Keivandokht Ghahari,
Nationalismus und Modernismus im Iran in der Periode zwischen dem Zerfall der Qagaren-Dynastie und der Machtergreifung Reza Schah: Eine Untersuchung über die intellektuellen Kreise um die
Zeitschriften Kaweh, Iransahr und Ayandeh
Berlin 2001. Pp. II + 281, € 45,- (http://www.klaus-schwarz-verlag.com)
Rezensiert von Dawud Gholamasad, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität Hannover
Die politische Sprache des modernen Irans ist – so die Autorin – von drei Diskursen geprägt: dem nationalmodernistischen, dem sozialistischen und dem islamischen. Diese Veröffentlichung ihrer Dissertation untersucht diskursanalytisch drei Zeitschriften „Kaweh“ (1916-1922), „Iranshahr“ (1922-1927) und „Ayandeh“ (1925-1928), die mit der Machtergreifung Reza Schahs und der Gründung der Pahlavi-Dynastie die wirkungsmächtigsten Strömungen des „Nationalmodernismus“ repräsentieren.
Die Autorin begründet die Bezeichnung „Nationalmodernisten“ für diese Denkrichtung damit, weil sie die Begriffe „Nation“ und „Fortschritt“ in den Mittelpunkt ihres Diskurses stellten und dafür plädierten, dass eine starke Zentralregierung kraft einer starken Armee und durch die Einführung der ›Bildung für alle‹ die nationale Einheit Irans herstellen sollte. Zudem erklärten die „Nationalmodernisten“ die Schaffung des iranischen Nationalstaates als die Voraussetzung für den Fortschritt Irans, und glaubten, dass dadurch die politische Unabhängigkeit und die territoriale Unversehrtheit Irans garantiert werden könnte.
Angesichts des hegemonialen Stellenwerts und Bedeutungswandels dieser Begriffe im politischen Diskurs Irans begreift Ghahari daher ihre Untersuchung als „einen Beitrag zur Untersuchung der modernen politischen Kultur Irans“. In der Tat füllt sie damit eine Lücke in der Forschung aus. Sie ist eine gelungene diskursanalytische Untersuchung einer Periode der iranischen Entwicklung, die vor allem bis zur Islamischen Revolution sehr affektiv besetzt und als solche einer distanzierten Untersuchung schwer zugänglich war. Ghaharis Untersuchung ist somit ein Zeichen zunehmender Professionalisierung der iranischen SozialwissenschaftlerInnen, die sich trotz ihrer emotionalen Verstrickungen zunehmend distanziert mit ihrer eigenen Geschichte auseinander zu setzen gelernt haben.
Bemerkenswert ist das Buch aber vor allem, weil es die empirische Untersuchung der soziogenen und psychogenen Triebkräfte dieser Geschichte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, und zwar mit besonderer Betonung der psychogenetischen Aspekte dieser Entwicklung. Doch der Untersuchung fehlt die entsprechende Begriffliche Präzision der empirischen Untersuchung, wenn sie z.B. die „Rahmenbedingungen“ schildert, unter denen diese Zeitschriften herausgegeben werden. Sie hebt auch mit dem Kolonialismus, Pan-türkismus und Pan-Islamismus die von den „Nationalmodernisten“ erfahrenen „Gefahren für die politische Unabhängigkeit Irans“ hervor, hat jedoch keinen Begriff von der Selbstwertdynamik zwischenstaatlicher Beziehungen. Dennoch ist ihre Untersuchung eine authentische empirische Begründung des Stellenwerts der Selbstwertbeziehungen zwischen den etablierten Kolonialstaaten und des machtschwächeren semi-kolonialen iranischen Staates als treibendes Moment der Nationalstaatsbildung: Sie untersucht den „Nationalmodernismus“ als einen Assimilationsschub bei Teilen des Berufsbürgertums als Funktion ihrer „Identifikation mit dem Angreifer“ (Anna Freud), in dem sie ihn als eine Defensivstrategie von Teilen der iranischen Intellektuellen als Träger der Nationalstaatsbildung zwischen der „konstitutionellen Revolution“ (1906) und „Islamischer Revolution“ (1979) nachweist.
In der Tat vollzog sich die Modernisierung des iranischen Staates im Sinne einer Verteidigungseinheit als Folge der Identifizierung von Teilen des iranischen Establishments und des Berufbürgertums mit dem kolonialen ›Angreifer‹, womit sie die Behauptung der Souveränität Irans durch „Fortschritt“ im Sinne der Modernisierung der Staatsgesellschaft nach dem Vorbild der machtstärkeren Staaten anstrebten. Die sorgfältige inhaltsanalytische Untersuchung der Glaubensaxiome und Werthaltungen der „Nationalmodernisten“, sowie ihrer sozial- und kulturkritischen Diagnosen der Entwicklungsprobleme Irans – und des sich daraus ergebenden normativen Bildes der sozialen Realität der iranischen Gesellschaft angesichts ihres Bedürfnisses nach „Fortschritt“ als Voraussetzung ihrer Selbstbehauptung als stolze Iraner gegenüber den Kolonialmächten und den sich formierenden Pan-Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten –, ist Gegenstand dieses Buches. Damit werden die gewandelten Bedürfnisse von Teilen des Berufsbürgertums, wie sie sich in der Werthaltungen und Glaubensaxiome der „Nationalmodernisten“ manifestierte, als eine der Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung eines autoritären Modernismus untersucht, der bis zur „islamischen Revolution“ Träger einer „aufgeklärten Diktatur“ wurde.
