Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Emotionale Intelligenz, das Regime in Iran und die zerstrittene Opposition

 

mehriran.de - In diesem Beitrag stellt Prof Gholamasad den Wert Emotionaler Intelligenz für eine geschlossene Opposition im Zuge einer möglichen zukünftigen Demokratisierung Irans heraus. Zugleich ist der Beitrag eine Replik auf Anfeindungen und Abwertungen, die er jüngst im Zusammenhang mit einem kritischen Artikel erfahren hat.


mehriran.de - Demokratisierungsprobleme Irans als Nachhinkeffekt der Emotionalen Intelligenz der Iraner als eines Aspekts ihres sozialen Habitus

 

In diesem Beitrag möchte ich auf die Demokratisierungsprobleme Irans eingehen, wie sie sich als Organisationsprobleme der demokratischen Opposition manifestieren. Anlass der hier vorgetragenen Gedanken sind die heftigen Reaktionen der „Royalisten“ gegen meine kritische Hinterfragung ihres Demokratieanspruchs. 

 

Der geringe Organisationsgrad der demokratischen Opposition ist eine der nicht zu unterschätzenden Gefahrenquellen für den möglichen staatlichen Zerrfalls Irans geworden; dies vor allem angesichts des Versagens der „Islamischen Republik“ in der Herstellung und dem Betrieb der allgemeinen Reproduktionsbedigungen der Staatsgesellschaft. Damit geht nicht nur eine konjunkturelle ökonomische Krise einher, die mit den US-Sanktionen rechtfertigt wird; sondern auch eine strukturelle und zunehmende Legitimationskrise, die mit dem staatlichen Zerfall zu größeren Katastrophen führen kann. Doch die Gewöhnung an tradierte vormoderne „soziale Einheiten“, wie Stammes- und dörflichen Einheiten, die mit der „orientalischen Despotie“ einherging, erschwert die Fähigkeit zu „Vereinigung“ der aus dieser Einheiten entbundenen und entwurzelten Menschen in urbanen Zentren. Zu mehr oder weniger freiwilligen Vereinigungen bedürfen die funktional und zuweilen emotional von den traditionellen Einheiten entbundenen Menschen gewisse Fähigkeiten und Fertigkeiten, deren Aneignung in dem vorrevolutionären Iran unterdrückt wurde.  Mit der Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Organisationen, sowie autonomer gewerkschaftlicher und politischer Vereinigungen wurde zugleich die Entwicklung der „emotionalen Intelligenz“ (EQ) als unabdingbare Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit unterdrückt. 

 

Diese unterentwickelten Kompetenzen erschweren den Zusammenschluss der demokratischen Opposition zur „Islamischen Republik“. Dies manifestiert sich u.a. in den heftigen Reaktionen gegen meinen Beitrag, u.a. weil ich selbstkritisch von meinen eigenen Fehlern ausgehend, andere zur Selbstreflektion aufgefordert habe. „Wer bist du eigentlich“? fragt man, wenn ich mir als parteiloser Staatsbürger selbstkritisch das Recht nehme, Selbstverantwortung für meinen eigenen Fehler zur Entstehung der institutionellen Ent-Demokratisierung und De-Zivilisierung zu übernehmen. Die Verschiebung der Balance zwischen Ich- und Wir-Identität hat sich bei den Kritikern immer noch nicht zugunsten ihrer Ich-Identität als autonome Persönlichkeiten verschoben. Dies ruft bei ihnen Ängste hervor, die sie in Gestalt von Schamempfindung und Peinlichkeit aggressiv abwehren müssen, wenn jemand individuell Verantwortung übernimmt. Ihre blinden Wutausbrüche, wie sie sich in wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen manifestieren, zeugen exemplarisch von ihrer unterentwickelten „emotionalen Intelligenz“, die ich hier als einen Aspekt des Nachhinkeffekts des sozialen Habitus diskutieren möchte.

