Einige Thesen zu Islamismus und Islamophobie als de-zivilisierenden Aspekte der Demokratisierung als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der involvierten Menschen.[1]

In diesem Beitrag möchte ich – aus aktuellem Anlass –  die Reichweite der Prozesssoziologie Norbert Elias` demonstrieren und Thesenartig auf die interdependenten sozio- und psychogentischen Aspekte des Islamismus und der Islamophobie als De-Zivilisierungsschübe in Europa und USA hinweisen, die ich als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der involvierten Menschen in Demokratisierungsprozessen diskutieren möchte. Damit soll eine Überwindungsperspektive des Problems erörtert werden, welche die Vielschichtigkeit dieser Prozesse berücksichtigt. Denn in der Regel werden die funktionellen, institutionellen und sozial-habituellen Aspekte der Demokratisierung auf ihre institutionellen Aspekte zustandsreduziert.

 

 

 

I.        Um den Zusammenhang von Demokratisierung, Zivilisierung und De-Zivilisierung als komplementäre und reversible Prozesse zu begreifen, müssen die Gerichtetheit, Richtungsbeständigkeit, Ungleichzeitigkeit und Reversibilität der funktionellen, institutionellen und sozialhabituellen Aspekte der Demokratisierung berücksichtigt werden.

 

 

 

II.      Die funktionelle Demokratisierung bezieht sich auf die Verlängerung der vielfältigen Interdependenzketten, in denen die Menschen als Einzelne und Gruppen gebunden sind. Sie manifestiert sich in der Verschiebung der potentiellen Machtbalance zugunsten der Machtschwächeren und zunehmenden latenten Spannungen.

 

 

 

III.    Die Zivilisierung bezieht sich auf die gerichtete Entwicklung individueller Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung auf sekundäre Ziele und deren Sublimierung. Dieser gerichtete psychische Transformationsprozess führt zum Strukturwandel des Seelenaufbaus der Menschen.

 

 

 

IV.   Zu den demokratisierungsrelevanten Hauptkriterien der Zivilisierung des sozialen Habitus gehören u. a.:

 

 

 

1.      Veränderungen des sozialen Habitus bzw. der Persönlichkeitsstruktur der Menschen in Richtung auf ebenmäßigere, allseitigere und stabilere Selbstkontrollmuster, d.h.:

 

·          Die stetige Selbstkontrolle sucht die Kontraste und plötzliche Umschwünge im Verhalten, die Affektgeladenheit aller Äußerungen  gleichermaßen zu verringern.

 

 

 

·         Das ganze Verhalten, alle Leidenschaften werden gleichermaßen einer genaueren Regelung unterworfen.

 

 

 

·         Die Verhaltenssteuerung wird weniger Trieb- und Affektdurchlässig; sie wird zunehmend „sachlich“ bzw. Realität angemessener.

 

 

 

2.      Ohne sich je von Fremdzwängen völlig loszulösen, gewinnen außerdem die Selbstzwänge gegenüber den Fremdzwängen größere Autonomie.

 

 

 

3.      Das Gleichmaß der Selbstregulierung im Verhältnis zu allen Menschen und in fast allen Lagen nimmt zu. Dies manifestiert sich in Erweiterung der Toleranzgrenze und abnehmender Diskriminierung. (siehe die Beziehungsachse)

 

 

 

4.      Im Zusammenhang mit der zunehmenden Verselbstständigung der individuellen Selbstregulierungsinstanzen, zu denen Verstand wie Gewissen, Ich wie Über-Ich gehören,  erweitert sich auch die Reichweite des Vermögens eines Menschen, sich mit anderen Menschen in relativer Unabhängigkeit von deren Gruppenzugehörigkeit zu identifizieren, also auch Mitgefühl mit ihnen zu empfinden. (Siehe Selbstwertlinie)

 

 

 

5.      Ein De-Zivilisierungsschub bedeutet dann eine Veränderung in entgegengesetzte Richtung, d.h. vor allem (siehe Selbstwertlinie):

 

 

 

a.      eine Erhöhung der Erregbarkeit bzw. Affektivität im Sinne zunehmender „Unsachlichkeit“ bzw. Realitäts-Unangemessenheit des Erlebens und Verhaltens, weniger ebenmäßige, weniger allseitige und weiniger stabilere Selbstkontrollmuster.

