Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Iran: Die Schimären-Republik überwinden

mehriran.de - Der Staat Iran nennt sich offiziell "Islamische Republik Iran". Wie es dazu kam, warum der Begriff Republik eine Schimäre, ein Trugbild, ist und welche Aspekte der Demokratisierungsbestrebungen einer Opposition wichtig sein könnten, beschreibt Prof. Gholamasad in diesem Beitrag: warum eine Überwindung der „Islamischen Republik“ auf demokratischem Wege möglich ist und es darum geht, Volkssouveränität und individuelle Freiheit der Staatsbürger zu institutionalisieren.

 

 

 

"Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren." Benjamin Franklin

 

In diesem Beitrag möchte ich darstellen, wie und warum man in den revolutionären Prozessen, die zur „islamischen Republik“ führten, die Freiheit zugunsten einer sicher scheinenden Unabhängigkeit aufgegeben und damit beides verloren hat. Daraus ergibt sich die Hauptaufgabe für die demokratische Opposition: in gemeinschaftlicher Aktion Volkssouveränität und Freiheit herstellen und sichern. Dazu bedarf die Opposition eines „Aktionsprogramms“ oder eines „Organisationsplanes“, wenn die Grundwerte nicht bloß leblose Prinzipien bleiben sollen. Es geht dabei um die Umwandlung des bestehenden Staates aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ. Mit der so hergestellten Volkssouveränität, wird das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt und dessen Wohl als Staatsbürger zum Sinn und Zweck der staatlichen Organe. Mit der Etablierung der Volkssouveränität wird nicht nur das Volk die verfassungsgebende Gewalt, auch die Staatsorgane verlieren ihre Herrschaftsfunktionen. Sie repräsentieren nur die Herstellung und den Betrieb allgemeiner Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft der Menschen, denen sie dienen. 

 

Dies setzt die Unterscheidung zwischen dem politischen Staat und der Staatsgesellschaft voraus. Letztere ist die Organisationsform der Gesellschaft, die sich im Nationsbildungsprozess ergibt. Dagegen repräsentiert der „politische Staat“ die Herrschaftsform der Staatsgesellschaft in Gestalt des „Nationalstaates“. Der Nationalstaat bildet sich, als moderner Staat, aus dem vormodernen Territorialstaat der Stammesgesellschaften -  wie im Iran - heraus. Dieser aus dem 2500 Jahre alten Territorialstaat herausgebildete „Nationalstaat“ kann sowohl monarchisch als auch republikanischsein. Beide gehen aus dem „Territorialstaat“ hervor, ohne zwangsläufig demokratisch zu sein. Die Gleichsetzung der Republik mit der Demokratisierung des Staates ist eines der gröbsten Missverständnisse, das zur Entstehung der Einheitsfront gegen das Schah Regime unter der Führung Chomeinis geführt hat.

 

Zunächst bestand unter den Oppositionellen keine gemeinsame Vorstellung über die angestrebte alternative postrevolutionäre Staatsform. Bald einigte man sich auf die „Republik“, ohne eine klare Vorstellung von ihrer Struktur zu haben. Manche verstanden darunter einen Staat, in dem die Herrschaft von zeitlich befristeten Wahlämtern ausgeübt wird, obwohl in diesem Sinne auch Aristokratien Republiken sein können. Manche hielten die Republik für einen am „Gemeinwohl“ orientierten Staat, der auch als „sozial“ interpretiert werden könnte. Vor allem war die Gleichsetzung der Republik mit „Volkssouveränität“ dominant, in der die Partizipation der Bürger für notwendig erachtet wird. Dabei wurde von Teilen der Bewegung die „Volkssouveränität“ mit der „nationalen Souveränität“ verwechselt, die eher eine „nationale Unabhängigkeit“ von fremden Einflüssen bedeutet. Diese muss nicht unbedingt mit der „Volkssouveränität“ einhergehen, wie schon seit der Entstehung der „Volksrepubliken“ wie z.B. in China bekannt sein sollte. Die „nationale Unabhängigkeit“ wird seit der Entstehung der UNO in der Regel völkerrechtlich garantiert. Zur verfassungsrechtlich garantierten Volkssouveränität gehört unabdingbar die Freiheit der Staatsbürger - als „höchste Staatsgewalt“ -  vom  „politischen Staat“ im Sinne ihrer Autonomie und Freiheit von der Willkürherrschaft durch die Garantie der staatsbürgerlichen Rechte gegenüber den Staatsorganen. Die verfassungsmäßig verankerten Grundrechte sind die Form der Sicherung der „Volkssouveränität“ und „Freiheit“. Die garantierten Grundrechte bestimmen die Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Staatsorgane bzw. die Grenze der möglichen Einschränkung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Staatsbürger und deren „Volkssouveränität – solange keine direkte Demokratie möglich ist. Nur durch die Abwägung der Verhältnismäßigkeit darf unter definierten Bedingungen die garantierte Freiheit der Staatsbürger zugunsten ihrer Sicherheit eingeschränkt werden, ohne die Grundrechte zu verletzen. 

