Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

2

Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Beten und Kämpfen – die vielen Gesichter des Islamismus

 

Zusammenfassung

 

In der Regel werden bei der Untersuchung des Islamismus zwei entgegengesetzte Strategien verfolgt: Der reduktionistische Monismus und der isolationistische Dualismus. Beide Ansätze leiden an der Unfähigkeit, die Eigenart von Prozessen zu verstehen, die sich im Islamismus als Prozess zeigen?

Der monistische Ansatz betont die Identität von Islam und Islamismus und lässt keine Unterscheidung zwischen ihnen zu. Mit dieser Betonung der Gleichheit, geht dabei die Einzigartigkeit des Islamismus verloren. Der dualistische bzw. isolationistische Ansatz betont ihre Dualität und vernachlässigt ihre Gemeinsamkeiten. Hier wird übersehen, dass Islam und Islamismus unterscheidbare, aber nicht trennbare Aspekte der islamisch geprägten Gesellschaften sind. Bei dieser Betonung der Unterschiede, geht also die Kontinuität des Islam als Prozess, als ein „erinnertes Wandlungskontinuum“ verloren.

In diesem Beitrag wird der Islamismus als eine Schicht des sozialen Habitus der islamisch geprägten Menschen thematisiert, die durch die Erfahrung der Bedrohung ihrer kollektiven Lebensweise und ihrer Selbstwerbeziehungen im Sinne einer Selbstverteidigung mobilisiert wurde.

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Vorbemerkung

 

Die „Globalisierung“, die stets einhergeht mit sozialen Auf- und Abstiegsprozessen von Menschen als Einzelne und Gruppen, verschärft nicht nur die Spannungen und Konflikte der zwar nationalstaatlich organisierten, aber ethnisch oder konfessionell segmentierten Menschen als Etablierte und Außenseitergruppen; sie ermöglicht zugleich auch eine entsprechende Erweiterung jeweiliger Bezugsrahmen der Selbsterfahrung der Menschen und der damit einhergehenden Reichweite der Identifizierung von Mensch und Mensch jenseits der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit. Dies ist eine der unabdingbaren Voraussetzungen einer globalisierten Empathie und der Veränderung der Art der Fähigkeit, sich mit entsprechendem Perspektivwechsel in die Lage fremder Menschen zu versetzen, um sie mit ihren Ängsten und Nöten verstehen zu können.[1] Die handlungssteuernden Zwänge anderer Menschen zu erklären und sie so zu verstehen, bedeutet jedoch nicht, sie zu entschuldigen oder gar ihre Handlungen zu bagatellisieren.

 

1. Zum Islamismus als einem Aspekt des sozialen Habitus der islamisch geprägten Menschen

Fehlt allerdings diese Fähigkeit zum Perspektivwechsel, die bedingt ist durch die jeweilige Ausgestaltung des Selbstbildes in Interdependenz mit dem Gegenüber, empfindet man die Gegenseite nur als eine Gefahrenquelle und trägt mit entsprechender eigener feindseliger Haltung zur Eskalation eines Teufelkreises gegenseitiger Bedrohung bei. Denn ein hohes Gefahrenniveau findet sein Gegenstück in einem hohen Affektniveau des Wissens und so auch des Denkens über diese Gefahr und des Handelns in bezug auf sie, also in einer hohen Phantasiegeladenheit der Vorstellungen von den Gefahren, die zur ständigen Reproduktion des hohen Gefahrenniveaus und so auch zur Reproduktion von Denkweisen führt, die mehr phantasie- als wirklichkeitsorientiert sind.[2]

Exemplarisch für einen Beitrag zur Eskalation einer solchen Kreisläufigkeit der Aggression in diesem Sinne sei hier die programmatische Forderung meines sehr engagierten Kollegen Bassam Tibi genannt, der auf einer „europäischen Islam-Konferenz“ ultimativ zu Europäisierung des Islams ausruft. Als Verfechter eines „Euroislams, d.h.: eines mit der zivilisatorischen Identität Europas versöhnten Islam“ formuliert er seine befürchteten alternativen Entwicklungsmöglichkeiten, wenn er hervorhebt: „entweder wird der Islam europäisiert oder Europa wird islamisiert“. Da seiner Ansicht nach „die Islamisierung der Welt ein fester Bestandteil islamischer Weltanschauung ist“[3], bedeutet diese Auffassung konsequenterweise: „Entweder werden die islamisch geprägten Gesellschaften verwestlicht, oder der Westen wird islamisiert“

Berücksichtigt man die Tatsache, dass für die gläubigen Muslime ihr religiöses Leben die herausragende Form und gewissermaßen der konzentrierte Ausdruck ihres gesamten kollektiven Lebens ist, so begreift man, warum sie mit der angedrohten Verwestlichung ihres religiösen Lebens zugleich ihr kollektives Leben, also ihre Gesellschaft bedroht sehen. Sie empfinden die Verweltlichung ihres islamisch geprägten Lebens als Einzelne und Gruppe im Sinne seiner Verwestlichung als eine existentielle Bedrohung der islamisierten Gesellschaften, „weil die Idee der Gesellschaft die Seele jeder Religion ist“.[4]

Dieses Empfindensmuster ist also nachvollziehbar, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass die „Formen des religiösen Lebens“ Korrelate oder vielmehr Funktion des gesellschaftlichen Lebens der Menschen sind. Jede Religion stellt daher die jeweilige Form dar, in der sich Menschen ihre gesellschaftliche Welt „vorstellen“ und „regulieren“. In diesem Sinne ist jede Religion eine idealisierte Vorstellung ihrer sozialen Welt und als solche ein Wandlungskontinuum, und zwar ein erinnertes Wandlungskontinuum. Dabei sind die augenfälligen religiösen Idealisierungen Funktion der Erfahrung der gesellschaftlichen Bindungen in dem Sinne, dass die Menschen in diesen Idealisierungen der Erfahrung der Überhöhung ihrer individuellen Kräfte im Kollektiv Ausdruck verleihen. Denn eine Gesellschaft der Menschen besteht nicht einfach aus der Masse von Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, aus dem Boden, den sie besetzen, aus den Dingen, derer sie sich bedienen, aus den Bewegungen, die sie ausführen, sondern vor allem aus der Vorstellung, die sie sich selbst im Verhältnis zu all dies und zueinander haben. Das bedeutet aber nicht, dass das kollektive Ideal, das die Religion ausdrückt, durch irgendeine innewohnende Kraft des Individuums entsteht, vielmehr lernt das Individuum eher in der Schule des kollektiven Lebens zu idealisieren. Indem der einzelne Mensch die Ideale aufnimmt, die in der Gesellschaft erwachsen und tradiert worden sind, wird er fähig, das gemeinsam geteilte Ideal zu erfassen. Solche Ideale sind weder etwas Geheimnisvolles noch ein Luxus, den Menschen entbehren könnten; sie gehören vielmehr zu den existentiellen Bedingungen ihres sozialen Lebens. Sie sind sozusagen das Herzstück der jeweiligen Art und des Grades ihrer sozialen Kohäsion und Kooperationsbereitschaft und –fähigkeit.[5] Sie stehen im Zentrum ihrer kollektiven moralischen Regulation als ein wesentlicher Aspekt ihres sozialen Habitus bzw. ihrer sozialen Persönlichkeitsstruktur.