 

 

 

b.      sowie eine Verringerung der Reichweite der Identifizierung und des Mitgefühls.[2]- wie wir sie bei Islamismus und Islamophobie vorfinden. In diesem Sinne teilen Islamismus und Islamophobie gewisse Strukturähnlichkeiten trotz ihrer Gestaltunterschiede. (Siehe Selbstwertlinie)

 

 

 

I.        Für die Richtung dieser Zivilisierungsprozesse sind die Kontrolle der vier existentiellen Zwänge zur Überwindung der Angst erzeugenden Umstände entscheidend:

 

 

 

                                                                  i. Die Kontrolle der außenmenschlichen Natur in Gestalt der Naturwissenschaft und der technologischen Entwicklung im Sinne der Überwindung der Gefahrenzone erste Ordnung,

 

 

 

                                                                ii. Die Kontrolle der Fremdzwänge in Gestalt der Bedrohung anderer Menschen und anderer Menschengruppen, die zur Pazifizierung immer größerer Räume und der Entstehung des Staates als einer Verteidigungs- und Angriffseinheit sowie des Gewalt- und Steuermonopols führt.

 

 

 

                                                              iii. Die Umwandlung der Fremdzwänge – Gebote und Verbote - in Selbstzwänge in Gestalt der Scham- und Peinlichkeitsgefühle und die Erweiterung ihrer Grenzen im Sinne der inneren Gefahrenzone.

 

 

 

                                                                  i. Die Kontrolle der eigenen Natur in Gestalt der Entwicklung individueller Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung auf sekundäre Ziele und deren Sublimierung.[3]

 

 

 

b.  Mit dem habituellen Aspekt der Demokratisierung sind die Fragen verbunden, inwieweit die Glaubensaxiome und  Wertmaßstäbe zivilisiert und verinnerlicht worden sind. Diese Zivilisierung manifestiert sich u.a. in vorherrschenden Gebote und Verbote sowie in den Scham- und Peinlichkeitsschwellen der Menschen als deren Verbots- bzw. Gefahrenzonen.

 

 

 

II.                  Ich möchte nun den Islamismus und die Islamphobie als eine Beziehungsfalle bzw. Schicksalsschleife diskutieren, die sich gegenseitig hochschaukeln.

 

 

 

1.      Der Islamismus in den islamisch geprägten Gesellschaften ist Folge des Kolonialismus und des Zerfalls des osmanischen Reiches; der antikolonialistische Mahdi-Aufstand in Sudan Ende des. 19. Jh., der zum kurzzeitigen „Kalifat von Omdurman “ („Mahdi-Reich“) von 1881 bis 1899 führte,  war  der erste Vorbote des Islamismus[4].

 

 

 

2.      Die folgenden zunehmenden Globalisierungsprozesse im 20. Jh. führten zur massiven Desintegration der älteren Integrationsebenen der mehr oder weniger verstaatlichten Gesellschaften – wie der Stämme und Dörfer - und damit zur massiven Wir-Brüche. Massenhafte Landflucht und Migrationen sowie die Megacities sind ihre Folgen.

 

 

 

3.      Der Islamismus ist daher eine Manifestation massenhafter Identitätskrise, die als Folge der Diskontinuität der Lebenszusammenhänge der Menschen zu begreifen ist.

 

 

 

·         Mit den Globalisierungsprozessen und im Zuge der funktionellen Integrationsprozesse der islamisch geprägten Gesellschaften, geht auch eine institutionelle Modernisierung dieser Gesellschaften einher:

 

 

 

o       Es entsteht zwar Lohnarbeit, aber ohne dass die Arbeiter reell unter das Kapital subsumiert wären und Normen abstrakter Arbeit verinnerlicht hätten.

 

 

 

o       Es entstehen moderne Verfassungen und Rechtssysteme, unter denen die Menschen zumeist aber nur formell subsumiert sind, ohne dass aus ihnen selbstbewusste Staatsbürger werden.

 

 

 

o        Auch die Säkularisierung des Alltagslebens bleibt mehr oder weniger eine Fassade, unter der sich enorme innere Spannungen und Konflikte verbergen. Dabei werden die Menschen unsicherer in der Steuerung ihres Verhaltens.