 

Die angestrebte „Volkssouveränität“ ist nur möglich, wenn die Freiheit und Unabhängigkeit nicht mehr als Alternativen sondern als komplementäre Grundwerte der Gesellschaft respektiert und verteidigt werden. Während die Unabhängigkeit die „nationale Souveränität“ betont, erklärt die Volkssouveränität das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt. Die Freiheit im Sinne der Autonomie der Staatsbürger gegenüber dem „politischen Staat“ garantiert die „Volkssouveränität“, wobei nur  das Volk in seiner Gesamtheit einzig über der Verfassung steht. Beide werden völkerrechtlich und grundrechtlich geschützt. Die Überwindung der bestehenden Missverständnisse und Verwechselung  beider: der inner- und zwischenstaatlichen Freiheit und der Unabhängigkeit der Menschen als Einzelne und Gruppen ist nur möglich durch eine Transformation jener Glaubensaxiome und Werthaltungen, die der Entstehung und dem Erhalt der „Islamischen Republik“ zugrunde liegen. Nationalismus und Islamismus durch demokratischen Patriotismus zu ersetzen, ist eine notwendige Umorientierung für eine Demokratisierung der iranischen „Staatsgesellschaft“. 

 

Von demokratische Patrioten, Islamisten und National-Modernisten

 

Dazu ist die Überwindung der „Logik der Emotionen“ notwendig, die mehr Macht mit mehr Selbstwert gleichsetzt. Andernfalls entsteht jenes  Minderwertigkeitsgefühl, das sich entweder im Nationalismus oder im Islamismus manifestieren. Als Bezugsrahmen der Selbsterfahrung und als Objekte der Hingabe der Menschen sind sie unterschiedliche Kompensationsformen der Minderwertigkeitsgefühle der Iraner. 

 

Dazu ist die Überwindung zwei dominanter Abwehrmechanismen zur Angstbewältigung im Iran erforderlich, die sich entweder im Nationalismus oder im Islamismus manifestieren. Als Bezugsrahmen der Selbsterfahrung und als Objekte der Hingabe der Menschen sind sie unterschiedliche Abwehrvorgänge, die dazu dienen, psychische Konflikte auf eine Weise zu regulieren, die der seelischen Verfassung der Betroffenen Entlastung verschafft. 

 

Diese zwei Abwehrmechanismen entstehen aus der Erfahrung der überwältigenden Machtdifferenziale durch Idealisierung und Entwertung der mächtigeren Bezugsgruppen in zwischenstaatlichen Beziehungen. Diese ergeben sich vor allem durch die traumatischen semi-kolonialen Erfahrungen der Iraner, die mit ihrer schmerzlich erlebten Abhängigkeit und Ohnmachtsgefühle besonders zur Ausbildung solcher „Abwehrreaktionen“ geführt haben. Welche Abwehrmechanismen bei ihnen jeweils vorherrschen, hängt in der Regel von deren unterschiedlich geprägten Persönlichkeiten ab.

