch der unschöpferischen Menschen, zu einem vor-menschlichen (d.h. „archaischen“) Zustand zu regredieren, der zur Ausmerzung des spezifisch Menschlichen führt: der „Vernunft“, Liebe und Freiheit. Insofern ist der Mensch deswegen böse, weil er sich entweder noch nicht gefunden oder wieder verloren hat. „Im Bösen verliert der Mensch sich selbst bei dem tragischen Versuch, sich der Last eines Menschseins zu entledigen.“ (Erich Fromm, a.a.O., S. 156). Dem jeweiligen Grad des Bösen entspricht daher der jeweilige Grad der Regression, während das Gute in dem emanzipativen Versuch der Menschen besteht, zunehmend freier von Zwängen der außermenschlichen und menschlichen Natur, sowie von den Fremd- und Selbstzwängen liebevoller zu leben – also zunehmend schöpferisch zu leben.

[5] Vergl. die erste deutsche Übersetzung: Ajatollah Chomeini: Der islamische Staat, Berlin 1983 (Union Verlag)

[6] Vergl. Ajatollah Chomeini, a. a. O., S. 61.

[7] Seit der Konstitution der „Islamischen Republik“ konkurrieren zwei Haupttendenzen innerhalb der Kerngruppen der Macht, die Expansions- und Erhaltungsorientierten Gruppen, wie sie sich in ihrer innen- und außenpolitischen spannungs- und entspannungsorientierten Politik manifestiert. Die innen- und außenpolitisch expansionistischen Gruppen haben sich bisweilen durchgesetzt und alle anderen marginalisiert und zuweilen eliminiert.