Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Der islamistische Terrorismus als eine Kompensation der Minderwertigkeit der sich als marginalisiert gefühlten Außenseiter.

 

Wenn die Menschen die Moral der Religion subordinieren (was   auch nur beym unterdrückten Pöbel möglich und nötig ist) so werden sie dadurch feindselig heuchlerisch afterrednerisch subordinieren sie aber die Religion der Moral so sind sie gütig wohlwollend und gerecht“ (Kant)

 

Die blutige Erfahrung des gewalttätigen Siegeszuges der ISIS-Kämpfer und ihre Attraktion für tausende Sympathisanten in der westlichen Welt stellen erneut dringender denn je die Frage nach der Sozio- und Psychogenese solcher blutrünstigen Aggressivität von Menschen, die einen erbarmungslosen Vernichtungskampf gegen Andersdenkende im Namen des „Islams“ führen und die Errichtung eines grenzenlosen Khalifats anstreben. Diese Diagnose erlaubt eine angemessene Lösung des Problems, wenn man die militärische und die gegenwärtig anvisierten Lösungsoptionen für fragwürdig hält.

 

In diesem Beitrag möchte ich daher thesenartig diese islamistische Bewegung als einen aktivierten chiliastisch[1] geprägten Nativismus[2] der sich marginalisiert und diskriminiert fühlenden Menschen charakterisieren, die mit der Scharia ihre als eigen definierten Werte demonstrativ hervorheben und blutig mit den modernsten Waffen durchzusetzen versuchen.[3]

 

-         Zum selbstwertrelevanten Aspekt der chiliastisch geprägten nativistischen Bewegungen

 

Die ISIS-Kämpfer sind ein exemplarisches Beispiel einer nativistischen Bewegung der islamisch geprägten Außenseiter, die in ihrer kompensatorischen Reaktion auf ihre Diskriminierungserfahrungen die Scharia als Schema ihres Selbstwertes gegenüber den regionalen und globalen Etablierten demonstrativ hervorheben. Diese selbstwertrelevante Reaktion ist  chiliastisch geprägt, weil mit der Durchsetzung der Scharia  die paradiesischen Glückszustände auf Erden herzustellen geglaubt wird.

 

Der Selbstwertist eine affektiv besetzte Bewertung, die man von sich selbst in der sozialen Interdependenz der Menschen als Einzelne und Gruppen hat. Er kann je nach den Machtdifferentialen  genauso affektiv  positiv besetzt sein wie negativ. Negativ sind sie, wenn die Machtunterschiede so groß sind, dass der Außenseiter sich mit den Etablierten als „Angreifer“ identifiziert und die etablierten Wertzuschreibungen verinnerlicht. Verschiebt sich die Machtbalance zugunsten der Außenseiter im Sinne einer funktionalen Demokratisierung[4], entsteht ein heftiger Kampf um die Definitionsmacht zur Bestimmung des Schemas des Selbstwertes. Erinnert sei an den Ausruf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung  in den USA auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung: „black is beautiful“. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung um das Schema des Selbstwertes verweist auf die existentielle Bedeutung des Selbstwertes, weil er als Orientierungsmittel der Menschen unverzichtbar ist. Er ermöglicht den Menschen, sich zeitlich, räumlich und intersubjektiv symbolisch in ihrer fünfdimensionalen Welt zu orientieren. Er ermöglicht die Beantwortung der Fragen, was die „Objekte“ der Wahrnehmung „für mich“ bzw. „für uns“ bedeutet bzw. bedeuten. In diesem Sinne ist Orientierung eine bedeutungs- und handlungsbezogene menschliche Selbst- und Weltsicht. Da aber diese Welt eine symbolisch vermittelte Welt ist, ist sie auch nur eine erfahrene Welt wie es der Bezugsrahmen der jeweiligen Sprachen  erlaubet. Denn die Sprache ist die Welt, wie sie erfahren wird. Daher ermöglicht jede Sprache nur ein gruppenspezifisches Wahrnehmungsmuster der Welt hinsichtlich der Handlungsbedingungen und Handlungsangebote, weil es sich dabei um intersubjektive Wahrnehmungen der bestehenden Verhältnisse als Handlungsangebote für die involvierten Menschen handelt.