In diesem Sinne ist der Islam als ein erinnertes Wandlungskontinuum der islamisch geprägten Menschen kaum anders denkbar, als dass es sich dabei nicht zuletzt um ein idealisiertes erinnertes Wandlungskontinuum handelt. Was den Islam der Anfangszeit mit dem vom 21. Jh. bzw. dem Islamismus verbindet, ist also nicht so sehr irgendein Wesenskern, der unverändert bleibt, sondern die Kontinuität der Wandlungen, in denen der Islam des 21. Jhs. aus dem der Zeit des Propheten und der Kalifen bzw. Imame hervorging, verstärkt durch den Umstand, dass es sich um eine erinnerte Kontinuität handelt, die als Zustand bzw. unveränderliche „Tradition“ idealisiert wird. Im Sinne dieser Kontinuität des Wandlungsprozesses kann man sowohl des scheinbar ewig Unwandelbaren als des Kontinuums eines Orientierungswissens gewahr werden als auch der Wandlungen dieses mehr subjekt-orientierten Wissens als eines Kontinuums, dessen Verwestlichung als eine existentielle Bedrohung empfunden wird.[6]

Die Gefühlslage der gläubigen Muslime, angesichts der Verwestlichung des Islams existentiell bedroht zu sein, drückt sich nicht zuletzt in den Mahnungen eines der Wortführer des konservativen Establishments in der Islamischen Republik Iran, Ajatollah Muhammad Taqi Misbah Yazdi, aus, wenn er permanent vor „Tahadjom-e Farhangie“ bzw. „Cultural Assault“ im Sinne der „Kulturellen Offensive“ des Westens mit seiner „hegemonial- und dominanzorientierten Mentalität“ warnt und dabei angesichts des erfahrenen massiven Assimilationsschubs (=Bauern; Landsleute ist umgsspr., also:) einiger Teile der Bevölkerung zugleich auf seine „fünfte Kolonne“ in den islamisch geprägten Gesellschaften verweist, die „die indigenen Werte und die Zerstörung der religiösen und nationalen Identität“ der Muslime zu ihrem Hauptangriffsziel gemacht hätten. Es sind diese Assimilationsbestrebungen, die ihn so beunruhigen, wenn er hervorhebt: „Im Kampf der Kulturen intervenieren nicht immer die aus Westen oder Osten stammenden fremden Subjekte; vielmehr können einheimische, mit Islam unvertraute Subjekte islamfremde Elemente als Islam in die Kultur des Landes einführen.“[7]

Dieser Hardliner der konservativen Fraktion des Establishments der Islamischen Republik, der auf diese Weise sogar der physischen Liquidierung Andersdenkender in einer „Kette von Ermordungen“ der Intellektuellen im nachrevolutionären Iran indirekt die nötige religiöse Legitimation lieferte, repräsentiert zwar eine der Fraktionen des Islamismus. Er repräsentiert aber nur eine der Variationen der Reaktionsmuster der islamisch geprägten Menschen gegen diese als Unterwerfung und kulturelle Enteignung empfundene „Kulturelle Offensive“ des Westens. Selbst wenn wir ihn als Verkörperung des Islamismus nehmen, geht die sonst übliche Unterscheidung des Islam als wahrer „Glaube“ der Muslime vom Islamismus als eine „totalitäre Ideologie“ der Extremisten,[8]die scheinbar den Islam als Religion der friedfertigen Muslime bloß instrumentalisieren, an der Realität des Islamismus vorbei. Wäre der Islamismus bloß die „Ideologie“ einer gewaltbereiten Minderheit, mit der die sonst friedfertige Mehrheit der Muslime nichts zu tun hat, wäre er keine globale Herausforderung der Etablierten. Als eine Bedrohung dürften die Islamisten samt ihrer Ideologie nur dann ernst genommen werden, wenn befürchtet wird, dass die Mehrheit ihnen möglicherweise folgen würde. Dies setzt aber voraus, dass die Islamisten in der Lage sind, über ihr Anliegen mit der Mehrheit der Muslime zu kommunizieren. Dazu ist wiederum eine gemeinsame Sprache die unabdingbare Voraussetzung.

Begreift man allerdings die Sprache bloß als ein Mittel der Formulierung und Mitteilung von Gedanken, kann man einen militärischen Kampf gegen die als Aufwiegler definierten extremistischen Islamisten rechtfertigen und von dem Erfolg der „Allianz gegen den Terrorismus“ überzeugt sein. Aber die Sprache ist nicht bloß ein Mittel der Formulierung und Miteilung von Gedanken. Es handelt sich dabei vielmehr um das „obligatorische Grundschema“ der Betrachtung und Bewertung der Ereignisse mit entsprechender Aufforderung zu bestimmten Verhaltensmustern, der sich die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft nicht ohne weiteres entziehen können. Erst wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass die „Sprache nicht nur ein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken ist, sondern vielmehr selbst die Gedanken formt, Schema und Anleitung für die geistigen Aktivitäten des Individuums ist, für die Analyse seiner Eindrücke und für die Synthese dessen, was ihm an Vorstellungen zur Verfügung steht“[9], wird die Reichweite der Herausforderung des Islamismus realisiert. Genau diese Gemeinsamkeit der Erfahrungswelt der Islamisten und der gläubigen Muslime als eine gemeinsame Schicht ihres sozialen Habitus macht sie zu einer nicht zu unterschätzenden globalen Herausforderung der Etablierten.

Die sonst übliche Unterscheidung zwischen Islamisten und Muslimen, wonach sie scheinbar zu unterschiedlichen Welten gehören, vernachlässigt aber die Tatsache, dass ihre gemeinsame Sprache die Welt ist, wie sie von diesen Menschen erfahren wird, eine Erfahrungswelt, ohne die eine Selbstortung nicht zu denken ist. Damit entgeht dem Betrachter die Tatsache, dass jeder einzelne Muslime, verschieden wie er von allen anderen auch ist, ein spezifisches Gepräge an sich trägt, dass er mit anderen Angehörigen der islamisch geprägten Gesellschaften teilt. Dieses Gepräge, also der soziale Habitus der einzelnen Muslime ist eine der greifbarsten Ausdrücke der Gestalt ihrer Zivilisationsmuster und bildet gewissermaßen den Mutterboden, aus dem diejenigen persönlichen Merkmale herauswachsen, durch die sich ein einzelner Muslime von anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft unterscheidet[10]. So erwachsen auch - wie jeder mehr oder weniger individuelle Sprachstil der einzelnen Muslime, die z. B. Arabisch als ihre gemeinsame Sprache im Sinne eines integralen Bestandteils ihres sozialen Habitus sprechen –ebenfalls mehr oder weniger individuelle Glaubens- bzw. Denkstile der islamisch geprägten Menschen als Einzelne und Gesellschaften aus ihrem gemeinsam miteinander geteilten sozialen Habitus

Der Vernachlässigung dieses mehr oder weniger individualisierbaren gemeinsamen Gepräges der Muslime wird allerdings Vorschub geleistet durch eine heteronome Bewertung des Islams und des Islamismus, die entsprechend der eigenen Präferenzen entweder den "Islam als eine Offenbarungsreligion und ihrer großartigen Zivilisation" gegenüber dem "totalitären Fundamentalismus als Feind von Demokratie und Menschenrechte"[11] verteidigt, oder diese Unterscheidung grundsätzlich ablehnt und den Islam als "eine menschenverachtende Religion" verdammt.[12] Solche heteronome Bewertungen haben zwar eine Legitimationsfunktion für einen „Kampf gegen den Terrorismus“. Sie lenken aber die Aufmerksamkeit von der Tatsache ab, dass die Islamisten sich wie andere islamisch geprägte Menschen, die ein religiöses Leben führen und ein direktes Gefühl davon haben, was sie als Gläubige ausmacht, die Orientierungsfunktion des Islam als wahre Funktion ihrer Religion begreifen. Sie fühlen wie alle praktizierenden Muslime in der Tat, dass die wahre Funktion des Islam für sie darin besteht, ihr Verhalten und Empfinden zu steuern, d.h. “sie zum Handeln zu bringen und ihnen zu leben helfen“.[13]

In diesem Sinne teilen alle Muslime die Anerkennung der „fünf Säulen des Islam“ im Sinne ihrer Grundpflichten, nämlich 1. Shahadat (die Bekenntnisformel)[14]; 2. Salat (das Gebet)[15]; 3. Zakat (Almosensteuer); 4. Das Fasten im Monat Ramadan; 5. Hadj (die Wallfahrt nach Mekka.) Wodurch sich die Islamisten jedoch von allen anderen Muslimen unterscheiden, ist ihre Interpretation von der 6. Grundpflicht der Muslime, von „dijhad“ als einem „Glaubenskrieg“. Etymologisch bedeutet zwar „dijhad“ eine besondere gottgefällige „Anstrengung“. Aber schon zu Muhammads Lebzeiten konnte diese Anstrengung durchaus militärischer Natur sein. Als ein „Glaubenskrieg“ war er ein „Kampf um Gottes Willen“ gegen die Ungläubigen, den der Prophet in Medina energisch propagierte.[16] Dabei wurde den Gefallenen das Paradies versprochen.

