mehriran.de - Warum ist der auf dem "Subsidiaritätsprinzip" beruhende Föderalismus ein zentraler Aspekt der Demokratisierung des Iran und warum sollte die Theokratie nicht durch regionale Ethnokratien ersetzt werden?[1]
In diesem Beitrag möchte ich die Notwendigkeit der Dezentralisierung der staatlichen Organisation im Sinne des Föderalismus nach dem Subsidiaritätsprinzip als einen unverzichtbaren Aspekt der Demokratisierung Irans diskutieren. Mit der Dezentralisierung und Demokratisierung der Entscheidungs- und Zwangsbefugnisse soll zugleich nicht nur die Effektivität der staatlichen Organisation gefördert werden, sondern auch die nationale Solidarität der Iraner. Die Förderung dieses Zusammengehörigkeitsgefühls hilft, ihre ethnische Vielfalt als kulturelle Reichtum des Landes wertzuschätzen und die gegenwärtige Tendenz zur Ethnisierung sozialer Konflikte zu überwinden. So soll eine stabilere Balance zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften hergestellt werden, die bisher als erlebte Furcht- und Wunschbilder der involvierten Menschen, bei der Überwindung territorialer Disparität und daurch einer Weiterentwicklung im Wege gestanden haben.
Was bedeutet Föderalismus nach dem Subsidiaritätsprinzip?
In der Regel wird Demokratisierung gleichgesetzt mit einem der Aspekte ihrer institutionellen Formen. Sie wird reduziert auf die Institutionalisierung des Parlamentarismus einer Parteiendemokratie, die mit der Gewaltenteilung die Volkssouveränität garantieren soll. Mit dieser Reduktion werden nicht nur die funktionalen und sozial-habituellen bzw. personalen Aspekte ihrer Entstehung und Erhaltung vernachlässigt, die ich in anderen Beiträgen öfters diskutiert habe. Auch die Relevanz des territorialen Aspekts einer institutionellen Demokratisierung wird nicht angemessen gewürdigt. Der Berücksichtigung dieses Aspekts der Demokratisierung kommt vor allem in den multi-ethnischen Staatsgesellschaften besondere Bedeutung zu, die in Europa durch die föderative Organisation des Staates nach dem Subsidiaritätsprinzip ihre mehr oder weniger stabile Lösungsform gefunden hat. Denn der Föderalismus ist einer der unverzichtbaren Demokratisierungsaspekte der modernisierten Staatsgesellschaften wie Iran, die im Zuge von Modernisierungsprozessen durch die Zersetzung und Auflösung der früheren Integrationseinheiten wie Stämme und dörfliche Gemeinschaften entstanden sind. Als ein komplementärer Prozess der Verstaatlichung der nomadisch geprägten Gesellschaft, verläuft die Nationalisierung der zentralisierten Staatsgesellschaft durch seine föderative Reorganisierung im Laufe der Demokratisierungsprozesse. Dabei wird mit dem Subsidiaritätsprinzip einer Problemlösung sozialer Konflikte durch Ethnisierung eine Absage erteilt. Diese begreift bei der territorialen Demokratisierung des Staates die Menschen eher als Kollektivmitglieder, denn als einzelne Staatsbürger mit gewisser ethnischer Herkunft.
Eine „föderale Ethnokratie“ ist eine Art politischer Struktur, in der der Staatsapparat von regional dominanten ethnischen Gruppen kontrolliert wird, um ihre Interessen, Macht- und Statusressourcen zu fördern. Deswegen weisen ethnokratische Regime in der Regel eine „dünne“ demokratische Fassade auf, die eine tiefere ethnische Struktur verdeckt, in der Ethnizität und nicht die Staatsbürgerschaft zum Schlüssel für die Sicherung von Macht- und Statusressourcen wird. Eine solche ethnokratische Ersetzung der gegenwärtig vorherrschenden Theokratie bzw. Hierokratie wäre eine Scheindemokratisierung. Eine solche institutionelle Ethnisierung der Herrschaftsverhältnisse würde die Ethnisierung der sozialen Konflikte sogar eher verschärfen als sie aufzuheben. Diese "föderative Ethnokratie" wäre höchst kontraproduktiv, da sie dazu beitragen würde, den Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der beteiligten Menschen zu zementieren, anstatt sie zu demokratisieren.
Wie entsteht das Bestreben nach „ethnischem Föderalismus“?
Mit der Modernisierung der Gesellschaft geht eine soziale Differenzierung einher, die vor allem mit der zunehmenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die zuvor vorherrschenden Formen der sozialen Integration der Menschen wie Stämme und dörfliche Gemeinschaften auflöst. Diese zunehmend mit der Urbanisierung der Lebenszusammenhänge der Menschen einhergehende Desintegration früherer Integrationseinheiten bedeutet aber lange nicht ihre emotionale Entbindung davon. Ihr Gefühl der ethnischen Zugehörigkeit bestimmt daher weiterhin die Balance ihrer Ich-Wir-Identität, und zwar zugunsten ihrer früheren Identität als Stammesangehörige, solange sie als gleichberechtigte Staatsbürger nicht demokratisch integriert sind. Dieser Nachhinkeffekt ihres sozialen Habitus verhindert die mehrstufige soziale Integration der entwurzelten Menschen, die mit der unübersehbaren regionalen Disparität der sozio-ökonomischen Entwicklung die Ethnisierung sozialer Konflikte verschärft. Als eine Begleiterscheinung der zentralisierten Verstaatlichung der Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Nachhinkeffekt der emotionalen Integration ehemaliger „Untertanen“ mit verschiedener ethnischer Herkunft, wird diese regionale Vernachlässigung der Entwicklung aber als ihre ethnische Diskriminierung erleben. Durch die Ethnisierung der sie vernachlässigenden Zentralmacht als „Perser“, erscheint ihnen eine selbst unterdrückte Gruppe als ihr etablierter Unterdrücker. Diese ethnisierte Wahrnehmung der von der Zentralmacht marginalisierte Gruppe verschärft die Ethnisierung ihres demokratischen Kampfes für die „föderative Autonomie“ der ethnisch geprägten Regionen. Dabei verwechseln sie ihre wahren Peiniger mit den „Persern“, die ihre Autonomiebestrebungen als Sessensionismus erbarmungslos bekämpfen.