 

Zur Notwendigkeit vertrauensbildender Maßnahmen als unverzichtbarer Aspekt des Vereinigungsprozesses der demokratischen Opposition gegen die Theokratie im Iran.

 

„The purpose of life is to be Nobody“

 

Ein zentrales Problem der gegenwärtigen demokratischen Opposition gegen die „Islamische Republik“ besteht in ihrer Zersplitterung. Diese mangelnde Gleichgerichtetheit der sich demokratisch begreifenden Opposition ist keineswegs zurückzuführen auf die herrschaftsstabilisierenden Maßnahmen des Regimes im Sinne von „Teile und herrsche“, wie dies gern betont wird. Selbst diese gezielten Maßnahmen zur Zersplitterung der Opposition wären unmöglich, wenn die Manipulationsbereitschaft der Opposition nicht so stark wäre. Letztere liegt u.a. in ihrem historisch gewachsenen gegenseitigen Misstrauen, das leicht geschürt werden kann. Zur Überwindung dieses tief verwurzelten gegenseitigen Misstrauens, bedürfen sie „vertrauensbildender Maßnahmen“. Der erste Schritt dazu wäre aber eine selbstkritische Diskursbereitschaft, d.h. eine Bereitschaft zur Herstellung eines „Schauplatzes kommunikativer Rationalität“

 

Dabei wäre der Diskurs keine gegenseitige verbale Attacke, Beleidigung und Verunglimpfung und die Betonung der Einzigartigkeit der Wahrheit der eigenen Positionen. Sondern die Abwesenheit einer gegenseitigen verbalen Vergewaltigung und Kultivierung eines betont argumentativen Dialogs, in dem über die Wahrheit von Behauptungen und die Legitimität von normativen Vorstellungen debattiert werden kann. Was aber dabei jeweils als „vernünftig“ gilt, wäre die intersubjektive, von allen Teilnehmern einer diskursiven Gemeinschaft anerkannte „Wahrheit“. 

 

Eine Diskursbereitschaft setzt nicht nur voraus, dass die politischen Gegner aufhören, sich als unerbittliche Feinde zu empfinden und zu behandeln. Denn selbst die einst verfeindeten Staaten versuchen in der Regel nach einem Waffenstillstand und in einer Friedensverhandlung gemeinsam zu einer friedlichen Koexistenz und möglichen Kooperationsbereitschaft zu finden. Dabei müssen sie keineswegs ihre Integrität und Souveränität aufgeben. Nur totalitäre Staaten denken an eine bedingungslose Expansion und gewaltsame Unterwerfung ihrer Konkurrenten.

 

Allerdings müssen die oppositionellen Gruppen begreifen, dass mit der zunehmenden funktionalen Demokratisierung im Zuge der zunehmenden Arbeitsteilung und sozialer Differenzierung der Staatsgesellschaften keine autoritäreren Kommunikations-Stile mehr möglich sind. Mit der funktionalen Demokratisierung und der damit einhergehenden Verlängerung der Interdependenzketten, von denen die Befriedigung der Bedürfnisse der Einzelnen abhängt, verschiebt sich die Machtbalance zugunsten der Machtschwächeren. Damit verändern sich in der Regel das Selbstbild der Menschen und ihre Selbstwertbeziehungen. Die Geburtsstunde der rechts- und pflichtbewussten Staatsbürger wird damit eingeläutet, die verantwortungsbewusst auch von sich als Einzelperson ausgehend ihre eigenen Meinungen äußeren. In dem Moment, in dem sie sich trauen “Ich denke“ zu sagen, kündigen sie die Autonomie ihrer Persönlichkeit an. Diese Ich-Betonung der selbstbewussten Staatsbürger, die ihre freie Meinungsäußerung von niemandem verbieten lassen, erwarten einen respektvollen Umgang, vor allem von all denjenigen, die behaupten  Demokraten zu sein. Diese respektvolle Umgangsform setzt aber eine Zivilisierung der Kommunikationspartner im Sinne der Entwicklung ihrer „emotionalen Intelligenz“ voraus.