 

Der National-Modernismus entstand durch die „Identifikation mit dem Aggressor“, die einherging mit der Selbstzuschreibung der Verantwortung für die semi-koloniale Erfahrung als Folge der eigenen Machtschwäche, wie sie  aus der technologischen Rückständigkeit erklärt wird. Daraus folgte ihre Bereitschaft zur Überwindung der Bedrohung durch die technokratische und bürokratische „Verwestlichung“ im Sinne der Assimilation, d.h. die Angleichung der Gesellschaft an die kulturell dominanten „westlichen“ Gesellschaften unter weitgehender Aufgabe eigener Kulturgüter. Dementsprechend wurden diese Iraner Träger einer autoritären Form der Akkulturation und des Kulturwandels. Sie sind somit Träger der autoritären Modernisierung Irans, die eher eine äußere moderne Fassade hervorrief. Dafür waren sie sogar bereit, mit Reza-Schah und seinem Nachfolger Mohamad-Reza-Schah die Verfassung faktisch außer Kraft zu setzen. Dadurch unterscheiden sie sich von den verfassungstreuen Patrioten, die zwar die  Modernisierung bejahten, die Diktatur aber ablehnten.

 

Dieser Abwehrmechanismus der National-Modernisten dient zwar dem Schutz des eigenen psychischen Systems und hat den Charakter einer „letzten Notbremse“ vor einem drohenden Zusammenbruch des „autobiographischen Selbst“ angesichts überwältigender Attacken und nicht integrierbarer Affekte. Psychisch von hoher Bedeutung, um hilfsweise die Funktionsfähigkeit des autobiografischen Selbst aufrechtzuerhalten, wirken sich die Folgen der Identifikation mit dem westlichen Aggressor jedoch tatsächlich in hohem Maße schädigend auf die seelische Integrität und das Wohlergehen des Selbst aus, da die Entwicklung persönlicher Autonomie beeinträchtigt  wird.

 

Islamismus bildet den Gegenpol zu Idealisierung in Form einer Ablehnung und Entwertung des westlichen Lebensstils. Als Schutzmechanismus dient diese Entwertung der Stabilisierung des Selbstwertgefühls der eher konservativen Iraner und hilft, ihre Verlust- und Abhängigkeitsängste abzuwehren. Durch die demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werte als „Islam“ bekämpften die Islamisten deshalb zunehmend radikaler das Schah Regime als Agent dieser zuweilen gewaltsamen „Verwestlichung“ Irans. Sie verfehlten jedoch die Entwicklung ihrer persönlichen Autonomie, die durch ihre permanente Abgrenzung vom „Aggressor“ unterdrückt wurde. Diese Iraner sind zur Aufrechterhaltung ihrer Identität permanent von der Abgrenzung vom „Westen“ und dessen verhassten kultureller Dominanz abhängig.

 

Durch diese Abwehrmechanismen unterscheiden sich der „National-Modernismus“ und der Islamismus vom demokratischen Patriotismus, der nicht auf die übersteigerte Betonung des Selbstwertes und der außergewöhnlichen Bedeutung der eigenen Gruppe als „Iranische Nation“ oder „Islamische Gemeinschaft“ (Umma) angewiesen ist. Die demokratischen Verfassungspatrioten erheben keinen gruppencharismatischen Anspruch. Deswegen bedürfen sie auch keiner Herabsetzung anderer nationaler oder religiöser Gruppierungen. Sie sind stolze tolerante Demokraten, deren Selbstwertgefühl und Lebenssinn sich aus ihrem sozialen Dienst ergibt.