 

 

 

o        Diese Transformationsspannungen und -konflikte sind Nachhinkeffekt ihres sozialen Habitus bzw. ihrer Persönlichkeitsstruktur. Sie ist gekennzeichnet durch mangelnde Individualisierung und relativ geringere emotionale Entbindung von dem tradierten Zivilisationsmuster angesichts der modernen Anforderungen.

 

 

 

·         Diese spannungs- und Konfliktbeladene Modernisierung vollzieht sich in Form sozialer Differenzierungs- und Integrierungsprozesse, die als soziale Auf- und Abstiegsprozesse erfahren werden.

 

 

 

·         Mit der Transformation der Gesellschaft in Modernisierungsprozessen verlieren die herrschenden sozialen Funktionsträger – wie die Großgrundbesitzer, die traditionelle Händler und Gewerbetreibende sowie die Geistlichkeit - nicht nur ihre sozialen Funktionen; auch ihre Werte verlieren mehr oder weniger an Bedeutung, weil die transformierte Gesellschaft neue spezifische Werte und Gesetze braucht, um die Beziehungen der Mitglieder zueinander und zu der Ganzheit zu regeln.

 

 

 

·         Dieser existentiell bedrohende soziale Abstieg wird daher nicht nur als ein Funktionsverlust und als Entwertung der affektiv besetzten eigenen Werte erlebt; sondern auch als eine erschütternde soziale Erniedrigung, die kompensiert werden muss.

 

 

 

·         Der Islamismus ist Folge dieses erschütternden Erlebnisses traditioneller sozialer Gruppen, ihrer Unfähigkeit um den Verlust ihrer Dominanz zu trauern und eine kompensatorische Reaktion gegen den Untergang der Scharia als offizieller normativer Struktur der Gesellschaft; diese  werden als eigen definierte Werte der Islamisten demonstrativ hervorgehoben und gegen moderne Werte verteidigt, die als „Verwestlichung“ bekämpft werden.

 

 

 

·         Der Islamismus ist daher ein chiliastisch geprägter Nativismus: er ist also die demonstrative Hervorhebung der als selbstwertrelevant definierten Werte der sich als „rechtgläubig“ begreifenden Muslime, die die „Scharia“ als Inbegriff des „Islams“ und göttlicher Regulationsprinzipen der gesellschaftlichen Beziehungen im Sinne der Herstellung der paradiesischen Glückszustände auf Erden verstehen.

 

 

 

·         So wird die Moral einer formalisierten Religion untergeordnet, während bei dem zivilisiert gelebten Islam die Religion der Moral subsumiert ist. Von daher erhält die Aufrechterhaltung der Theokratie in der „Islamischen Republik“ Iran die absolute Priorität, wofür nach Khomeini sogar die primären Gebote des Islams „zeitweise“ suspendiert werden dürfen. Dies obwohl er ursprünglich die Errichtung des „Islamischen Staates“ als die absolute Notwendigkeit für die Durchsetzung der „Scharia“ als ewig gültiges Gesetzeswerk sah[5]. So entsteht ein Staat, der im Namen Gottes, sich selbst dient anstatt dem Volk zu dienen.

 

 

 

·         Dies manifestiert sich in einem Fanatismus, der nichts anderes ist als ein blindwütiges Vorgehen im Dienste der egozentrischen Selbstliebe der Islamisten, deren ewige Herrschaft[6]– im Namen Gottes - gesichert werden muss. 

 

 

 

·         Mit der „Scharia“ wird eine selbstwertrelevante institutionalisierte Diskriminierung Andersdenkender, Andersgläubiger sowie der Frauen und jedes abweichenden Lebensstils  angestrebt und etabliert. Diese ist ein massiver De-Zivilisierungsschub.

 

 

 

·         Dabei wird – mit diesem massiven Schub der De-Zivilisierung - nicht nur die physische Gewalt wieder zum Regulationsprinzip gesellschaftlicher Beziehungen. Auch jedes abweichendes Verhalten wird als „Vergehen“ scharf und unbarmherzig verurteilt, weil die Islamisten ihre als Folge der Modernisierung erfahrene Transformationsspannungen und –Konflikte nicht ertragen vermögen.