 

Vor allem reicht für die Führung dieser selbstbewussten Staatsbürger, die ihre Freiheit weder vom Schah-Regime noch von den Theokraten nehmen lassen, nicht mehr nur eine „kognitive Intelligenz“ (IQ). Die sie führenden Personen müssen ihn überzeugen. Dazu brauchen die führenden Persönlichkeiten nicht nur kognitive Intelligenz (IQ) sondern und vor allem auch „Emotionale Intelligenz“(EQ). Dieser Aspekt wird heute sogar in der Auswahl eines erfolgsversprechenden Führungspersonals in Unternehmen besonders berücksichtig. Denn der IQ gibt nur an, welches Niveau der kognitiven Komplexität eine Person in ihrem Tätigkeitsbereich bewältigen kann: man benötigt ein hohes IQ Niveau für das Top-Management, als Fachleute und im Wissenschaftsbetrieb, während niedrigere Niveaus der IQ für niedrigere Stufen der Tätigkeiten ausreichen.

 

Emotionale Intelligenz (EI) entscheidet aber darüber, welche Führungskräfte, Fachleute oder Wissenschaftler die besten Führungskräfte sind. Die EI wird deswegen zunehmend entscheidender als IQ sogar für die Auswahl der Führungskräfte in Betrieben, weil eine Führungskraft immer in der Lage sein muss, die Balance zwischen Konflikt und Kooperation zugunsten der Kooperation zu verschieben, wenn er in einem zunehmend arbeitsteiligen und komplexer gewordenen Getriebe eines Betriebes erfolgreich sein will. Diese Kompetenzen der emotionalen Intelligenz werden desto notwendiger in einer zunehmend komplex werdenden Gesellschaft, für deren Integration eher Kooperationsbereitschaft gefördert werden muss als Konfliktbereitschaft. Dazu muss Gewalt als Regulationsprinzip zwischenmenschlicher Beziehungen suspendiert werden. Damit meine ich nicht nur physische Gewalt sonder auch verbale und nonverbale Gewalt, wie ich sie in den feindseligen Reaktionen (https://www.mashrooteh.com/) auf meinem Betrag „zum 1oo. Geburtstag von Mohammad Reza Schah“ (https://www.balatarin.com/permlink/2019/11/6/5198578) erfahren habe. (https://mehriran.de/artikel/zum-100-geburtstag-von-mohammad-reza-schah.html).

 

Warum ist die Entwicklung der Emotionalen Intelligenz als Zivilisierung des sozialen Habitus der Menschen im Demokratisierungsprozess unverzichtbar.

 

Hier möchte ich mich keineswegs auf das Niveau dieses unbelehrbaren intellektuellen Lumpenproletariats herablassen, das sich in keiner Weise von seiner islamistischen Auflage in der „Islamischen Republik“ unterscheidet. Doch möchte ich mit dem Hinweis auf ihre Strukturellen Ähnlichkeiten den sozialen Habitus hervorheben, der sich in unterschiedlichen ideologischen Formen manifestieren kann. Denn beide unterentwickelte Formen der Diskursfähigkeit sind Nachhinkeffekte des sozialen Habitus der sich im Modernisierungsprozess befindlichen Menschen, deren Emotionale Intelligenz weit hinter funktionaler Demokratisierung im Zuge der funktionalen Modernisierung Irans hinterherhinkt.

 