Diese kriegerische Interpretation von „dijhad“, die sich also auf Muhammad als Vorbild aller Muslime beziehen kann, gewinnt allerdings ihre Virulenz angesichts der zunehmenden Erfahrung der Bedrohung von „dar-al-Islam“ („das Haus des Islam“) als einer Angriffs- und Verteidigungseinheit der Muslime. Aus diesem Grunde entsteht der Islamismus als Funktion eines „Teufelkreises“ der Erfahrung der sich von der Verwestlichung bedroht fühlenden gläubigen Muslime, selbst bzw. gerade wenn man ihn wie üblich als eine „Transformation des Glaubens in eine Ideologie, eine Hingabe an die Sharia, und eine Ablehnung des westlichen Einflusses“[17] begreift. Es ist diese Erfahrung der Bedrohung ihrer Lebensweise, die mit der daraus resultierenden Verunsicherung zu einer spezifischen affektiven Überwältigung ihrer Verhaltens- und Empfindungssteuerung und damit zur Steigerung der Unkontrollierbarkeit der Dynamik sozialer Prozesse führt, in die sie verwickelt sind. Diese Dynamik reproduziert jene Verhaltens- und Empfindensfehlsteuerung, die als zutiefst von der aktuellen Wahrnehmung der Bedrohung geprägten Reaktionsmuster der Islamisten für eine weitere Eskalation der eigenen Furcht und Verzweifelung mit ihren entsprechenden kreisförmigen Folgen verantwortlich ist. Diese Zwangslage, in der die Islamisten durch ihre Positions- bzw. Überlebenskämpfe verwickelt sind, entsteht deswegen, weil jede hohe Exponiertheit gegenüber den Gefahren eines Prozesses die Emotionalität menschlicher Reaktionen auf spezifische Weise erhöht und färbt. Diese hohe, spezifisch gefärbte Emotionalität der Reaktion verringert die Chance einer realistischen Beurteilung des kritischen Prozesses und damit einer realistischen Praxis ihm gegenüber. Eine relativ unrealistische Praxis unter dem Druck starker Affekte verringert die Chance, den kritischen Prozess unter Kontrolle zu bringen. Kurzum: Unfähigkeit zur Kontrolle geht gewöhnlich Hand in Hand mit hoher Emotionalität des Denkens und Handelns; dadurch bleibt die Chance zur Gefahrenkontrolle auf einem niedrigen Niveau, wodurch wiederum die Emotionalität der Reaktion auf ein höheres Niveaus geschraubt wird, und so weiter.[18] Der Islamismus ist demnach Symptom einer Mentalität der - ihre Lebensweise bedroht fühlenden - islamisch geprägten Menschen, die sich als Folge der funktionalen Interdependenz zwischen ihrer Gefühlsbalance und dem weiteren Prozess, auf den sie eingestellt sind, reproduziert.

In diesem Sinne ist der Islamismus als ein mobilisierbarer Aspekt des sozialen Habitus der islamisch geprägten Menschen ein mehr oder weniger affektiv besetzter Orientierungsrahmen von Menschen, die keineswegs verrückt sind – selbst wenn ihre Handlungen scheinbar einer anderen Rationalität folgen. Er ist wie jede Glaubens- und Werthaltung vor allem ein mehr oder weniger affektiv besetztes Begriffssystem, mit dessen Hilfe sich diese Menschen vor allem die Gesellschaft vorstellen, die sie miteinander bilden, sowie die ihnen gewissermaßen verborgenen, aber mehr oder weniger engen Bindungen, die sie mit ihr haben. Dessen Hauptfunktion ist es nicht, diesen Menschen eine Darstellung der physischen Welt zu geben. Vielmehr hat es als Glaubenssystem, neben der verhaltens- und empfindenssteuernden Funktionen, zugleich identitätskonstituierende und -regulierende Funktionen: Er gibt diesen Menschen an, wer sie sind und wofür es sich lohnt zu leben bzw. notfalls das eigene Leben zu opfern, wenn das Überleben der sozialen Einheit dies erfordert, welcher der vornehmliche Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung ist. Er verleiht ihnen ein Sinn- und Selbstgefühl im Rahmen einer Ich-Wir-Balance, sowohl als Einzelne als auch als Angehörige ihrer sozialen Überlebens- und Sinneinheit. Durch die emotionale Partizipation an einer solchen sozialen Einheit wird nicht nur das physische Überleben der einzelnen Muslime gesichert, sondern auch ihr Überleben nach dem physischen Tod in der Erinnerung anderer Menschen ermöglicht.

Als ein religiöses Glaubenssystem unterscheidet sich der Islamismus von säkularisierten Glaubenssystemen nur durch den Grad seines Phantasiegehaltes bzw. seiner Realitätsangemessenheit. Von daher verspricht es den gläubigen Muslime für den hohen Preis, den sie als Angehörige der Gemeinschaft zu zahlen haben, mehr als die eher säkularisierten Glaubenssysteme: einen Wert und Sinn, der das eigene Leben transzendiert. Aus diesem Grunde scheint der Islamist genauso wie jeder gläubige Muslim auf Grund seines Glaubens an das Heil durch den Glauben über der menschlichen Not zu stehen und sich so über den Zustand des bloß islamisch geprägten, jedoch ungläubigen Menschen zu erheben. Dadurch glaubt er, von jedem Übel befreit zu sein.[19] Er teilt zwar mit jedem Gläubigen, der mit seinem Gott kommuniziert, gewisse „Wahrheiten“ bzw. „Gewissheiten“, die den Ungläubigen fehlen. Was ihn aber vor allem von anderen islamisch geprägten Menschen unterscheidet, ist seine gesteigerte Kraft, nicht nur die Schwierigkeiten des Lebens zu ertragen, sondern sie zu überwinden. In diesem Sinne ist der Islam nicht nur „das Opium des Volkes“, sondern auch in Gestalt des Islamismus eine Religion der aufstiegsorientierten gläubigen Muslime im Sinne einer „Theologie der Befreiung“ der Sozialrebellen: „Der Islam ist die Religion der Kämpfer, die für Recht und Gerechtigkeit eintreten, die Religion derer, die nach Freiheit und Unabhängigkeit streben, die Schule der Kämpfer gegen den Kolonialismus“[20], schrieb seinerzeit Ajatollah Khomeini.

Dieses immanente revolutionäre Potential des Islam wird nachvollziehbar, wenn man ihn als den Orientierungsrahmen der islamisch geprägten Menschen begreift, die keineswegs eine monolithische Einheit bilden. Als ein erinnertes Wandlungskontinuum manifestiert der Islam nicht nur das gemeinsame Beziehungsschicksal der Muslime im Ganzen; in seinen differenzierten Prägungen ist er auch Ausdruck der internen gruppenspezifischen Beziehungsschicksale der mannigfaltig segmentierten islamisch geprägten Gesellschaften. Trotz des relativ geringen Individualisierungsgrades der islamisch sozialisierten Menschen sind daher seine differenzierten Ausprägungen Manifestationen der mehr oder weniger individuell angeeigneten islamisierten Symbole durch einzelne Muslime als ihr gemeinsam geteiltes Orientierungs-, Kontroll- und Kommunikationsmittel. Begreift man also diesen Individualisierungsprozess als einen unabdingbaren Komplementärprozess jeder Sozialisierung, so kann es keinen „wahren“ oder „falschen“ Islam geben, außer in den Köpfen der konkurrierenden islamischen Gruppen. Es gibt folglich nur unterschiedlich individualisierte Ausprägungen des Islam als jeweils gruppenspezifische sozialen Habitusformen der islamisch geprägten Menschen, die jeweils für sich den Monopolanspruch auf „Wahrheit“ erheben. Als gruppenspezifische Einstellungen und Glaubensüberzeugungen sind sie aber eingebettet in kollektive Glaubensüberzeugungen und Einstellungen der Muslime. In diesem Sinne sind alle verschiedenen gruppenspezifischen Prägungen des Islam auf ihre Art „wahr“, dadurch dass sie alle, wenn auch auf verschiedene Weisen, bestimmten Bedingungen der Existenz der Muslime entsprechen[21], die zuweilen den sozialstrukturellen Transformationsprozessen hinterher hinken können. Sie sind dennoch gruppenspezifische Variationen von Standardüberzeugungen und –einstellungen der Muslime.