 

Während der „National-Modernist“ seinen gruppencharismatischen Anspruch aus der 2500-jährigen Geschichte des „Königsreiches“ Irans herleitet, beruft sich der islamistische Nativist auf die Geschichte des „Islamischen Reiches“ und  demonstrativ auf die „Scharia“ als deren eigen definierte Werte. Diese um jeden Preis durchzusetzen wird zu seinem Lebenssinn. Um diese Durchsetzung zu ermöglichen, gilt es die klerikale Herrschaft um jeden Preis zu schützen. Deswegen kommt der Aufrechterhaltung dieses „Herrschaftssystems“ nach Chomeini eine absolute Priorität zu, selbst wenn die grundlegenden Gebote des Islams „zeitweise“ suspendiert werden müssen. Um diese Mission zu erfüllen sind ihre Unterstützer zu einer aggressiven inner- und außerstaatlichen Assimilierungspolitik gezwungen. Ihr missionarischer Eifer ist durch die gewaltsame Islamisierung im Sinne einer internen und externen Kolonisierung gekennzeichnet. 

 

Innerstaatlich betreiben die Islamisten wie die National-Modernisten daher eine interne Kolonialisierung durch ihre unterschiedlich geprägte Assimilationspolitik, die eher eine Zwangsassimilierung ist. Dennoch radikaler als der National-Modernismus erzwingt der islamistische Nativismus eine gewaltsame Islamistische Assimilation aller gesellschaftlichen Gruppen („Sie-Gruppen“) an ihre eigene Gruppe („Wir-Gruppe“).

 

Ihre Assimilierungspolitik besteht wie die der Nationalisten in der gezielten Herbeiführung einer sozialen Angleichungvon Menschen durch politische und kulturelle Maßnahmen. Dafür glaubten aber die einst herrschenden nationalistischen Gruppen „weiter entwickelt“ oder „fortschrittlicher“ zu sein als alle als „rückständig“ („Ommol“) stigmatisierten Menschen, während die islamistischen Machthaber glauben, den „richtigen“ und „einzig wahren“ Glauben zu vertreten und sich deshalb zur zwangsweisen Umerziehung aller Menschen vor allem der „Ungläubigen“ berechtigt zu sein fühlen. Ihre Zwangsmittel sind gleichermaßen das Verbot der  Sprachen der ethnischen Gruppen (vor allem in den Schulen) und deren Ersetzung durch eine Amtssprache sowie  Verbote der Symbole und Bauten unerwünschter Weltanschauungen oder Religionen. Die Islamisten gehen allerdings noch  weiter, indem sie eine totale Islamisierung des Alltagslebens der Iraner anstreben und so die Restfreiheiten abschaffen, die vor der Revolution im Alltag möglich waren. Diese Gleichschaltung praktizieren die Islamisten, nachdem sie im Namen der Freiheit und Unabhängigkeit die Macht erobert hatten.

 

Wer heute als demokratischer Patriot vorwärts schauend die Legitimation der „Islamischen Republik“ in Frage stellt, fühlt sich trotzdem den verratenen revolutionären Ambitionen treu verbunden. Die durch die Islamisten verratenen zentralen Parolen der revolutionären Massen: „Unabhängigkeit“ und „Freiheit“ bleiben weiterhin aktuell, da sie in einer „Republik“ realisiert werden sollten. 

 

Die List Chomeinis

 

Mit der zunehmenden hegemonialen Dominanz der Islamisten mutierte die Republik zur „Islamischen Republik“. Diese hegemoniale Dominanz verdanken die Islamisten auch der säkularen Opposition gegen das Schah Regime. Sie wären ohne ihre Unterstützung kaum so erfolgreich gewesen. Allerdings leiteten diese Koalitionspartner der Islamisten durch ihre unkritische Kooperation den eigenen Untergang ein. Das Schicksal der säkularen Segmente der Gesellschaft wurde bereits durch ihre Akzeptierung des Führungsanspruchs Chomeinis und dessen „Charisma“ besiegelt. 