 

 

 

·         So entstehen massenhaft Menschen, die nicht bereit sind, sich als konflikthafte Wesen zu erleben und zu verstehen; als Menschen, in denen gegensätzliche Tendenzen, Strebungen, Wünsche auf verschiedenen Ranghöhen nebeneinander leben und gegeneinander kämpfen; sie möchten sich vielmehr als konfliktlose Einheit verstehen und fürchten die volle Wahrnehmung des Konfliktes; deren Ich identifiziert sich daher mit der einen Bestrebung, währendem die gegensätzliche überhört, verdrängt, abgespalten wird.[7]

 

 

 

·         Aus diesem Grunde ist der Islamismus keine „Ideologie“ sondern Ausreden von dem eigenen, als Gott erfahrenem, „Gewissen“, eine subjektive Legitimierung einer kompensatorischen Verhaltensweise, welche die Angst begrenzen oder neutralisieren, die Angstquelle umfassen und abblenden sollte.

 

 

 

·         Der Islamismus ist daher eine Art „Lebensstil“, die sich aus einer Grundstellung zum Leben, zu sich selbst und zu anderen Menschen als Einzelne und Gruppen ergibt. Als  eine dem fiktiven Ziel der Überlegenheit dienende charakterliche Verhaltensweise, der gewisse Situationen, die Angst hervorrufen könnten, meidet, entsteht ein soziales Verhalten, das nur zur Abwehr der latenten Gefahr dient.

 

 

 

·         So kann der Islamist sein dauerndes Minderwertigkeitsgefühl, die sich aus seinen Übergansspannungen und –Konflikte ergeben, nur durch seinen religiösen Eifer kompensieren.

 

 

 

·         Mit seinem lieblosen, extrem strengen und erbarmungslosen Gottesbild, kann sich der Islamist daher nur durch eine skrupelöse Pflichterfüllung zu versöhnen versuchen. Eigene Angst vor Pflichtverletzung überwindet er daher durch scharfe und kleinliche Verurteilung der „Vergehen“ anderer Menschen.[8]

 

 

 

·         Die Entstehung der „Islamischen Revolution“ im Iran steht exemplarisch für diese Entwicklungslinie, die zur Entstehung des ersten „Islamischen Staates“ im 20.Jh führte[9]. Der Sieg der Islamisten im Iran und der in Afghanistan gegen die sowjetische Armee beflügelten gleichsam die Phantasien der Islamisten, erfolgreich für die Wieder-Errichtung des Kalifats kämpfen zu können. Dies führte zur Entstehung der Al-Ghada und der Folgeorganisation auch in Afrika.

 

 

 

·         Die amerikanische Intervention in Irak, der Sturz Saddam Husseins, die Auflösung der Baht-Partei, die Säuberung der irakischen Armee und die Etablierung der schiitisch  dominierten Regierung in Bagdad, die zur massiven Diskriminierung der Sunniten führte, schafften u.a. die Voraussetzungen der massenhaften Entstehung des Islamismus im Nahen und Mittleren Osten. Die blutigen Ereignisse in Libyen, Ägypten und Syrien verschärften auch den Zulauf zu den islamistischen Organisationen, die das entstandene Machtvakuum auszufüllen versuchen.

 

 

 

·         Mit deren massiver militärischen Bekämpfung durch die Alliierten unter USA-Führung entstand eine unvorhersehbare Solidaritätswelle der radikalisierten Muslime in USA und Europa, die der Islamophobie einen weiteren Schub verlieh.

 

 

 

4.      Die Islamophobie ist eine Radfahrermentalität, d.h. man beugt sich vor den Mächtigen und zertritt zugleich die Machtschwächeren:

 

„Man unterwirft sich dem Großen, um über Kleine Herr zu sein: diese Lust überredet uns zur Unterwerfung“ (Nietzche)

 

 

 

a.      sie ist eine, durch das selbstwertrelevante fiktive Ziel der Überlegenheit geprägte Grundhaltung, die zur Feindseligkeit von neurotischen Europäern gegenüber den Muslimen drängt, die sie als starken Auftrieb von Unten erfahren. Das neurotische an dieser Grundhaltung ist die Fixierung an der leitenden Fiktion der Überlegenheit[10]. („Psychosklerose“)

 

 

 

b.     Fiktiv[11] ist dieses Ziel, weil es nicht nur der Wirklichkeit  widerspricht, sondern auch als eine Kompensation der eigenen Minderwertigkeitsgefühle in sich widerspruchsvoll ist. (Siehe die Selbstwertlinie)

 

 

 

c.      Als „Arbeiteraristokratie“ identifizieren  sie sich mit den mächtigeren Gruppen in Europa und USA und betrachten ihren, von Muslimen unterscheidenden, Verhaltensstandards als Distinktionsmittel und Hauptinstrument ihres Konkurrenzkampfes um die gesellschaftlichen Chancen und Prestige.