Die eigentliche Frage ist dennoch, wie es dazu gekommen ist, dass der sonst als friedfertig gefeierte Islam der Mehrheit der Muslime nicht nur die Gestalt des Islamismus angenommen hat, sondern auch Orientierungsmittel islamistischer Selbstmordattentäter wurde. Denn unterstellt man dem Islamismus eine bloß „zweckrationale“ Instrumentalisierung des Islam im Dienste des Terrorismus eines islamischen Totalitarismus, kann man schwerlich die Bereitschaft zur physischen Selbstaufgabe der islamistischen Selbstmordattentäter erklären.

Dies wird vielmehr nur erklärbar, wenn wir den Islamismus als Orientierungsrahmen einer sozialen Bewegung begreifen, die den Verhaltens- und Erfahrenskanon einer älteren Führungselite der islamisch geprägten Gesellschaften als Islam idealisiert und zu Gottes unveränderbarem Gesetz hypostasiert. Er ist eine Entwicklungsform des normativen Bildes, das eine bestimmte Gruppe von Muslimen von der sozialen Welt hat, eine bestimmte Entwicklungsform einer Gesamtvision, eine gruppenspezifische Entwicklungsform der integrierenden Gesamtvorstellung von Menschen, als Individuen und Gesellschaften, die auf die erinnerte Epoche einer islamischen Vormachtstellung zurückgeht. Der Islamismus repräsentiert in diesem Sinne eine normative Vorstellung einer gottgefälligen Macht- und Statusbalance, die nur zu Gunsten der Muslime geneigt sein darf. Folglich erscheint den Islamisten vor allem die gegenwärtige Verteilung der Macht- und Statusquellen als ungerecht, weil sie eine mit Gruppencharisma ausgestattete Gemeinschaft der gottesfürchtigen Muslime benachteiligt. In diesem Sinne liegt ihre Gemeinsamkeit mit allen gläubigen Muslimen nicht nur in der gemeinsamen gruppencharismatischen Überzeugung aller Muslime, Anhänger Mohammads, des letzten Gesandten Gottes und als solcher Verkünder Gottes letzter, vollkommener Religion zu sein. Sie liegt auch in dem gemeinsam erinnerten Erfahrungsbild von der sozialen Realität.[22] Doch obwohl ihre gemeinsamen Wurzeln in den überlieferten Schriften und Denktraditionen liegen, die durch die Geistlichkeit kultiviert wurden, ist der Islamismus doch ein Phänomen der Gegenwart. Dementsprechend kann man auch nicht leugnen, dass er eine Reaktion der im Globalisierungsprozess involvierten Menschen gegen moderne Probleme ist.

Diese Probleme manifestieren sich auf innerstaatlicher Ebene der betreffenden Gesellschaften schon seit Jahrzehnten nicht zuletzt in Spannungen und Konflikten, die mit der Ausbreitung der Zivilisationsdynamik auf zwischenstaatlicher Ebene einhergehen. Jedoch werden diese innerstaatlichen Spannungen und Konflikte allzu oft als ein Aspekt der Genese des Islamismus vernachlässigt. Damit wird übersehen, dass der Islamismus einer exzessiven Assimilationsphase dieser Gesellschaften als Ausdruck ihrer „Identifikation mit dem Angreifer“ (Freud) folgte, deren „Verwestlichung“ mit massiver Stigmatisierung der als „traditionell“ und „rückständig“ verachteten Mehrheit der Bevölkerung durch die Etablierten einherging. Damit feierten diese etablierten Träger der „Verwestlichung“ der islamisch geprägten Gesellschaften die 'westliche Zivilisation' als ein Ideal von Verhaltens- und Empfindensmustern, das sie als einen Wert mit allen Menschen zu teilen schienen, die sich im Okzident immer noch als Erfinder und Verkörperung dieses Ideals betrachten.[23]

Die Gebärde der mächtigeren sozialen Formationen, gleichzeitig etwas "Besseres" zu sein, das Bestreben der Machtschwächeren, am materiellen Wohlstand des "Zivilisierten Lebens" teilzuhaben, aber auch die Hoffnung auf Teilhabe an die damit verbundene Anerkennung, übten zunächst einen jahrzehntelangen Zivilisationsdruck aus, der wellenartig auch die ‚unteren’ Schichten der islamisch geprägten Gesellschaften erfasste.

In diesem Sinne teilen die islamisch geprägten Gesellschaften das gemeinsame Schicksal aller weniger entwickelten Gesellschaften: Mit der Verstärkung der funktionalen Interdependenzen der Gesellschaften, mit der Verlängerung der Interdependenzketten, der steigenden sozialen Mobilität und der technischen Entwicklung haben sich die westlichen Ideale auch in die entferntesten Gebiete der islamischen Welt ausgebreitet. Die Expansion dieser Zivilisationsmuster hat zwar die Hoffnung auf die Teilhabe am materiellen Wohlstand und auf sozialen Aufstieg auch in den islamisch geprägten Gesellschaften geweckt. Doch sie schuf aber auch gleichzeitig jene Re-Islamisierungsbewegungen, die sich als eine praktische Kritik jener Modernisierungstheoretiker, Entwicklungspolitiker und Fortschrittsideologen offenbaren, die einen linearen und stetigen Verlauf der Modernisierung und des inner- und zwischenstaatlichen Diffusionsprozesses der etablierten Zivilisationsmuster vorausgesagt hatten. Damit exemplifiziert der Islamismus die Tatsache, dass die Tendenz der weniger entwickelten Gesellschaften, die westlichen Ideale fallen zulassen und als Trotzreaktion ihren einstigen "Vorbildern" Gegenideale entgegenzuhalten, dem Verlauf des Zivilisationsprozesses selbst zuzuschreiben ist. In seiner Dynamik auf der zwischenstaatlichen Ebene und seiner Verflechtung mit den jeweils intern verlaufenden sozialen Auf- und Abstiegsprozessen rückte er die Selbstwertbeziehungen der involvierten Menschen in den Mittelpunkt sozialer Auseinandersetzungen. Als eine der ungeplanten Begleit- und Folgeerscheinungen des Zivilisationsprozesses, die sich aus der Art ergibt, wie Menschen die mit Modernisierungsprozessen einhergehenden sozialen Ent- und Verflechtungsprozesse erfahren, entsteht der Islamismus also als eine Reaktion der Machtschwächeren innerhalb der Dynamik der Selbstwertbeziehungen interdependenter Menschen als Einzelne und Gruppen.