 

Die damals rudimentär organisierten politischen Oppositionellen  unterwarfen sich unkritisch der Führung Chomeinis nicht nur, weil er ihnen „listig“  eine Republik nach französischem Modell in vorgaukelte. Mit der „Republik“ glaubten sie mit den Islamisten die „Unabhängigkeit“ und „Freiheit“ realisieren zu können. Dieses Missverständnis der Absichten Chomeinis war nur möglich, weil eine gemeinsame Vorstellung über die „Unabhängigkeit“ und „Freiheit“ suggeriert wurde, die in einer noch unbestimmten „Republik“ realisiert werden sollte. Sie ging hervor aus der vorherrschenden Valenzfiguration der säkularen Opposition, die ihre emotionale Bindung an „nationale Souveränität“ mit ihrer Liebe zur „Volkssouveränität“ verwechselte, die sie mit Freiheit und Unabhängigkeit gleichsetzte. Im Unterschied  dazu  war sich Chomeini seiner eigenen emotionalen Bindungen an die symbolischen Repräsentanten des nachrevolutionären „Islamischen Staates“ bewusst. Er ließ aber alle im Glauben, dass er keinen theokratischen oder  hierokratischen Staat anstreben würde.

 

Ein "post-traumatisches Syndrom"?

 

Mit dieser „Notlüge“, die Chomeini selbst später als „List“ bezeichnete, übernahm er praktisch die unbestreitbare Führung der Revolution zur Etablierung einer klerikalen Herrschaft in Gestalt der „Islamischen Republik“, die eher eine Republik der Verlogenheit ist. So wurde die „Notlüge“ zu einer der Tugenden der postrevolutionären Staatsform, die weder islamisch noch republikanisch ist. Sie ist nicht islamisch, weil gemäß Chomeini die Sicherung der „klerikalen Herrschaft“ zur absoluten Notwendigkeit jeder Handlungsorientierung erklärt wurde. Dafür dürfen sogar die „primären Gebote des Islams“ zeitweise suspendiert werden. Sie ist auch keine versprochene „Republik“, weil mit der klerikalen Alleinherrschaft die Monarchie durch die Aristokratie der Geistlichkeit ersetzt wurde. Mit der Hierokratie wurden die minimalsten Grundprinzipien eines modernen republikanischen Staates aufgehoben. Dies war aber nur möglich durch missverständliche Sinngehalte der kommunizierten politischen Konzepte.

 

Diese Missverständnisse sind über die - für selbstverständlich gehaltene - Konzeption des postrevolutionären Staates als „Republik“ entstanden, weil keine gemeinsame Vorstellung über „Unabhängigkeit“ und „Freiheit“ kommuniziert wurde, wie sie in einer Republik realisiert werden sollte. Der gemeinsame stillschweigende Konsens bestand nur in der Notwendigkeit der Abschaffung der traumatisch erlebten „Monarchie“ vor allem seit dem „CIA-Putsch im Jahre 1953. Seitdem wurde das Schah Regime als Agent des Imperialismus erfahren, der jegliche politische Opposition brutal verfolgte und unterdrückte. Diese traumatische Erfahrung des CIA-Putsches und der folgenden politischen Unterdrückung jeglicher Opposition beeinträchtigte vehement die Flexibilität der politischen Entscheidung- und Verhaltensmuster der säkularen Opposition zum Schah Regime. Es wirkte wie ein „post-traumatisches Syndrom“.

 

Nationale Souveränität statt "Volkssouveränität"

 