 

 

 

d.     Diese Prestigepolitik ist aber nur durch eine „Pars-pro-toto“-Verzerrung der Realität möglich. Dabei werden die besten Charaktereigenschaften der Minderheit der eigenen Gruppe für die „Wir-Gruppe“ verallgemeinert und der De-Zivilisierungsschub einer muslimischen Minderheit als Zivilisationsstandard „der Muslime“ generalisiert, um die eigene selbstwertrelevante feindliche Haltung ihnen gegenüber subjektiv zu legitimieren.

 

 

 

e.     Deswegen riecht alles, was an ihre Peinlichkeitsschwelle rührt, „islamisch“,  ist gesellschaftlich minderwertig; und umgekehrt rührt alles, was „Islamisch“ ist, an ihrer Peinlichkeitsschwelle – als eine Art von Angst[12].

 

 

 

f.       Schamgefühle sind Gefühle der Unterlegenheit oder Beschämung, dem man sich wehrlos ausgesetzt fühlt, weil man Angst vor Verletzung der verinnerlichten Gebote und Verbote der Gesellschaft als Selbstzwänge hat. Bei der Scham-Erregung ist man selbst der (potentielle) Täter. „Peinlichkeitsgefühle sind Unlustgefühle oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht“.[13]

 

 

 

g.     Hiermit wird der Zusammenhang von Scham- und Peinlichkeitsgefühle als Selbstwertbeziehungen ersichtlich, weil Peinlichkeitsempfindungen ein untrennbares Gegenstück zu den Schamgefühle als Ängste vor sozialer  Degradierung bzw. der Wehrlosigkeit vor der Überlegenheit Anderer sind.

 

 

 

h.     Die empfindliche Abwehr  der Peinlichkeitsgefühle offenbart sie zugleich als Empfindlichkeits- und Toleranzgrenzen der involvierten Menschen. Die Scham- und Peinlichkeitsgefühle manifestieren sich daher auf der Selbstwertlinie als Minderwertigkeitsgefühle und Geltungsansprüche; auf der, diese durchkreuzende horizontale Line als  Rationalitäs- bzw. Affektivitätsgrad sowie als Toleranzgrenze und Reichweite der Identifizierung mit anderen Menschen. (Siehe das Abbild unten). Deswegen ist der Grad der Affektivität des Verhaltens und Erlebens höher, die Toleranzgrenze niedriger und die Reichweite der Identifizierung mit anderen Menschen eingeschränkter, je größer das Minderwertigkeitsgefühl ist, das mit entsprechend höherem Geltungsanspruch kompensiert werden muss.

 

 

 

i.       Aus der niedriger Toleranzgrenze ergibt sich die Notwendigkeit, sich von allem, was „islamisch“ ist, zu unterscheiden, die diese Empfindlichkeit verschärfen; und ihren Wert als Deutscher, Franzose, Schwede, oder als Europäer demonstrativ hervorheben, weil sie sich weder durch berufliche Leistungen noch  Besitztum und Geld  als  Distinktionsmittel hervorheben und sie als Hauptinstrumente der Konkurrenz um die sozialen Chancen, Prestige und der Prestigepolitik bedienen können.

 

 

 

j.       Dabei ist ihr ganzes Wollen, Denken, Fühlen und Handeln durch ihr Minderwertigkeitsgefühl angestachelt, weil sie sich im Vergleich mit den mächtigeren Etablierten unzulänglich empfinden. Ihre fiktive Überlegenheit ist daher eine Art Kompensation ihrer Minderwertigkeitsgefühle.