Denn die Diskursbereitschaft der sich in Demokratisierungsprozess befindlichen Menschen setzt eine gewisse Entwicklung ihrer „Emotionalen Intelligenz“ voraus, die als zentraler Aspekt des sozialen Habitus gepflegt werden muss. Dies vor allem, weil jede Kommunikation nicht nur einen inhaltlichen sondern auch einen zumeist unbewussten Beziehungsaspekt im Sinne der Selbstwertbeziehungen der verwickelten Menschen besitzt. Dabei geht es weniger um die kommunizierten Inhalte, als vielmehr um die betonte Hervorhebung des eigenen Selbstwertes der Kommunikationspartner. Dabei deuteten sie an, was sie jeweils von sich und voneinander halten. In feindseligen Kommunikationszusammenhängen manifestieren sich ihre Selbstwertbeziehungen, zumeist durch ihre nicht minder gewaltsamen verbalen oder nonverbalen Herabsetzungen und Verunglimpfungen. Um die Eskalation eines Teufelskreises der gegenseitigen Beleidigungen und Entwertungen zu vermeiden, bedarf es einer angemessenen Affektkontrolle. Diese affektkontrollierte Handhabung der Beziehungsaspekte jeder Kommunikation charakterisiertEmotionalen Intelligenz am treffendsten. Diese Fähigkeit zu einer mehr oder weniger realitätsangemessenen Wahrnehmung, dem Verstehen und der Beeinflussung eigener und fremder Gefühle, ist unabdingbar für eine gelungene „kommunikative Rationalität“. Diese Fähigkeit entsteht allmählich mit der Entwicklung einer zunehmend gleichmäßigen Affektkontrolle als zivilisatorischen Aspekt der (funktionalen und institutionellen) Demokratisierung im Sinne der Transformation des sozialen Habitus der im Demokratisierungsprozess involvierten Menschen als Einzelne und Gruppen. Die Entwicklung der Emotionalen Intelligenz (EQ) wird daher mit der voranschreitenden sozialen Differenzierung der Gesellschaft zunehmend wichtiger als der „Intelligenz Quotienten“ (IQ), nicht nur im Geschäftsleben und in der „Politik“ sondern auch im Alltagsleben der Menschen.

 

Was ist Emotionale Intelligenz?

 

Die „Emotionale Intelligenz“ besteht aus „Personalen Kompetenzen“ und „Sozialen Kompetenzen“ der Menschen, die - nicht wie der IQ - mehr oder weniger genetisch vorgegeben sind. Sie besteht aus individuell erlernbaren Fähigkeiten, die gesellschaftlich bewusst kultiviert werden müssen. In deren relativen Unterentwicklung kann man gewisse psychogenetische Aspekte der gewaltsamen Konflikte erblicken. Der Grad ihrer Brutalität ist funktional abhängig von dem Entwicklungsgrad der Emotionalen Intelligenz der involvierten Menschen und der Reichweite ihres Mitgefühls mit anderen Menschen.

 

Zu personalen Kompetenzen gehören emotionale Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung: Emotionale Selbstwahrnehmung ist eine fundamentale Voraussetzung der emotionalen Selbstregulation und der Impulskontrolle.Denn Menschen unterliegen persönlichen Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten und nehmen Gefühle mit unterschiedlich großer Aufmerksamkeit wahr. In seltenen Fällen fehlt ihnen das Vermögen vollständig, Gefühle bewusst wahrzunehmen und zu bezeichnen. Von daher umfasst emotionale Selbstwahrnehmung nicht nur die Wahrnehmung eines Gefühls, sondern auch die bewusste Wahrnehmung eventueller Gedanken und Urteile über das Gefühl.

 

Deshalb besteht emotionale Selbstwahrnehmung in der Fähigkeit, eigene Gefühle zu kenzeichnen, sie zu erkennen und zu verstehen. Das Erkennen der eigenen emotionalen Zustände und Bewusstsein dessen, wie sie sich auf unsere Gedanken, Verhaltensweisen und Entscheidungen auswirken, ist daher der Schlüssel zu realitätsangemessener Selbststeuerung. Mit dieser selbstdistanzierten Fähigkeit weiß man auch, dass man selbst allein für eigene Gefühle verantwortlich ist, ohne andere für eine eigene Gefühlslage verantwortlich zu machen. 