Was bedeutet Subsidiaritätsprinzip
Dabei ist es der undemokratische und extrem zentralisierte Staat, der jeglichen Protest gegen territoriale Disparität der Entwicklung und jede regionale relative Autonomiebestrebung im Sinne einer demokratischen Integration der Staatsbürger als Separatismus bekämpft. Dies verstärkt die Ethnisierung sozialer Konflikte, die mit deren Eskalation die Gefahr territorialer Zerfallsprozesse enorm erhöhen wird. Ein Problem, das durch eine Dezentralisierung des Staates nach dem „Subsidiaritätsprinzip“ produktiv und effektiv gelöst werden kann.
Das „Subsidiaritätsprinzip“ besagt, dass Aufgaben zur Herstellung und zum Betrieb allgemeiner Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft - als Infrastrukturmaßnahmen bekannt - möglichst von den kleinsten zuständigen Einheiten in einer mehrstufigen Integrationseinheit der Staatsgesellschaft übernommen werden sollten. Übergeordnete Einheiten sollten nur dann eingreifen, wenn die unteren Einheiten es nicht können. Demnach bieten übergeordnete Einheiten nur Unterstützungsleistungen, die jedoch oft von den Zentralregierenden als ein emotional unerträglicher Funktionsverlust erlebt und bekämpft werden. Deswegen setzt eine solche demokratische Reorganisierung des Staates die Einsicht in die Notwendigkeit der Dezentralisierung der Herstellung und des Betriebes allgemeiner Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft voraus. Demnach darf eine höhere staatliche oder gesellschaftliche Einheit erst dann helfend eingreifen und Funktionen an sich ziehen, wenn die Ressourcen der untergeordneten Einheiten nicht ausreichen, diese Funktionen wahrzunehmen.
Diese Dezentralisierung nach dem Subsidiaritätsprinzip vollzöge sich also durch eine Delegation der staatlichen Aufgaben nach unten, so dass sie soweit wie möglich von der unteren Ebene bzw. kleineren Einheit wahrgenommen werden. Dieses Prinzip beschränkt sich daher nicht nur auf die von der Zentralregierung delegierten staatlichen Verwaltungsaufgaben, wie sie in den vor- und nachrevolutionären Verfassungen vorgesehen sind und unter zentraler Kontrolle mehr schlecht als recht umgesetzt wurden. Es umfasst auch alle sonst für die Herstellung und den Betrieb der allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft notwendigen Funktionen, wie „Daseinsvorsorge“ sowie Rechtsprechung auf ihrem Instanzenweg und im Bereich des Sozialrechts, das Almosen ersetzen soll.
Die „Daseinsvorsorge“ umfaßt die, als öffentliche Dienstleistungen bekannte, „Grundversorgung“ der Bürger. Es umreißt die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein menschliches Dasein als notwendig erachteten Güter und Dienstleistungen. Dazu zählt als Teil der „Leistungsverwaltung“ die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen für die Allgemeinheit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Friedhöfe, Schwimmbäder, Feuerwehr usw. (Infrastruktur). Dabei handelt es sich größtenteils um Betätigungen, die in der Regel von kommunalwirtschaftlichen Betrieben wahrgenommen werden. Auch Bildung und Ausbildung gehören zur föderativen Kulturhoheit der unteren Gliedereinheiten eines territorial demokratisierten Staates. Diese Kulturhoheit steht allerdings unter dem Vorbehalt des Diskriminierungsverbots, des Minderheitenschutzes bzw. der Respektierung der Menschen- und bürgerlichen Rechte. Diese Einschränkung ergibt sich nicht zuletzt aus zunehmenden sozialen und geografischen Mobilität der Menschen im Modernisierungsprozess. All dies dient, im Sinne der Solidarität aus freiheitlicher Perspektive, dem sozialen, territorialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt der Menschen als Staatsbürger in einem normativ modernisierten Nationalstaat.
Diese demokratisch strukturierte gesellschaftliche Integration der Menschen unterscheidet sich daher grundsätzlich von jeglicher Form der "Ethnokratie". Damit werden also die traditionellen „Autonomiebestrebungen“ unterbunden, d.h. territoriale Integration ethnischer Gruppen, in denen ethnische Außenseiter unvermeidlich unter Assimilationsdruck geraten. Um eine Assimilation von Menschen an eine ethnisch dominante Gruppe mit der Aufgabe ihrer eigenen Kulturgüter in einer föderativ organisierten Gesellschaft zu vermeiden, müssen die Bürger daher nicht als 'ethnische Mitglieder', sondern als 'Rechtegenossen' organisiert werden.
Hannover, 11.05.2020
[1] Dies ist eine überarbeitete Fassung des 07.07.2019 erschienenen Beitrages