 

 

 

k.     Da aber das Gefühl der Minderwertigkeit sich immer aus einem Vergleich ergibt, ist es weitgehend unabhängig von dem wirklichen „Wert“ eines Menschen. Deswegen bedeuten starke Minderwertigkeitsgefühle nicht tatsächliche Minderwertigkeiten, so wie tatsächliche Minderwertigkeit nicht zu einem Gefühl der Minderwertigkeit führen muss. Es beruht in jedem Fall auf einer falschen Einstellung zu sich selbst.[14] Deswegen kann die Islamophobie, als Geltungsanspruch und damit zusammenhängende Kompensation der Minderwertigkeitsgefühle, sowohl aus einer Selbstüberschätzung als auch aus einer Selbstunterschätzung der Menschen entstehen, die sich zu einer fiktiven Überlegenheit gedrängt fühlen.

 

 

 

l . Diese fiktive Überlegenheit der neurotischen Europäer ist Funktion ihres tendenziösen Apperzeptionsschemas[15] bzw. ihrer „tendenziösen Brille“, die ihre Aufmerksamkeit und damit die Aufnahme des jeweiligen Inhalts ihrer Erlebnisse, Wahrnehmungen und ihres Denkens  steuert.

 

 

 

m . Diese „tendenziöse Brille“, diese mentale Struktur, die Informationen über Islam und Islamismus in abstrakter und generalisierender Form enthält, ist Funktion einer in Europa tradierten kolonialen Kultur der Machtüberlegenheit.

 

 

 

n.     Denn sie schauen wie jeder Mensch zwar mit ihren eigenen Augen, sie sehen aber mit den Augen des Kollektivs.[16]

 

 

 

o.     Mit dieser tendenziösen Brille wird der „Islam“ gleichgesetzt mit Islamismus, dem gegenüber sie als Nativismus den eigenen Chauvinismus demonstrativ hervorheben und so zur Eskalation der Feindseligkeit in Europa beitragen.

 

 

 

p.     Damit entsteht eine „Beziehungsfalle“ bzw. eine „Schicksalsschleife“ des Islamismus und der Islamophobie, die sich gegenseitig hochschaukeln und zur Erhöhung der Rekrutierungschancen des IS beitragen.

 

 

 

III.                Daher sind die Förderung des Gleichwertigkeitsgefühls und die Ermutigung der Migranten die absolut notwendigen Präventionsmaßnahmen gegen  Islamismus und Islamophobie

 

 

 

a.  Nur durch die Anerkennung der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Migranten als Einzelne und Gruppen fühlt sich der potentielle Islamist dazugehörig und findet produktiv seinen Platz in der Gesellschaft, wo er als Staats- und Wirtschaftsbürger respektvoll behandelt wird.

 

 

 

b. Ohne eine emotionale Entbindung im Sinne der „Ausreifung“ der Migranten aus den früheren Integrationseinheiten, die bisher die überlagerten Schichten ihres sozialen Habitus geprägt haben, wäre keine produktive Integration im Sinne der „Einreifung ihes Charakters“ möglich.

 

 

 

c.  Der „Islamische Staat“ (IS) repräsentiert in diesem Sinne nur eine Art „Scheingemeinschaft“, eine Art „Ur-Wir“, welches auf einer Verschmelzungsphantasie der „Wir-brüchigen“ basiert und auf das frühkindliche Erlebnis der Dyade bzw. „symbiotischen Einheit“ zurückzuführen ist.

 

 

 

d.  Die potentiellen Islamisten, „die Schläfer“, entstehen dadurch, dass die emotionalen Entbindungen der Migranten nicht gefördert und die Chance neuer beruflicher und affektiver Bindungen durch ihre Ermutigung verweigert wird – indem man ihnen das Gefühl der Selbstachtung und Leistungsfähigkeit vorenthält.

 

 

 

e.  Diese Transformation der islamisch geprägten Menschen in gewaltbereite Islamisten ist dann die Folge einer Umfinalisierung der versagenden Menschen, bei denen sich die Balance zwischen ihrer Kooperations- und Konfliktsbereitschaft zugunsten der letzteren verschiebt.

 

 

 

f.     Dies geht aber einher mit der Verschiebung der Balance zwischen ihren überlagerten Schichten des sozialen Habitus zugunsten älterer Schichten. Vor allem zugunsten der vorsprachlichen und unbewussten Ebene, welche dann dominierend handlungssteuernd wirken. 