Ein solches Psychotrauma entsteht in der Regel durch eine starke psychische Erschütterung, die aus einem traumatisierenden Erlebnis hervorgeht. Es handelt sich dabei um ein vitales Erlebnis der Diskrepanz zwischen bedrohlich erlebten Situationen und den eigenen Bewältigungsmöglichkeiten der Menschen, was mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt. Zu diesen die Orientierungskrise auslösenden Erlebnissen  gehören das „historische Trauma“ wie der CIA-Putsch von 1953. Wie jedes „transgenerationale Trauma“ ist ein solches Trauma über mehrere Generationen wirkungsmächtig, obwohl die folgenden Generationen selbst der traumatischen Erfahrung nicht ausgesetzt worden waren.  Er führte dazu, dass dereinst zweckmäßige Verhaltensweisen des Abwehrverhaltens im Sinne der Verteidigung der „nationalen Unabhängigkeit“ als dominante Reaktionsmuster unverändert fortgeführt wurden, obwohl sie in der revolutionären Situation von 1979 nicht mehr so zweckmäßig waren. Denn es handelte sich um die Demokratisierung des politischen Staates, also um eine innerstaatliche Auseinandersetzung. Das tiefe Mistrauen gegenüber den USA und die Angst vor einer US-imperialistischen Intervention zugunsten seiner „einheimischen Agenten“ bestimmte jedoch wie ein posttraumatisches Syndrom die Handlungs- und Entscheidungsspielräume der revolutionär involvierten Führer, die der Unabhängigkeit im Vergleich zur Freiheit größeren Wert beimaßen. So opferten sie unbewusst die „Volkssouveränität“ im Namen der Verteidigung der „nationalen Souveränität“. Dies obwohl sie die Etablierung der folgenden Republik mit der „Volkssouveränität“ gleichsetzten, in der die Partizipation der Bürger für notwendig gehalten wird.

 

Was zur Entstehung klerikaler Herrschaft führte

 

Der „Volkssouveränität“ wurde durch das „Referendum“ genüge getan, indem als einzige Alternative zur „Monarchie“ die „Islamische Republik“ galt  - „kein Wort mehr oder weniger“ (Chomeini).  Seitdem legitimiert sich die klerikale Herrschaft durch Scheinwahlen und suggeriert so die „Souveränität“ des Volkes, das aber zugleich in alle Ewigkeit eines Vormundes an der Staatsspitze bedarf. Diese Vorstellung des postrevolutionären Staates ergab sich folgerichtig aus Chomeinis Konzept der „klerikalen Herrschaft“, die er aus der ewigen Unmündigkeit der Menschen ableitete. Unter seiner hegemonialen Führung entstand die „Islamische Republik“, der vor allem die Freiheit im Sinne einer individuellen Autonomie zum Opfer fiel, ohne die nationale Unabhängigkeit zu sichern. Der permanente inner- und zwischenstaatliche Kriegszustand ist eine charakteristische Eigenschaft dieser Republik, die eine globale hegemoniale Führung beansprucht und auf diese Weise die nationale Sicherheit und Unabhängigkeit gefährdet. Denn diese Hegemonialbestrebungen der „Islamischen Republik“ rufen regionale und internationale Abwehrreaktionen hervor, die als „äußere“ aggressive territoriale Gefährdung deklariert werden. Diese abzuwehren, wird zuweilen, ungeachtet des innenpolitischen Totalitarismus, als „anti-imperialistische“ Aufgabe der Opposition erklärt. Diese Haltung mancher „kritischer“ Verteidiger der „Islamischen Republik“ im Sinne der Verteidigung der „nationalen Souveränität“ und „Volkssouveränität“ gegen den „imperialistischen Interventionismus“ steht in einer Traditionslinie, die zur Entstehung der klerikalen Herrschaft im Iran führte. 

 

Freiheit als unverzichtbarer Grundwert einer bürgerlichen Gesellschaft

 

Einer der wesentlichen Aspekte der Akzeptanz von Chomeinis Führung bestand in dem  dominanten „Anti-Imperialismus“ der Opposition gegen das Schah Regime, weil die traumatisch erlebte Etablierung seiner Herrschaft durch den CIA-Putsch 1953 das kollektive Gedächtnis prägte. Dabei wurde durch die vorherrschende Narrative unterschlagen, dass dieser Putsch ohne die einheimische Unterstützung der Interessengruppen keine Chance zum Erfolg gehabt hätte. Diese internen Unterstützer bestanden aus nationalistischen Modernisten und Islamisten unter der islamistischen Führung von Ajatollah Kaschani, die den Putsch immer noch als „nationale Erhebung“ und eine notwendige Abwehr des Kommunismus deklarierten. In diesem Sinne sind solche Narrative keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einem Legitimationsanspruch versehen sind. Mit dieser sinnstiftenden Erzählung wurden Werte und Emotionen transportiert, die zwar auf Halbwahrheiten basierten, dennoch aber sehr wirkungsmächtig blieben. Sie  externalisierte vor allem die Urheberschaft der erneuten Etablierung der blutigen Herrschaft des Schah Regimes und prägte die vorrevolutionär dominanten Glaubensaxiome und Werthaltungen der Opposition gegen das Regime. Damit wurde die „Unabhängigkeit“ von der imperialen Dominanz der USA in einer bipolaren Welt zur dominanten Werthaltung der sich revolutionär definierenden Gruppierungen, zumal dem „Iran“ gemäß der „Nixon Doktrin“ eine regionale Gendarmenrolle an der Grenze zur Sowjetunion zukam.