 

Diese Selbstreflektionsfähigkeit macht Selbstmanagement im Sinne der Affektkontrolle möglich; eine Fähigkeit, eigene starke Emotionen zu kontrollieren, damit man nicht impulsiv oder destruktiv reagiert. Wenn man die emotionale Selbstdistanzierungsfähigkeit entwickelt, ist man in der Lage Situations angemessener zu handeln.  Man entwickelt damit die Fähigkeit, angemessenere Lösungen für eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Problem in Betracht zu ziehen. Denn nur eine emotionale Selbstdistanzierung führt zu angemesseneren Ergebnissen bei vorliegender Entscheidungsfindung. Denn die Fähigkeit, sich bei unlustvollen Gefühlen Linderung zu verschaffen, ist eine der grundlegendsten Lebensfähigkeiten der Menschen überhaupt. 

 

Zwar kann der Mensch nicht steuern, welche Gefühle ihn ereilen, er kann aber beeinflussen, wie lange sie anhalten und ob sie eskalieren. Dies zu lernen, ist ein unabdingbarer komplementärer Aspekt der funktionalen und institutionellen Demokratisierung als Folge funktionaler Differenzierung sozialer Beziehungen und der damit einhergehenden Verlängerung der Ketten der gegenseitigen Abhängigkeiten der Menschen in ihrem Alltagsleben. Menschen in dieser Lage müssen lernen, sich differenzierter als zuvor mit einander auseinander zu setzen, wenn sie die vorliegende Balance zwischen Konflikt und Kooperation zugunsten der letzteren zu verschieben beabsichtigen. Denn Macht als die Chance, das Verhalten anderer Menschen gegen ihren eigenen Willen zu beeinflussen, ist eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen, die sich aus ihrer unausweichlichen gegenseitigen Angewiesenheiten und Abhängigkeitenergeben. Von daher besteht jede menschliche Beziehung aus einer mehr oder weniger stabilen Spannungsbalance, die in offene Konflikte ausbrechen und in verschiedenen Formen ausgetragen werden kann. 

 

Die Diskursbereitschaft setzt daher die Suspendierung der Gewalt als Regulationsprinzip voraus, die nur durch die Entwicklung der Emotionalen Intelligenz der Menschen möglich ist. Die vorrevolutionäre Intoleranz der Regierenden gegenüber jeglicher regimekritischen Äußerung, wie sie sich in allgegenwärtiger Zensur und Selbstzensur manifestierte, offenbart die Unterentwicklung der Diskursbereitschaft, die mit zunehmend gewalttätiger Intoleranz des Regimes die Gewaltbereitschaft der oppositionellen Kräfte förderte.

 

Die „Islamische Revolution“ und die nachrevolutionäre gnadenlose, hasserfüllte Verfolgung und Vernichtung aller Andersdenkender ist daher ein Nachhinkeffekt der Transformation dieses zentralen Aspekts des sozialen Habitus der Mehrheit der sich in Modernisierungsprozessen befindlichen Iraner. Hinzu kommt die relativ geringe Entwicklung ihrer „sozialen Kompetenzen“. Die „Soziale Intelligenz“ besteht in der Fähigkeit zu verstehen, was andere Menschen motiviert und wie man kooperativ mit ihnen arbeiten kann.

 

Zu „Sozialen Kompetenzen“ gehören: „soziale Wahrnehmung“ und „Beziehungsmanagement“

 

Die Fähigkeit das Verhalten und Motive andrer Menschen zu verstehen und kooperative Beziehungen zu ihnen zu gestalten sind soziale Kompetenzen, die als zentrale Komponente der Demokratisierung des sozialen Habitus der Menschen entwickelt und kultiviert werden müssen. Das Fundament der sozialen Kompetenzen ist aber die Fähigkeit, mit Gefühlen anderer Menschen umgehen zu können. Voraussetzungen dieser Fähigkeit sind allerdings nicht nur Selbstkontrolle, sondern auch Empathie und die Fähigkeit zu angemessener Verhaltenssteuerung, die Befähigung also, in der „richtigen“ Situation die „richtigen“ Gefühle auf „kulturell“ angemessenere Art und Weise auszudrücken.