 

 

 

g.  Wenn sie ihre bisherigen Ziele, dazu zu gehören und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, nicht durch nützliche Mitarbeit erreichen können; wenn sie sich nicht dazugehörig fühlen und sich ihres Wertes nicht sicher sind, finden sie andere Ziele; Ziele, die ihnen größere Möglichkeiten zu bieten scheinen, sich wichtig und bedeutend zu empfinden.

 

 

 

h.  Mit dem Erlebnis des Versagens und dem sich daraus ergebenden Abwehrprozess der Regression, die zu einer mehr oder weniger starken Infantilisierung führt, bemächtigen sie sich vor allem „Ziele des störenden oder versagenden Kindes“.[17]

 

 

 

i.    Jeder dieser Ziele stellt aber ihre Überzeugung dar, unter welchen Umständen sie sich wichtig, bedeutend und dazugehörig fühlen können.

 

 

 

j.    Das erste Ziel ist in der Regel, sich um jeden Preis Beachtung zu verschaffen, weil sie ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit von der Beachtung der anderen abhängig machen. Wenn aber die positiven Methoden versagen, versuchen sie mit störenden Mitteln die ersehnte Beachtung herbeizurufen.

 

 

 

k.  Wenn der dadurch entstandene Machtkampf mit den Etablierten verstärkt wird, dann versuchen sie ihren Platz in der Gesellschaft durch verschiedene zumeist destruktive  Formen der Machtkämpfe zu gewinnen.

 

 

 

l.    Wenn die Machtkämpfe zu brutalen und gewalttätigen Reaktionen der Etablierten zu ihrer Unterdrückung führen, dann können sie versuchen, andere so zu verletzen, wie sie sich von ihnen verletzt fühlen: Rache ist dann das dritte Ziel, das einzige Mittel, bei dem sie sich zur Geltung bringen können. Deswegen kann der blutrünstige Islamist, der vor laufender Kamera unschuldige Menschen enthauptete, in einem Interview behaupten, erst hier habe er den Sinn seines Lebens gefunden.

 

 

 

m.          Der Islamismus ist deswegen der destruktive Ausdruck des Versagens der islamisch geprägten Menschen, ihren Platz produktiv in der Gesellschaft zu finden. Die bisher bekannt gewordenen Informationen über die rekrutierten Islamisten aus Europa demonstrieren exemplarisch, wie die Verweigerung der Produktivität zur Destruktivität führt.

 

 

 

n.  Allerdings bleiben noch mehr entmutigte Muslime, die jeden Versuch der Beitragsleistung und Anteilnahme aufgeben, da sie keine guten Ergebnisse ihres Bemühens erwarten. Ihre  Passivität und Lethargie manifestiert sich deswegen in ihrem „chiliastischen Quietismus“ in Gestalt der lethargischen Muslime, die ihren „paradiesischen Glückszustand“ nicht unbedingt auf der Erde suchen.

 

 

 

o.  Um aber ihre schlummernde „Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung  paradiesischer Zustände“ nicht zu aktivieren, muss eine Deeskalation der gegenseitigen Feindseligkeit und der sie begleitenden Gewaltakte angestrebt werden.

 

 

 

p.  Die Deeskalation hat nur eine Chance, wenn wenigstens die eher distanziertere Seite des Konfliktes in Europa das zunehmende emotionale Engagement bremst. Denn jedes weitere Gefühl der Bedrohung (des Selbstwertes) steigert das emotionale Engagement und führt zu weiterer Eskalation der Gewalt und Gewaltbereitschaft.

 

 

 

 Zur  absolut notwendigen Bedingung der Überwindung der Islamophobie gehören daher:

 

·         die Förderung der Einsicht in den Selbstzwang zu einem fiktiven Ziel der Überlegenheit in entwickelteren Gesellschaften und damit,

 

·         die Überwindung des sonst kultivierten neurotischen Apperzeptionsschemas in einem institutionalisierten Bildungsprozess im Sinne einer humanistischen Umorientierung und

 

·          Förderung des Gleichwertigkeitsgefühls.

 

 

 

Nur so ist eine Verschiebung der Balance zwischen Kooperation, als Maßstab des Zusammengehörigkeitsgefühls, und Konflikt zugunsten der ersteren möglich. 