                       

2.Der Islamismus als eine nativistisch orientierte chiliastische Bewegung der islamisch geprägten Menschen

Inwiefern es fruchtbar ist, den Islamismus als eine Reaktion innerhalb der Selbstwertdynamiken der betroffenen Menschen zu betrachten, zeigt sich, wenn man die Glaubensaxiome und Werthaltungen der Islamisten inhaltlich untersucht. Dabei erweisen sich die islamistischen Bewegungen als nativistisch[24] orientierte chiliastische Bewegungen, die als Umschlag des chiliastischen Quietismus der islamisch geprägten Menschen in ihren chiliastischen Aktivismus[25]entstanden sind: Begreifen wir den als „Prinzip Hoffnung“ bekannten Chiliasmus im Sinne einer kollektiven Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung paradiesischer Glückszustände auf Erden[26], wie sie sich religiös im Glauben an ein Reich der Gerechtigkeit nach der Wiederkehr des Erlösers ausdrückt. Und verstehen wir unter Quietismus eine Orientierung der Menschen auf eine Verschmelzung mit Gott durch wunsch- und willenloses Sichergeben in seinen Willen, wie sie sich in ihrer apokalyptischen Weltabgeschiedenheit und völliger Ruhe des Gemüts manifestiert. Dann sind islamistische Bewegungen Ausdruck des Wandels einer kollektiven Aufbruchsbereitschaft der islamisch geprägten Menschen zur Herstellung paradiesischer Glückzustände bzw. Gerechtigkeit auf Erden in einen kollektiven Aufbruch von nativistisch orientierten Menschen, d.h. von Menschen, die mit einem neuen Schema von Selbstwerten, nicht nur ihren eigenen Selbstwert als Gruppe demonstrativ hervorheben. Als nativistische Bewegung ist der Islamismus zugleich eine der aktiven Durchsetzungsformen eines neu empfundenen eigenen Wertes für sich und für andere in Gestalt der Durchsetzung eines neuen Schemas der Verteilung der konstitutiven Bestandteile der Selbstachtung, also der Verteilung der Symbole der Überlegenheit, an denen nicht nur das Selbstwertgefühl der aufstiegsorientierten, islamisch geprägten Menschen haftet.[27]

Dies wird nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Kraft der lebenssteigernden Funktion des Selbstwertgefühls sich gegenwärtig unter anderem in der Universalität der Neigung zeigt, den Wert der eigenen Gruppe auf Kosten des Wertes anderer zu erhöhen.[28] Der eigene Selbstwert, sowohl in den eigenen Augen als auch in den Augen anderer sozialer Formationen, bestimmt sich daher durch das Ergebnis der Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe zwischen verschiedenen Menschengruppen um die Verteilung der Macht- und Statusquellen. Folglich ergibt sich die zwingende Kraft der Selbst- und Fremdwertbeziehungen nicht zuletzt aus der Furcht der Menschen voreinander, vor der physischen Vernichtung, Versklavung, Ausbeutung, Abhängigkeit etc. und nicht zuletzt vor der Vernichtung der Sinngebung. Die Angst vor einem drohenden Sinnverlust ruft dann schließlich nicht selten Gefühle extremer Feindseligkeit hervor, derart, dass die Menschen bereit sind, die als Gegner empfundenen Anders-Gläubigen zu vernichten, um ihr eigenes Glaubenssystem und ihre Tradition bzw. ihre Höherwertigkeit zu garantieren.

Diese Deutung wird einem nahegelegt, wenn man diesen Menschen aufmerksam zuhört und ihr Anliegen ernst nimmt. Nur so kann man sie, samt ihres Leidensdrucks, verstehen. Denn wo Leiden ist, ist auch Leidenschaft. Es ist ihr unerträglicher Leidensdruck, der diese nativistisch orientierten chiliastischen Aktivisten dazu treibt, für die Herstellung neuer Selbstwertbeziehungen im Sinne der Umkehrung der bestehenden Macht- und Statusordnung, sogar sich selbst individuell zu opfern. Die Notwendigkeit dieser autodestruktiven Tendenzen wird z. B. durch Ayatollah Chomeini hervorgehoben, der bereits in den sechziger Jahren seine berühmte Formel prägte, der Islam sei ein Baum, der nur wachsen könne, wenn er durch das Blut der Jugend genährt werde. Zu lange schon hätten die Muslime den Tod gefürchtet, und um ihm zu entgehen, einen hohen Preis bezahlt – das unwürdige Leben in einer Tyrannei.[29]

Mit der Ablehnung der passiven Geisteshaltung der Quietisten, die besonders durch das Streben nach einer gottergebenen Frömmigkeit und Ruhe des Gemüts gekennzeichnet ist, unterscheiden sich die chiliastischen Aktivisten also dadurch, dass sie nicht mehr auf den Erlöser warten können. Der Höhepunkt dieser Selbsterlösung ist ihr Selbstmordattentat, das man als Umschlag der kollektiven Trauer der islamisch geprägten, aufstiegsorientierten Menschen in ihren Hegemonialrausch interpretieren kann.

In dieser affektiven Enthemmung bzw. Überwältigung durch Affekte[30]manifestiert sich der Umschlag der Bereitschaft zum Aufbruch in einen praktischen Aufbruch zur Herstellung der Gerechtigkeit, als Folge des Wandels der vom Verlangen nach Achtung und Selbstachtung dominierten Bedürfnisstruktur der siegesgewissen chiliastischen Aktivisten. Dieser Strukturwandel des Bedürfnisses ist nicht nur das Ergebnis der relativ zunehmenden Befriedigung ihrer ökonomischen Bedürfnisse, welche die nicht-ökonomischen Bedürfnisse in den Vordergrund drängt und so zunächst die wohlhabenderen Schichten zur Kerngruppe der islamisch geprägten Selbstmordattentäter werden lässt. Diese Verschiebung der Valenzfiguration[31] der Außenseiter ist auch Folge einer Verschiebung der Machtbalance zugunsten der machtschwächeren Menschen auf unterschiedlichen Integrationsebenen, im Sinne einer funktionalen Demokratisierung und zwar als Folge der Globalisierung der Interdependenzen.

 

3. Zur Globalisierung als Entstehungs- und Wirkungszusammenhang einer globalen Beziehungsfalle von kulturell unterschiedlich geprägten Menschen als Etablierte und Außenseiter.

Die gegenwärtige Eskalation, die u.a. in den Selbstmordattentaten zum Ausdruck kommt, wird jedoch nicht nachvollziehbar, solange man einen der zentralen Aspekte der zunehmenden Globalisierung vernachlässigt, den ich als Entstehungs- und Wirkungszusammenhang einer Beziehungsfalle von kulturell unterschiedlich geprägten Menschen als Etablierte und Außenseiter in ihren sozialen Auf- und Abstiegsprozessen bezeichne. Und zwar jene Beziehungsfalle, die durch die Globalisierung der beruflichen und staatlichen Bindungen der Menschen entsteht, ohne dass sie sich als globaler Integrationsprozess der Erfahrung der Menschen aufdrängt. Es ist der Nachhinkeffekt dieser Transformation der Wahrnehmung der Menschen hinter der sozialen Transformation, der sich als Wunsch- und Furchtbilder der sich gegenseitig ausschließenden sozialen Gruppen manifestiert, die so die real ablaufenden langfristigen und ungeplanten globalen Integrationsprozesse selektiv als Chance bzw. als Gefahr erleben.

Dessen ungeachtet wird diese stillschweigende Verringerung der Distanz, diese zunehmende Integrierung der in Staaten aufgespalteten Menschheit zunehmend wirkungsmächtig als gesellschaftliche Einheit und als Bezugsrahmen vieler Entwicklungsvorgänge und Strukturwandlungen.[32]

Mit dieser Verdichtung des Netzwerkes der Interdependenzen zwischen den in ca. 150 Staaten organisierten 6,1 Milliarden Menschen, sind diese Staaten als mehr oder weniger feste Verbände in höherem oder geringerem Maße voneinander abhängig geworden, sei es in ökonomischer Hinsicht, sei es durch einseitige oder gegenseitige Gewaltandrohung oder je nachdem auch durch den direkten Gewaltgebrauch, sei es durch Ausbreitung von Selbstregulierungs- und anderen Verhaltens- und Empfindensmustern von bestimmten Zentren her, sei es durch Übernahme von Sprach- und sonstigen kulturellen Modellen und in vielerlei anderer Hinsicht.

Diese stillschweigende Verringerung der Distanzen, die zunehmende Integrierung der Menschheit, bedeutet nicht nur eine steigende horizontale soziale Mobilität der Menschen auch über die Grenzen des eigenen Staates hinaus, die sich etwa in Tourismus und Migration als Massenerscheinungen und damit in einer Vergrößerung der Chancen der Individualisierung äußert. Zugleich geht eine steigende vertikale soziale Mobilität und somit eine funktionale Demokratisierung inner- und zwischenstaatlicher Beziehungen mit der zunehmenden Integrierung der Menschheit einher, die als sozialer Auf- bzw. Abstiegsprozess erfahren wird.