 

Das dominierende Schema des Selbstwertes bzw. Muster der Selbstbewertung der Menschen als Einzelne und Gruppenbestimmt, worauf sich der Selbstwert bezieht.  Da die Menschen sich selbst nicht nur als Einzelne sondern auch als Gruppen bewerten, kann sich ihr Selbstwert  je nach der Ich- und Wir-Balance ihrer Identität,  genauso auf die Persönlichkeit und die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Individuen beziehen als auch auf ihre selbstwertrelevanten gruppenspezifischen Merkmale, d.h. auf national-, klassen-, schichten-, Standes-, kasten-,  rassen-,  Geschlechts- und altersspezifische oder ethnische, konfessionelle und moralische Zuschreibungen. Mit diesen Ingredienzen des Selbstwertes entstehen die selbstwertrelevanten nationalistischen, ständischen,  rassistischen, konfessionellen, ethnischen,  paternalistischen Selbstwertbeziehungen, die sich mit entsprechenden moralischen Konnotationen gemäß der gruppenspezifischen Machtbalance ergeben. Je nach  der jeweiligen Definitionsmacht wird also bestimmt, auf welche erstrebenswert oder moralisch gut betrachteten Eigenschaften, Qualitäten, Objekte, Ideen, praktischen bzw. sittlichen Idealen oder Verhaltens- und Erlebensmuster und Charaktereigenschaften sich der Selbstwert bezieht. Daraus ergeben sich die jeweils entsprechend dominanten sozialen Kategorisierungen.

 

 Mit diesen sozialen Kategorisierungen konstituieren sich aber zugleich entsprechende mehr oder weniger stabile selbstwertrelevante Gruppierungen der Menschen mit entsprechender Reichweite ihrer Identifikation,  die je nach der bestehenden Machtbalance bestimmte interdependente Rechte und Pflichten definieren. Dabei kann „mehr Macht“ zu einem gefühlten „mehr Wert“ führen und aus dieser Logik der Emotionen ein Hegemonialrausch entstehen, wie er gegenwärtig bei ISIS zu beobachten ist.

 

In diesem Sinne begründet der Selbstwert, im Sinne einer reflexiven Selbstbewertung interdependenter Menschen als Einzelne und Gruppen, entsprechende Selbstwertbeziehungen im Sinne politisch-moralischer Kategorisierungen der Menschen und die Gewissheit, in bestimmten Situationen „im Recht“ zu sein, bzw. ein zustehendes Recht wahrzunehmen, einzufordern oder zu erstreiten. Diese Gewissheiten konstituierenden Schemata der Selbstwerte werden sozial vererbt und prägen als soziale a priorien das Verhaltens- und Erlebensmuster der nächsten Generationen.

 

Entlang dieses Schemas der Selbstwerte konstituieren sich auch die sozialen Hauptspannungsachsen jeder Gesellschaft mit ihrer jeweils entsprechenden Machtbalance, welche die Richtung und Richtungsbeständigkeit sozialer Auseinandersetzungen interdependenter Menschen als Etablierte und Außenseiter bestimmen. Sie konstituieren jene Zielkonflikte, wie sie sich aus ihren jeweiligen Glaubensaxiomen und Werthaltungen ergeben,  und das Verhalten und Erleben der involvierten Menschen jenseits ihrer materiell begründbaren sozialen Kategorisierungen bzw. Klassifizierungen effektiv steuern.

 

-         Zur selbstwertrelevanten Verzerrung der Selbst- und Fremdwahrnehmung als ein Nachhinkteffekt des sozialen Habitus

 

Was die ISIS besonders charakterisiert ist ihre extrem geringe Reichweite der Identifikation mit Menschen jenseits ihrer Gruppenzugehörigkeit und ihre erbarmungslose Intoleranz gegenüber allen Andersgläubigen, die sie abschlachten und deren Frauen sie in der Tradition der frühislamischen Expansion versklaven.

 