 

 

 

Denn Menschen sind im Unterschied zu manchen anderen sozialen Lebewesen auf die Mobilisierung ihrer natürlichen Anlage zur Selbstregulierung durch das persönliche Lernen von Trieb- und Affektkontrolle im Sinne gesellschaftlicher Zivilisationsmuster angewiesen, um mit sich selbst und mit anderen Menschen leben zu können. - so Norbert Elias.

 

 

 

Hannover, 31.10.2015

 

 

 

 

 

 

 



[1] Ein überarbeiteter Beitrag für die Öffentliche Vorlesungsrehe zur Erinnerung an Norbert Elias‘ Gastprofessur in Münster vor 50 Jahren am 15.12.15.

[2] Vgl. Norbert Elias, Zivilisation, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1986, S. 382ff.

[3] Auch die Sozialisierung bzw. Zivilisierung der einzelnen Menschen vollzieht sich durch „ Mobilisierung ihrer natürlichen Anlage zur Selbstregulierung durch das persönliche Lernen von Trieb- und Affektkontrollen im Sinne gesellschaftsspezifischer Zivilisationsmuster…, um mit sich und mit anderen Menschen leben zu können. (Norbert Elias, Zivilisation, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1986, S. 382ff. ) Die weiter Quelle aller  zivilisationstheoretischen Ausführungen ist: Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt am Main 1976.

 

[4] Der Mahdi-Aufstand (oder Mahdiya) war eine von 1881 bis 1899 währende Rebellion   gegen die anglo-ägyptische Herrschaft in den Sudan-Provinz am mittleren Nil – angeführt vom islamisch-politischen Führer  Muhammad Ahmad , der sich zum Mahdi (einer Art islamischem Messias) erklärt hatte. Er gilt als der erste erfolgreiche Aufstand einer afrikanischen Bevölkerungsgruppe gegen den Kolonialismus  und führte am Ende des 19. Jahrhunderts zur Bildung des „Kalifats von Omdurman “ (auch Mahdi-Reich oder Reich des Mahdi). Die Mahdisten eroberten bis 1885 weite Teile des Landes und wurden 1898 durch eine anglo-ägyptische Streitmacht besiegt. (Siehe Wikipedia)

[5] Ajatollah Chomeini, Der islamische Staat, Berlin 1983, S. 31ff.

[6] Diese ewige Herrschaft der Theokratie ist in der „Islamischen Republik“ verfassungsmäßig fest geschrieben worden.

[7] Vergl. Gaetano Benedetti, Der psychisch Leidende und seine Welt, Frankfurt am Main 1984, S. 75

[8] Vergl.  Gaetano Benedetti, a.a.O. , S. 76f.

[9] Verl. Dawud Gholamasad, Iran – Die Entstehung der „Islamischen Revolution“, Hamburg 1985. Das Buch kann auf dieser Website kostenlos herunter geladen werden

 

[10] „Das neurotische und psychotische Seelenleben als das Haften an der >>leitenden Fiktion>>…“ (Alfred Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, München 1930/ Köln 2012, S. 117)

[11]„Als eigentliche Fiktionen im strengen Sinne des Wortes stellen sich Vorstellungsgebilden dar, welche nicht nur der Wirklichkeit widersprechen, sondern auch in sich selbst widerspruchsvoll sind.“ (Hans Vaihinger, die Philosophie des Als Ob, Volksausgabe, 1924/2014, S. 15)

[12] Vergl. Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 410f.

[13] Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 404.

[14] Vergl. Dreikurs, Rudolf, a.a.O., S.32

[15] Jedes Schema dient als Orientierungsmittel, um die Informationen, die der Mensch über seine Sinnesorgane aufnimmt eine Bedeutung zuzuordnen und so sein Verhalten entsprechend sinnvoll zu steuern. Als „Inhalte des impliziten Gedächtnisses“ sind sie aber selbstrelevant tendenziös.

[16] „Wir schauen mit den eigenen Augen, wir sehen mit den Augen des Kollektivs. ( Ludwig Fleck, Erfahrung und Tatsache, Frankfurt am Main 1983, S. 154)

[17] Vergl. Rudolf Dreikurs, Grundbegriffe der Individualpsychologie,  Stuttgart, 19906,   S. 73f. & 99f.