Diese zunehmende gegenseitige Angewiesenheit und Abhängigkeit der staatlich organisierten Menschen drückt sich daher nicht zuletzt in Manifestationen der Eskalation ihrer nicht mehr übersehbaren existentiellen Ängste voreinander aus. Sie fühlen sich zunehmend in ihrer physischen und sozialen Existenz gegenseitig als Etablierte und Außenseitergruppen bedroht. Folglich prägen sie sich in ihren emotionalen Verstrickungen gegenseitig durch eine globalisierte Kultur des Misstrauens und tragen so zu einem Teufelskreis der gegenseitigen Bedrohung bei.

Daher fühlen die europäischen und amerikanischen Bürger und ihre Regierungen sich seit dem Niedergang der Sowjetunion - der einherging mit dem Zerfall der bipolaren Hauptspannungsachse zwischenstaatlicher Beziehungen und der Entstehung ihrer Multipolarität - zunehmend von den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und deren islamisch geprägten Bürgern bedroht. Es ist dieses angstgesättigte Erlebensmuster der Etablierten dieser Welt, das sich nicht nur in solchen phantasiegeladenen Abwehrreaktionen wie der theoretischen Konstruktion eines „Clash of Civilizations“[33] manifestiert. Dieser prophezeite „Kampf der Kulturen“ schreibt als Gefühlserfahrung und Phantasie den „Kulturen“ Eigentümlichkeiten einer Person oder einer Sache zu, die scheinbar von sich aus als kausale Triebkraft zu wirken vermag, fast unabhängig von den Menschengruppen, die derart miteinander verkehren. So wird nicht nur verdrängt, dass es sich um eine mögliche Eskalation der bestehenden Spannungen und Konflikte der kulturell unterschiedlich geprägten Menschengruppen handeln könnte, die mit extrem ungleichen Macht– und Statuschancen ausgestattet sind. Mit der Hervorhebung der Zivilisationsdifferentiale als Exklusions- und Inklusionskriterien, wird zugleich ein Weltbild entlang der Konfliktlinie zwischen „the West and the Rest“ konstruiert, das - mit „dem“ Islam als Hauptfeind - der Renaissance eines Zivilisations- und Kulturbegriffes Vorschub leistet, der im Zuge früherer Kolonisationsprozesse als gruppencharismatischer Kampfbegriff gegen jene machtschwächeren Völker geprägt wurde, die damit als „unzivilisiert“ und „barbarisch“ stigmatisiert wurden.

Im Rivival solcher Stigmatisierungen zeigt sich eine gruppencharismatische Angstreaktion der Etablierten, die auf einer Wahrung der Machtunterschiede und ihrer eigenen Überlegenheit beharren oder noch zu deren Erhöhung hin drängen, gegen die Herausforderung der Außenseitergruppen, die sich mit stillem Druck oder offener Tat um einen sozialen Aufstieg bemühen und somit auf eine Verringerung der Machtdifferenziale hin drängen. Diese Angstreaktion manifestiert sich nicht zuletzt in den Äußerungen der amerikanischen und europäischen Staatsoberhäupter wie Silvio Berlusconi, der nicht zuletzt und in der Hitze des Gefechts gemeinsame Glaubensaxiome und Werthaltungen der Etablierten dieser Welt artikulierte: „Wir sollten uns der Überlegenheit unserer Zivilisation bewusst sein, die in einem Wertesystem besteht, das den Menschen breiten Wohlstand in den Ländern beschert hat, die es achten, und das den Respekt der Menschenrechte und Religion garantiert.“(...) Mit dieser Selbsterhöhung hebt er zugleich eine als selbstverständlich empfundene Mission der machtstärkeren Staatsgesellschaften hervor, die man als Glaube an die zivilisierende Mission europäischer Völker längst für überwunden hielt: “Das Abendland ist dazu bestimmt, die Völker zu verwestlichen und zu erobern.“[34]

Hier wird nicht nur deutlich, dass kollektive Lob- und Schimpfphantasien auf allen Ebenen von Machtbalance-Beziehungen eine unübersehbare, zentrale Rolle für die gesellschaftliche Praxis spielen, deren Entwicklung Funktion der Entwicklung der betreffenden Gruppen ist. Es lässt sich auch hier wie immer beobachten, dass Mitglieder von Gruppen, die im Hinblick auf ihre Machtchancen anderen, interdependenten Gruppen überlegen sind, von sich glauben, sie seien im Hinblick auf ihre menschliche Qualität besser als die anderen. Dabei sehen sie sich ausgestattet mit einem Gruppencharisma, einem spezifischen Wert, an dem ihre sämtlichen Mitglieder teilhaben und der anderen abgeht. Und mehr noch: Als Funktion der unüberwindbaren Machtdifferenziale, können immer wieder die Machtstärkeren die Machtschwächeren selbst zu der Überzeugung bringen, dass ihnen die Begnadung fehle - dass sie schimpfliche, minderwertige Menschen seien.[35] Sie wundern sich bloß, dass die Machtschwächeren sich rächen und zu einer gewaltigen Gegenstigmatisierung ausholen, sobald sich die Machtbalance zu ihren Gunsten verschiebt und sie sich dieses relativen Machtzuwachses bewusst werden.[36]

Es muss einsichtig sein, dass mit einer solchen erniedrigenden und stigmatisierenden Statusideologie, die als Angriffs- und Verteidigungswaffe der Etablierten ihre eigene Überlegenheit betont und rechtfertigt und die Bürger der machschwächeren Staaten als minderwertige Menschen abstempelt, permanent eine globale Beziehungsfalle zwischen Etablierten und Außenseitern reproduziert wird. Entstanden aus einer empfundenen Bedrohung ist diese „Ideologie“ - als System von Einstellungen und Glaubensaxiomen - aufgebaut um bestimmte stereotype Themen. Sie wird aber verbreitet und aufrechterhalten durch einen unaufhörlichen Strom von journalistisch zubereiteten Informationen mittels eines globalisierten Netzes von Massenkommunikationsmitteln, das einerseits dazu neigt, selektiv alle Ereignisse innerhalb und außerhalb der machtstärkeren Staaten aufzugreifen, die zu deren Erhöhung beitragen, sowie andererseits alle Ereignisse innerhalb und außerhalb der weniger entwickelten Gesellschaften, die das Negativbild der aufstiegsorientierten machtschwächeren Menschen verstärken. Diese zur Selbstverständlichkeit verfestigte Statusideologie, die den Stammtisch-Gesprächen den nötigen Stoff liefert, verstellt schließlich den Blick für alle Ereignisse, die ihr irgend hätten widersprechen können.[37]

Diese Statusideologie der Etablierten, samt der entsprechenden Gefühlslage, kommt nicht minder in der Erklärung der 58 führenden amerikanischen Intellektuellen zum Ausdruck, die im Namen von fünf fundamentalen Wahrheiten“ den amerikanischen Krieg gegen den „Terrorismus“ zu legitimieren versuchen. Sie heben hervor: "Manchmal wird es notwendig für eine Nation, sich selbst mit Waffengewalt zu verteidigen“. Dabei bekräftigen Sie ihre „fünf fundamentalen Wahrheiten“ und stellen fest: Wir kämpfen, um uns selbst und diese allgemeingültigen Prinzipien zu verteidigen“. Denn konsequenterweise richtet sich (der) Hass (der Islamisten) nicht allein gegen das, was unsere Regierung tut, sondern gegen das, was wir sind - gegen unsere Existenz.“ So definieren sie ihre Existenz durch die Werte, die sie vertreten, in dem sie fragen: „Wer also sind wir? Was sind unsere Werte?[38]

Mit solch einem Selbstbegriff im Sinne der demonstrativen Hervorhebung der als eigen erklärten „grundlegenden Werte, die unsere (amerikanische) Lebensweise definieren“ und die „für die Menschen überall auf der Welt“ attraktiv seien, wird also die Notwendigkeit eines Verteidigungskrieges behauptet, in dem nicht nur das Leben der als Feinde definierten Menschen geopfert werden darf, sondern auch das der Eigenen.