 

Ein entscheidender Aspekt der Sozialen Kompetenzen ist Empathie, weil ohne die Fähigkeit sich in andere einzufühlen keine mehr oder weniger kooperative soziale Beziehungsgestaltung möglich wäre. Empathie ist die Fähigkeit zu erkennen, wie und warum Menschen sich so fühlen, wie sie es tun. Einfühlungsvermögen ermöglicht es uns auch, vorauszusehen, wie unsere Handlungen und Verhaltensweisen andere Menschen und auch unsere eigenen beeinflussen. Die Entwicklung von Einfühlungsvermögen verbessert daher unsere Erfahrungen, Beziehungen und unser allgemeines Verständnis für uns selbst, andere Menschen und die Welt, wie wir sie erfahren. 

 

Totalitarismus ist ein Nachhinkeffekt der Emotionalen Intelligenz als Zentralaspekt des sozialen Habitus der Menschen.

 

Demnach ist Totalitarismus weniger eine „Ideologie“ als vielmehr ein sozialer Habitus als Nachhinkeffekt Emotionaler Intelligenz der in Demokratisierungsprozessen involvierten Menschen. Eine ihrer grundlegendsten Lebensfähigkeiten, sich bei unangenehmen Gefühlen Linderung zu verschaffen, bleibt - angesichts der relativ rapiden sozialen Transformationsprozesse -  relativ unterentwickelt. Leiden ist die Folge der Unfähigkeit der Linderung der unerträglichen Gefühle. Wo Leiden besteht, entsteht auch eine Leidenschaft. Die leidenschaftliche Aufbruchsbereitschaft der Menschen zur Herstellung paradiesischer Glückzustände auf Erden (Chiliasmus) und die demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werte (Nativismus) sind die Manifestationen dieses Versagens der eigenen sozialen Intelligenz. Angesichts dieser geringen emotionalen Distanzierungsfähigkeit von sich selbst und von den für sie schwer regulierbaren Situationen, in denen sie in ihrem Alltagsleben geraten, sind sie emotional überwältigt. Ihr gelerntes Selbstregulationsmuster muss deswegen versagen, weil Menschen zwar nicht steuern können, welche Gefühle sie ereilen; sie sind aber auch nicht mehr in der Lage wie zuvor, sie zu beeinflussen. 

 

Mit der fehlenden Fähigkeit zu frühzeitigen „Umdeutung“ der auslösenden Reize der ungewohnten Situationen, fehlt ihnen ein effizientes Präventivmittel gegen die Eskalation der sich daraus ergebenden Gefühle. Ein „Doppelbilderprozess“, ein „Teufelskreis“ der Eskalation der Gefühlslage ist die unkontrollierbare Folge, weil tobende Menschen in bedrohlichen Situationen einen bereits begonnenen Wutanfall nicht abkürzen und beenden können, indem sie sich von weiteren potenziellen Wutreizen abschotten. Deren geringe Toleranz für abweichendes Verhalten und Empfinden ergibt sich aus dieser unterentwickelten Emotionalen Intelligenz. Sie fühlen sich so in ihrem Selbstwert bedroht, da sie angesichts der abweichenden Verhaltens- und Erlebensmuster anderer zumeist mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen überflutet werden. Ihre Angstabwehr kann zwar unterschiedliche „ideologische“ Ausdrucksformen finden. Sie begreifen aber ihre eigenen Weltanschauungen weniger als „Ideologien“, die sie mit dem Einsatz ihres Lebens zu verteidigen suchen, als viel mehr als einen „Lebensstill“, der keine Abweichung duldet. 

 

Was diese unterschiedlichen Formen des Totalitarismus gemeinsam teilen, ist daher ihre gesinnungsethische Orientierung. Sie unterscheiden sich so von den verantwortungsethisch orientierten Menschen, durch ihre unterschiedlich entwickelte Stufe der emotionalen Intelligenz. Deren Entwicklung bewusst zu fördern, ist die Hauptaufgabe aller Demokraten. 

 

Hannover, 12.11.2019