Die Untersuchung der verhaltens- und empfindenssteuernden Zwänge der „Nationalmodernisten“ ist daher eine praktische Entmythologisierung der jüngsten iranischen Geschichte Irans als die einer „Alleinherrschaft“. Durch Ghaharis Diskursanalyse wird nachgezeichnet, wie und warum deren Entstehung von Teilen des Berufsbürgertums diskursiv vorbereitet und zum Teil getragen wurde – und zwar als die notwendige „eiserne Hand“ eines Reza Schahs zur Durchsetzung des „Fortschritts“: Als unabdingbare Bedingung der Sicherung der „Souveränität“ Irans angesichts der erfahrenen zwischenstaatlichen Machtbalance und der Ohnmachterfahrung der Modernisten gegenüber der Wirkungsmächtigkeit einer, die Verhaltens- und Empfindensmuster der iranischen Massen prägenden Geistlichkeit.
Das Buch ist entsprechend in vier Kapitel aufgeteilt und endet mit einem Schlusswort, in dem „die Auswirkungen der nationalmodernistischen Ideologie und ein kurzer Überblick über ihre Weiterentwicklung in der jüngsten Geschichte Irans“(Kapitel 4) diskutiert werden. Doch bevor in Kapitel 3 die „Grundzüge der nationalmodernistischen Ideologie anhand dieser Zeitschriften“ schwerpunktmäßig untersucht werden, untersucht die Autorin die „geschichtlichen Hintergründe“ (Kapitel 1) und „die Zeitschriften Kaweh, Iranshahr und Ajandeh“ samt ihrer Entstehungsgeschichte, sowie Organisation und Finanzierung ihrer Herausgabe(Kapitel 2) .
Mit den „geschichtlichen Hintergründen“ wird die Soziogenese der „Nationalmodernisten“ als Funktion der zwischen- und innerstaatlichen Machtbalancen und der damit einhergehenden Balance zwischen den zentrifugalen und zentripetalen Tendenzen dargestellt, die mit dem Bedürfnis nach „nationaler Einheit“ und „Fortschritt“ zu einer dramatischen Verschiebung der Verhaltens- und Empfindensmuster eines sich entwickelnden Berufsbürgertums führte. Die Herausgabe dieser drei Zeitschriften manifestiert diesen Wandel der dominanten Werthaltungen und Glaubensaxiome, die zur „Nationalstaatsbildung“ in Iran beitrug. Entscheidend dafür waren die erfahrenen „Gefahren für die politische Unabhängigkeit und Unversehrtheit Irans“, die anhand der drei Zeitschriften im Kapitel 3.1. untersucht wird. Dabei werden inhaltsanalytisch ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet. Mit der gleichen Intention wird in Kap. 3.2 der Begründungszusammenhang von „politische[r] Unabhängigkeit durch Nationenbildung“ untersucht, um anschließend im Kap. 3.3. den Zusammenhang zwischen „politische[r] Unabhängigkeit durch Fortschritt“ zu diskutieren, wie er von diesen Zeitschriften begründet wurde. Dabei wird der Unterschied zwischen diesen Zeitschriften durch die jeweiligen Bedeutungen sichtbar gemacht, die sie den institutionellen und habituellen Dimensionen der Entwicklung beigemessen haben. Besonders interessant ist die hervorgehobene Bedeutung der „Mentalität“ und der „sozialen Gewohnheiten“ als Entwicklungsprobleme, die die „Nationalmodernisten“ durch massive Bildungsanstrengungen zu lösen glaubten.
Ghaharis Buch ist daher nicht nur ein Beitrag zur Entmythologierang der jüngsten iranischen Geschichte Irans. Es ist darüber hinaus auch ein ausgezeichneter empirischer Beitrag, der als ein exemplarisches Beispiel die notwendige Grundlage der Modellbildung für die Erklärung der Modernisierungsprobleme der weniger entwickelten Gesellschaften bietet, angesichts der zunehmenden Globalisierung der Interdependenzen der Menschen als Einzelne und Gruppen. Es ist daher nicht nur interessant für die Iranexperten, sondern auch für die Entwicklungssoziologen. Es wäre allerdings zu wünschen gewesen, wenn die Autorin die Ergebnisse ihrer hervorragenden empirischen Untersuchung für eine differenzierte Theoriebildung herangezogen hätte und so ihre Analyse mit einer entsprechenden Synthese ergänzt hätte. Aber das ist bedauerlicherweise nicht üblich angesichts der institutionellen Trennung zwischen „Empirikern“ und „Theoretikern“ im akademischen Betrieb, die hoffentlich allmählich überwunden wird.