Allein wenn man sich vergegenwärtigt, dass die islamisch geprägten Gesellschaften sich schon praktisch seit Jahrhunderten in solch einer bedrohlichen Lage befinden, wie sie die amerikanischen Intellektuellen für die Legitimierung ihres „Verteidigungskrieges“ hervorheben, begreift man die Funktion der angstgesättigten „Verschwörungstheorien“[39] der Islamisten als Abwehrrektionen der machtschwächeren und als minderwertig stigmatisierten Menschen. In der Tat ist die „Dämonisierung der Außenwelt und die Zurückführung allen Übels auf ihre Machenschaften“[40]im Sinne eines voluntaristischen Entwicklungsbegriffs Folge der Erfahrung extremer Machtdifferentiale und des sich daraus ergebenden permanenten Gefühls, extrem fremdbestimmt zu sein. Eine solche Erfahrung der Fremdsteuerung verselbständigt und verfestigt sich als Kultur im Sinne der „zweiten Natur“ der Menschen durch die soziale Vererbung und praktische Wiederholung dieser Erfahrung über lange Generationenketten.

Diese machtschwächeren Menschen werden sich mit zunehmender funktionaler Demokratisierung im Sinne der allmählichen Verlagerung der Machtbalance zu ihren Gunsten als Folge der zunehmenden Globalisierung der gesellschaftlichen Funktionsteilung und Multipolarität zwischenstaatlicher Beziehungen ihres relativen Machtzuwachses bewusst, ohne dass sie damit gleichzeitig in der Lage wären, ihren verschwörungstheoretischen bzw. voluntaristischen Entwicklungsbegriff aufzugeben. Aus dieser Erfahrung heraus, holen sie zu einer Gegenstigmatisierung der Machstärkeren als „korrupt und verdammt“ aus[41], während ihre militanten Teilformationen diese praktisch mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln herausfordern. Es sind jedoch die, sich zwar allmählich verringernden, aber zumindest bisher noch absolut unüberwindbar großen Machtdifferenziale zu ihren Ungunsten, die das Selbstmordattentat zu ihrer scheinbar wirkungsvollsten Angriffswaffe gegen eine als Imperialismus erfahrene Globalisierung machen. In diesem Sinne bestätigen die Selbstmordattentate nur die Regel, dass je schwächer, je unsicherer und verzweifelter die Menschen werden, je schärfer sie zu spüren bekommen, dass sie dem Rücken zur Wand kämpfen, desto roher ihr Verhalten, desto akuter die Gefahr ist, dass sie die zivilisierten Verhaltensstandards, auf die sie stolz sind, selbst missachten und zerstören.[42]

 

Dawud Gholamasad, November 2002



  • · Ein Beitrag zur Vorlesungsreihe FORUM SIEGEN am 9.01.03

[1] Genau genommen hängt die Fähigkeit, sich in andere zu versetzen, nicht nur mit der Erweiterung der Reichweite der Identifizierung zusammen, sondern eben auch von der Art der Identifizierung, der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, die bedingt ist durch die jeweilige Ausgestaltung des Selbst in Interdependenz mit dem Gegenüber. Das Etablierten-Außenseiter-Modell von N. Elias verweist eben auf die gegenseitige Bedingtheit der Menschen nicht nur durch ihre funktionalen Verstrickungen, sondern und vor allem auch auf die Relevanz ihrer Erfahrung dieser Verstrickungen für den Prozessverlauf. Elias spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Logik der Emotionen’. Dabei ist es eine irrige Ansicht, Emotionen wären stets dem Bereich des ‚Irrationalen’ zuzuordnen. Wir sprechen von Emotionen, wenn etwas für und im Hinblick auf ein Subjekt eine Relevanz und also Bedeutung besitzt und entsprechend diese Reaktionsmuster schafft, die wir Emotion nennen

[2] Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung, Ffm. 1987, S. 78

[3] Tibi, Bassam, Selig sind die Belogenen – Der christlich-islamische Dialog beruht auf Täuschung und Fördert weltliches Wunschdenken, in : http://www.zeit.de/2002/23/Politik/Print/_200223_essay.tibi.html

[4] Durkheim, Emil, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Ffm.1994, S. 561.

[5] Durkheim, a.a.O., S. 566.

[6] Es ist die Erfahrung dieses erinnertes Wandlungskontinuums, die Hobsbawm zur Formulierung seines Theorems Invention of Tradition“ veranlasst, das jedoch hinter prozess- und figurationssoziologische Einsichten ein wenig zurückfällt: „Inventing traditions […] is essentially a process of formalization and ritualization, characterized by reference to the past, if only by imposing repetition. […] we should expect it to occur more frequently when a rapid transformation of society weakens or destroys the social patterns for which ‘old’ traditions had been designed, producing new ones to which they were not applicable, or when such old traditions and their institutional carriers and promulgators no longer prove sufficiently adaptable and flexible, or are otherwise eliminated.” (The Invention of Traditions, edited by Eric Hobsbawm and Terence Ranger, Cambridge 1983, pp.4). Als ein Alternativkonzept siehe die Ausführungen „Zum Fundamentalismus als ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus“; in: Dawud Gholamasad, „Zu Demokratisierungsproblehme der islamisch geprägten Gesellschaften“; in: E. Barlösius, et al., „Distanzierte Verstrickungen“, Berlin, 1997, S.357 – 374.

[7] Ajatollah Muhammad Taqi Misbah Yazdi, Tahdjom-e Farhangi („Cultural Assault“), Qom, 13805 (2001), S. 63ff. (Persisch)

[8] Daniel Pipes, Islam an Islamism – Faith and ideology, Spring 2000, www.danielpipes.org/article/366

[9] Whorf, Benjamin Lee, Sprache, Denken, Wirklichkeit, - Beitrag zur Linguistik und Sprachphilosophie, Reinbek bei Hamburg, 1963, S. 12

[10] Vergl. Elias, Norbert, Die Gesellschaft der Individuen, Ffm. 19883, S.244

[11] Tibi, Bassam: Die fundamentalistische Herausfordern – der Islam und die Weltpolitik, München 1992, S. 35

[12] Barreau, J.-C.: Die unerbittlichen Erlöser. Reinbek bei Hammburg, 1992

[13] Durkheim, a.a.O., S. 558

[14] die erste Pflicht jedes Muslim ist es, die Shahadat zu sprechen: “Ich bezeuge, es gibt keine Gottheit außer Gott; ich bezeuge, Mohammad ist der Gesandte Gottes“

[15] Es handelt sich hierbei um ein rituelles Gebet, das in festgelegten Formen fünf mal am tag zu bestimmten Zeiten gebetet werden muss.

[16] Vergl. Koran 8, 66; 9, 112; 4, 97f.; 3, 163; 2, 149, zitiert bei Antes, Peter: der Islam als politischer Faktor; (Herausgegeben von NLPB), Hannover 2001, S. 17ff.

[17] ibid

[18] Elias, Norbert, a.a.O., S. 83

[19] Emil Durkheim, a..a..O.., S 558

[20] Ajatollah Chomeini: Der islamische Staat, Berlin, 1983, S. 16

[21] Vergl. Durkheim, a.a.O., S. 19

[22] Auch die Falken der US-amerikanischen Nahostexperten, wie z. B. Daniel Pipes, leugnen diese Gemeinsamkeit nicht. (Daniel Pipes: American Policy toward Islam, Georgetown University, Centre for Muslim-Christian Understanding, September 23, 1999, < dplist-admin@danielpipes.org> ; derselbe: Islam and Islamism – Faith and Ideology, in The National Interest, Spring 2000, < dplist-admin@danielpipes.org>)

[23] Relativiert wird dieser Wert jedoch, wenn man ihn in Verhältnis setzt zum strukturellen Begriff der Zivilisation. Damit ist, im Unterschied zum wertenden Zivilisationsbegriff, die Psychogenese bestimmter Verhaltens- und Empfindensmuster in einer bestimmten Richtung gemeint, die in funktionaler Interdependenz zur sozialen Entwicklung steht. Die Einsicht in die Soziogenese der Verhaltens- und Empfindensmuster, die heute als zivilisiert gelten, verdeutlicht, dass sie Produkt langer, ungeplanter, nicht-linearer Prozesse und keineswegs persönliches Verdienst jener Gruppen sind, die sie heute besitzen. In diesem Sinne stellt das, was man als die ‚westliche Zivilisation’ bezeichnet ebenso ein Wandlungskontinuum dar wie der Islam in seinen verschiedenen Ausprägungen. Der Einblick in den Zivilisationsprozess verweist weiter auf die Tatsache, dass die Aneignung bestimmter Zivilisationsmuster in bestimmten Gesellschaften, zu bestimmten Zeiten -wohlgemerkt nicht in allen - einen Machtzuwachs bzw. gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet.