In der Regel ist Toleranz Funktion der zunehmenden Selbstreflexionsfähigkeit der Menschen, welche ihre zunehmende Individualisierung voraussetzt. Mit der letzteren entsteht zugleich  eine zunehmende emotionale Distanzierungsfähigkeit der Menschen nicht nur von sich selbst sondern auch  von „Objekten“ ihrer Wahrnehmung. Mit diesem distanzierten Urteilsvermögen sind sie zunehmend befähigt zu fragen, was die „Dinge an sich“ bedeuten anstatt der Frage nach ihrer Bedeutung „für mich“ bzw. „für uns“ als Wunsch- oder Furchtobjekte. Dazu gehört auch eine zunehmend distanzierte Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung, die eine realitätsnahe Selbsteinschätzungsfähigkeit als einen Aspekt des sozialen Habitus der Menschen ermöglicht. Eine selbstwertdienliche Verzerrung der Realität als Funktion des Engagements wäre damit ein Nachhinkteffekt des sozialen Habitus der  Massenindividuen, die zunehmend durch die Desintegration ihrer tradierten Wir-Einheiten wie ethnischer und konfessioneller Gruppierungen entstehen ohne in moderne Überlebenseinheiten der Staatsgesellschaften integriert werden zu können. Als Außenseiter marginalisierte und diskriminierte Massenindividuen mit einer Ich-Wir-Balance ihrer Identität zugunsten ihrer tradierten Wir-Identität, sind sie Opfer zweier Arten der selbstwertdienlichen Verzerrung ihrer Selbstwertschemata. Eine Verzerrung, die durch die unmittelbare Involvierung in einer existentiell relevanten sozialen Auseinandersetzung noch verstärkt wird und eine distanziertere Selbstbewertung zusätzlich erschwert. Sie verstärkt die „Pars-pro-toto Verzerrung der Realität“, indem die Ingredienzen des Selbstwertschemas der wertvollsten Minderheit der eigenen Gruppe auf die gesamten eigene Gruppenmitglieder verallgemeinert werden; zugleich werden die als minderwertig betrachteten Ingredienzen der Selbstwertschema einer Minderheit der Fremdgruppen auf ihre gesamten Gruppenmitglieder verallgemeinert, die zur Verstärkung des eigenen Überlegenheitsgefühls beiträgt. Zugleich intensiviert sich  die Tendenz, eigene Erfolge im Zweifelsfall eher inneren „Ursachen“ wie etwa eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten und eigene Misserfolge eher äußeren „Ursachen“ wie ungünstige  Situationen, den Zufall etc. vor allem aber den boshaften Intrigen der zu bekämpfenden feindlichen Gruppen zuzuschreiben. Mit der Verabsolutierung der letzteren selbstwertdienlichen Verzerrung der Realität wird zugleich die eigene Entschlossenheit zur endgültigen Eliminierung dieser fremden Verursacher mit allen Mitteln legitimiert.[5]

 

Wird die Hauptspannungsachse wie im Falle der ISIS konfessionalisiert, so wird die Moral der Religion subordiniert. Damit werden die involvierten Menschen feindseliger, heuchlerischer und selbstwertdienlich verleumderischer. Dabei wird „der Islam“ auf die Scharia reduziert und als göttlich ewig gültige Gebote und Verbote zum moralischen Bewertungsmaßstab der Menschen als Einzelne und Gruppen erhoben und zugleich jede soziale Abweichung davon als Frevel mit der Todesstrafe bestraft. Mit dieser Eliminierung jedes moralischen Gehalts der Religion verwandelt sich der Islam zum Islamismus als einer säkularisierten totalitären Ideologie und zum Orientierungsmittel einer totalitären sozialen Bewegung, die sich durch eine ausgeprägte Nekrophilie auszeichnet[6]. Ihre Liebe zum Toten[7] ist die Hauptantriebskraft einer chiliastisch geprägten, nativistischen Bewegung blutrünstiger Menschen, die ihre Minderwertigkeitskomplexe barbarisch zu kompensieren versuchen. Im Gegensatz zur reaktiven Aggression im Dienste des Lebens ist die nekrophil-destruktive Aggression zutiefst irrational. Die nekrophil-destruktive Orientierung entspringt einer Leidenschaft, die permanent auf Zerstörung der Objekte der Aggression ausgerichtet ist, weil der nekrophil Handelnde durch alles, was tot, Nicht-Leben, Nicht-Wachstum ist, angezogen wird. Fehlen Aggressionsobjekte, so macht sich die nekrophile Persönlichkeit selbst zum Objekt mit dem Ergebnis des Selbstmordes.[8] Der Selbstmordattentäter kombiniert beides.[9] 

 

-         Zur Unangemessenheit der vorgenommenen Lösungsstrategie der Allianz unter USA-Führung

 

Ist also der massenhafte regionale und internationale Zulauf zur ISIS  als eine selbstwertrelevante kompensierende Reaktion auf massive Erfahrungen der Marginalisierung und Diskriminierung zurückzuführen, muss jede effektive Lösungsstrategie auf ihre institutionelle Aufhebung gerichtet sein. Ist die gegenwärtige Allianz faktisch darauf aus?

 

Es ist tatsächlich tragisch-komisch, dass die Schöpfer der ISIS als potentielle Opfer seiner Aggressionen nun die Hauptträger der internationalen Allianz zur Gefahrenabwehr  geworden sind. Dieser Bumerangeffekt zeigt aber zugleich die langfristige Unangemessenheit der Förderung der Gewalttätigkeit in der Lösung der inner- und zwischenstaatlichen Konflikte. Er zeigt aber auch die Interdependenz inner- und zwischenstaatlicher Formen der Konfliktaustragung. Erst die Suspendierung der Gewalt als Regulationsprinzip inner- und zwischenstaatlicher Beziehungen schafft die Voraussetzung der zivilisierten Formen der Konfliktaustragung. Da dies bist jetzt versäumt wurde, kommt die Allianz ohne militärischen Einsätze nicht aus, weil ihr eigenes Geschöpf sich verselbständigt hat.