 

Durch diese vorherrschende Narrative im „Zeitalter des Kalten Krieges“ wurde die angestrebte Freiheit für die „Sicherheit“ der „nationalen Souveränität“ vor einem möglichen fremden Interventionismus geopfert. Dies war aber nur möglich, weil vor allem keine gemeinsam geteilte Vorstellung von Freiheit innerhalb der Opposition gegen das Schah Regime vorlag. Es hat sich nachträglich herausgestellt, dass man bloß glaubte gemeinsam zu wissen, was mit Freiheit wovon und wozu gemeint war. 

 

Erst durch die traumatischen Erfahrungen des Totalitarismus der „Islamischen Republik“, entstand ein weit verbreitetes Bewusstsein der Freiheit als einem unverzichtbaren Grundwert einer bürgerlichen Gesellschaft. Dieses Bewusstsein ist insoweit immer noch fehlgeleitet, weil man die Realisierung der Freiheit oft nur in der Säkularisierung des Staates sieht. 

 

Dieses Bedürfnis nach Säkularisierung des Staates ergibt sich aus der gewaltsamen „Islamisierung“ und Gleichschaltung des Alltagslebens. Es ist aber zu kurz gegriffen, wenn man die Freiheit nur als Überwindung klerikaler Bevormundung begreift. Denn diese aristokratisch legitimierte Herrschaftsform der Geistlichkeit ist eine der Formen der Unterordnung der Gesellschaft der Menschen unter den politischen Staat. Die Freiheit kann auch erfahrungsgemäß unterbunden werden in einer „autoritären Demokratie“, wie wir sie gegenwärtig in säkularisierten osteuropäischen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion bereits kennen. Polen und Ungarn heben exemplarisch besonders stolz hervor, eine „illiberale Demokratie“ zu sein, die sie gegen jede Intervention der „europäischen Union“ mit aller Macht zu verteidigen gedenken. Sie missachten zwar die demokratischen Werte Europas als einer Wertegemeinschaft, glauben aber trotzdem demokratisch zu sein. 

 

Deswegen besteht eine institutionelle Demokratisierung nicht bloß in der Säkularisierung und Einführung der Parteiendemokratien, solange mit Parlamentarismus keine rechtsstaatliche Sicherung der Freiheit der Staatsbürger von dem politischen Staat im Sinne der Etablierung der „Volkssouveränität“ institutionalisiert ist. Demnach besteht "die Freiheit …darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln". Nur durch solche Umkehrung der Verhältnisse kann die Freiheit als Ausdruck der Volkssouveränität in Gestalt der individuellen Autonomie ihren Geltungsanspruch realisieren. Es  würden dann alle Staatsorgane im Dienste der Staatsbürger stehen, nicht wie bis jetzt umgekehrt. Denn der Staat ist in erster Linie eine Herstellungs- und Betriebsform der allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft, der sich in der Regel tendenziell als ein Herrschaftsapparat verselbständigt. Die verfassungsmäßige Verankerung der Grundrechte soll die Freiheit der Staatsbürger vor dem Angriff jedes sich verselbständigenden Staatsapparates durch rechtsstaatliche Grenzen schützen und  garantieren. Dadurch soll die individuelle Autonomie der Staatsbürger und deren Souveränität gefördert werden.

Hannover, 13.01.2021