[24] Nativismus bedeutet demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werte. Vergl. W.E. Mühlmann et al: Chiliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Berlin 1961

[25] Dawud Gholamasad: Iran – Die Entstehung der „Islamischen Revolution“, Hamburg 1985

[26] Vergl. W.E. Mühlmann et al.

[27] Der gegenwärtige Wunsch einiger „Schurkenstaaten“, Zugang zu Massenvernichtungswaffen zu bekommen, liegt ebenfalls nicht zuletzt in diesem Bedürfnis begründet, sich mit entsprechenden Macht- und Statussymbolen auszustatten, um sich so international Respekt zu verschaffen.

[28] Vergl. Norbert Elias, John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main 1990, S.312

[29] Er fand anscheinend Bestätigung durch eine Zeile des berühmten persischen Dichters Nasser Khosro, in der es hieß: Die Furcht des Volkes vor dem Tod ist eine Krankheit, die nur der Glaube heilen kann. (Vergl. Amir Taheri: Chomeini und die islamische Revolution, Hamburg 1985, S. 144f.)

[30] Ich bevorzuge hier statt ‚affektive Enthemmung’, wie sie sich in Selbstmordattentate manifestieren, den Ausdruck affektive Überwältigung. Damit kommt besser zum Ausdruck, dass nicht nur das Verhalten der Menschen nach Außen sich verändert, sondern dass die ganze Person eingenommen ist von einer bestimmten Art der Selbst- und Fremderfahrung, wobei andere Selbst- und Fremderfahrungsmodi, die ja gewiss vorhanden sind bzw. waren, nicht (mehr) verfügbar und wirksam sind, was den für den Selbstmordattentäter typischen Realitätsverlust erklärt.

[31] Damit ist die Strukturveränderung der Bindungen der Menschen gemeint, die selbst kraft ihrer elementaren Ausgerichtetheit, ihrer Angewiesenheit aufeinander und ihrer Abhängigkeit von einander entstehen. (Vergl. Elis, Norbert, Was ist Soziologie, Weinheim; München, 1986, S. 11und 146ff.)

[32] Diese umfassendere und festere Gesamtintegration der Menschheit im Sinne der zunehmenden Ersetzung der Staaten durch einen Staatenverband der Menschheit als maßgebliche gesellschaftliche Einheit ist Folge:

- der Verkleinerung der Entfernung zwischen vielen Staaten und Staatengruppen als Funktion der sozialen Entwicklung, die zu der des Kraftwagens und des Flugverkehrs drängte,

- der Verdichtung des Kommunikationsnetzwerkes als Folge der Entwicklung der Massenkommunikationsmittel, und

- der Ausweitung des globalen Touristen-, Güter- und Kapitalverkehrs,

- kurz: der schnellen Verdichtung des Netzwerkes der Interdependenzen zwischen den Staaten der Welt im Laufe des 20. Jhs. (Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, Ffm. 1987, S. 219ff.)

[33] Samuel P. Huntington: The clash of civilizations and the remaking of World order,

[34] HAZ 27.9.01

[35] Norbert Elias, John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter, Ffm.1990, S. 8

[36] Der Charakter solcher erniedrigenden und stigmatisierenden Statusideologie der Etablierten als Angriff- und Verteidigungswaffe gegen die als bedrohlich empfundene Außenseitergruppen manifestiert sich u.a. exemplarisch in einem Beitrag eines der Falken unter den amerikanischen Nahe Ost Experten über Saudi Arabien unter dem Titel „nicht Freund oder Feind“, dessen Kultur er als „notorisch rückständig, engstirnig und barbarisch“ angreift. Mit dieser Erniedrigung attackiert er eine der mutmaßlichen künftigen Herausforderer der USA, was er als eine Anmaßung empfindet: „Trotz dieser Nachteile betrachten die Herrscher des Königreichs sich als Anführer von mehr als einer Milliarde Muslimen weltweit und als Vorhut einer Bewegung, die letztendlich die als korrupt und verdammt abgelehnte westliche Zivilisation besiegen und ersetzen will. Diese übermäßige Ambition leitet der saudische Staat aus seiner Funktion als ‘Protektor der zwei heiligen Stätten’, der Städte Mekka und Medina ab“ ( Daniel Pipes: Not Friend or Foe, in New York Post, May 14, 2002)

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass diese Stigmatisierungen dem engsten und bisweilen treuesten Verbündeten der USA gelten, kann man das Gefühl der Bedrohung durch hegemoniale Herausforderung erfassen, aus dem heraus solche emotionalen Reaktionsmuster entstehen, die entsprechende Gegenreaktionen hervorrufen. Dieses Erfahrungsmuster manifestiert sich in seiner von Angst gesättigten Prognose, welche die Erfahrungswelt der Etablierten annähernd kennzeichnet: „Wie dominant auch die USA heute sein mögen, es gibt eine Anzahl von Möchtegern-Nachfolger, und Saudi Arabien ist nicht weniger ambitioniert als die anderen.“ (Ibid)

[37] Vergl. Norbert Elias, John L. Scotson: a.a.o., S. 84f

[38]Denn „in der Konsequenz richtet sich ihr Hass nicht allein gegen das, was unsere Regierung tut, sondern gegen das, was wir sind - gegen unsere Existenz.“ (...) „Wer also sind wir? Was sind unsere Werte? Für viele Menschen, viele Amerikaner, einen Gutteil der Unterzeichner eingeschlossen, sind einige Werte, die in Amerika sichtbar werden, nicht erstrebenswert und schmerzlich. Konsum als Lebenszweck. Der Begriff von Freiheit als Fehlen von Regeln. Das Verständnis des selbstbestimmten und uneingeschränkt souveränen Individuums, als ob es anderen und der Gemeinschaft nichts schuldig sei. Die Schwächung von Ehe und Familienleben. Zudem den enormen Unterhaltungs- und Kommunikationsapparat, der solche Ideen rücksichtslos glorifiziert und sie, ob willkommen oder nicht, in fast jede Ecke des Globus sendet. (...) Gleichzeitig gibt es andere amerikanische Werte - die wir als grundlegende Werte begreifen, die unsere Lebensweise definieren -, die sich von den zuvor genannten unterscheiden und weit attraktiver sind nicht nur für Amerikaner, sondern für die Menschen überall auf der Welt“. (Siehe: http://www2.tagesspiegel.de/archiv/2002/02/11/ak-mn-667856.html, und http://www.propositionsonline.com/html/fighting_for.html.)

[39] „Verschwörungsdenken hat tiefe Wurzeln in der islamischen Kultur“, stellt der irakische Exil-Autor Samir Al-Khlil in seinem Buch „Republic of Fear“ (S.100) fest, ohne nach ihrer Sozio- und Psychogenese zu fragen.

[40] Bassam Tibi: Kreuzzug oder Dialog; in Volker Matthis(Hg.):Kreuzzug oder Dialog – Die Zukunft der Nord-Süd-Beziehung, Bonn 1992, S.115

[41] Vergl. Misbah Yazdi, Muhammd Tagi: a.a.O., S. 23

[42] Vergl. Norbert Elias: Studien über die Deutschen, Ffm. 1989, S.463