 

Aber selbst wenn die Allianz inzwischen begriffen hätte, dass das Problem militärisch unlösbar bleibt, wenn die entsprechenden politischen Lösungsmaßnahmen ausbleiben, ist die Effektivität der eingeleiteten inklusiven politischen Maßnahmen zur politischen Integration der marginalisierten und diskriminierten Sunniten fraglich. Sogar die vorschwebende regionale Teilung des Landes entlang der ethnischen und konfessionellen Zugehörigkeit scheint keine demokratische Lösungsstrategie zu sein. Denn sie reproduziert die rudimentär bestehenden tribalen Seilschaften und verstärkt die Position der Stammesführer ohne Stämme und leistet der Reproduktion der autoritäreren Orientierung der inzwischen funktional von der Nabelschnur der Stämme entbundenen Massenindividuen Vorschub, anstatt sie demokratisch institutionell zu integrieren.

 

Deswegen scheint die gegenwärtig effektive Form der Überwindung der ethnischen und konfessionellen Diskriminierung durch eine Institutionalisierung der politischen Gerechtigkeit in einer föderativ organisierten demokratischen Staatsform zu bestehen. Eine föderative Staatsverfassung, deren Gebietsteilung nicht nach ethnisch-konfessionellen Grenzziehungen als vielmehr nach dem Subsidiaritätsprinzip[10] vorgenommen wird, wird längerfristig die effektive Lösungsform bieten, wenn man dem zunehmenden tribalen Desintegrationsprozess angemessen Rechnung  trägt. Damit wird die nationalstaatliche Integration demokratisch und gerecht gefördert und durch entsprechende  Förder- und Ausgleichsmaßnahmen der Entwicklung regionaler Disparität entgegengewirkt. Denn Subsidiarität als eine politische, ökonomische und gesellschaftliche Maxime strebt die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung an. Demnach werden Aufgaben, Handlungen und Problemlösungen so weit wie möglich selbstbestimmt und eigenverantwortlich unternommen, also vom Einzelnen, vom privaten, von der kleinsten Gruppe oder der untersten Ebene einer Organisationsform, als auch in der  Organisationsform eines Staates. Nur die Herstellung und der Betrieb allgemeiner Reproduktionsbedingungen der Staatsgesellschaft als einer Angriffs- und Verteidigungseinheit werden zentralstaatlich unternommen. Die föderative Organisationsform der Bundesrepublik Deutschland könnte u.a. als ein Modell dafür dienen.

 

Hannover 24.09.2014

 

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[1]              Chiliasmus bezieht sich auf kollektive Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung paradiesischer  Glücksumstände auf Erden.

[2]              Nativismus bezieht sich auf demonstrative Hervorhebung der als Eigen definierten Werte.

[3]              Vergl. Dawud Gholamasad, Iran: Die Entstehung der „Islamischen Revolution“, Hamburg, 1985

[4] Die hier verwendeten Macht- und Funktionsbergriffe sind Beziehungsbegriffe. Von gesellschaftlichen Funktionen kann man nur reden, wenn man es mit mehr oder weniger zwingenden Interdependenzen zu tun hat. Sie sind Verhalten und Erleben steuernd. Dies Reziprozität der Funktionen können genauso berufliche Natur sein wie emotional. Als Feinde haben die Menschen für einander auch Funktionen, die man kennen muss, wenn man die Handlungen und Plänen  der einzelnen feindselig verwickelten Parteien verstehen will. ( Ver. Norbert Elias, Was ist Soziologie, München 1986, S. 80ff.). Die funktionale Demokratisierung bezieht sich auch die Verschiebung der Balance dieser funktionalen Interdependenzen zugunsten der mehr Abhängige, ohne dass diese sich nationalisiert hat oder emotional verankert haben muss.

[5]              Vergl.  Dawud Gholamasad, Die Selbstmordattentate der Islamisten als Funktion der Destruktivität ihres Wir-Ideals, in STUDIA NIEMCOZNAWCZE, Warszawa 2004, tom XXVII, 91-106

[6]              Dawud Gholamasad, Irans neuer Umbruch, von der Liebe zum Toten zur Liebe zum Leben, Hannover, 2010

[7] Auch die Fixierung auf die ewig gestrige Scharia als eine Fixierung an ewig gültige Gebote und Verbote Gottes, die keine Änderung zulässt, ist ebenso eine Manifestation der Nekrophilie, im Sinne der Liebe zum Toten.

[8]              Vergl. Reiner Funk, Mut zum Leben, Stuttgart, 1978, S.69

[9]              Vergl. Dawud Gholamasad, Einige Thesen zum Islamismus als globaler Herausforderung, in Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 18. Jan. 2002, S. 16- 23 & ders. Selbstbild und Weltsicht islamistischer Selbstmord-Attentäter, Berlin 2006

[10]             Vergl. Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 199, S. 126ff.