Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Warum die US-Sanktionen gegen Iran ihre Wirkung verfehlen

 

mehriran.de - In diesem Essay zeigt Prof Gholamasad, emeritierter Soziologe aus Hannover mit Wurzeln im Iran, warum er die US-Sanktionen gegen Iran in der gegenwärtigen Form für nicht Ziel führend sieht und welche Rolle die Opposition in der derzeitigen Situation inne hat.

 

Ein Grund für die Wirkungslosigkeit der "US-Sanktionen" gegen „Iran“ ist das mangelnde proaktive Verhalten der iranischen Opposition

 

Die USA mussten schließlich das Scheitern ihrer „Sanktionen“ gegen die „Islamische Republik“ praktisch eingestehen. Denn hätten die von den USA verhängten „Sanktionen“ und deren Verschärfung als „maximaler Druck“ auf „Teheran“ ihr Ziel erreicht, hätten sie nicht mit zusätzlicher verantwortungsloser militärischer Drohgebärde auftreten müssen. Verantwortungslos ist die massive navale Mobilisierung zur Einschüchterung des Regimes in Teheran, weil die unbeabsichtigten katastrophalen Folgen eines regionalen Flächenbrandes leichtfertig in Kauf genommen wurden; darüber hinaus wurde unbeabsichtigt die Angemessenheit der Strategie der Externalisierung des Kriegsschauplatzes des Regimes bestätigt, indem sie sich, aus Rücksicht auf die wahrscheinliche Eskalation des Konfliktes, mit möglichen militärischen Reaktion auf die Herausforderungen im Persischen Golf zurückhalten mussten. So haben sie zwar einen Flächenbrand vermieden, indem sie der Falle einer „asymmetrischen Kriegsführung“ außerhalb Irans mit seinen regional weit verstreuten Stellvertretern auswichen. Aber sie verschafften zugleich dem Regime eine willkommene Chance, die „Richtigkeit“ seiner bisherigen expansiven außenpolitischen Praxis innenpolitisch zu legitimieren. So haben sie die Angemessenheit der Einsätze eines „Feuermanns“ bestätigt, der das zuvor als Pyromane gelegte Feuer löscht. Das Regime hat immer wieder seine expansiven außenpoltischen Aktivitäten als „sicherheitspolitisch notwendige Vertiefung der strategischen Verteidigungslinie“ rechtfertigt, weil es seine Feinde exterritorial militärisch bekämpfen wolle. Während gerade diese expansive Außenpolitik die Nachbarländer beunruhigte, für deren Eindämmung die erfolglosen USA Sanktionen eingeführt werden sollte. Denn die Verhinderung der atomaren Aufrüstung, die das Regime als „Abschreckung“ geplant hatte, war ja bereits durch das gemeinsame Abkommen der Vetomächte sowie Europa und Deutschland längst besiegelt, das Trump als „Obama legacy“ gekündigt hatte. 

 

Worin liegt nun der Grund des Scheiterns der „Sanktionen“ als „maximaler Druck zu „Verhaltensänderung des Regimes“ im Iran? In diesem Beitrag möchte ich kurz auf die Rolle der „systemimmanenten Opposition“ eingehen und was möglicherweise zum Misserfolg der "US-Sanktionen" geführt hat. Die Verlängerung und Verschärfung dieser „Sanktionen“ hat vor allem dazu geführt, dass die schon leidende Mehrheit der Iraner noch mehr leidet. Hinzukommt, dass es überhaupt keine Sanktionen im völkerrechtlichen Sinne sind, die eine internationale Unterstützung hätte erwarten lassen. Dazu hat die Fundamentalopposition bisher weitgehend geschwiegen, was die rechtsmoralische Legitimität ihrer Opposition gegen die ebenso (völker-) rechtswidrig handelnde „Islamische Republik“ beeinträchtigt.

 

Die "US-Sanktionen" gegen die „Islamische Republik“ sind ein einseitiger „Wirtschaftskrieg“

 

Bevor ich die Wirksamkeit der durch die USA verhängten „Sanktionen“ diskutiere, muss ich zunächst hervorheben, dass sie im (völker-)rechtlichen Sinne keine Sanktionen sind. Denn Sanktionen sind in der Regel durch Gesetze angedrohte Strafmaßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, konkretes Fehlverhalten zu unterbinden und damit Rechtsnormen durchzusetzen. Im Strafrecht dienen sie gemäß den Strafzwecktheorien dazu, den durch das missbilligte Verhalten gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen. Sanktionen dienen hier also auch der Kriminalprävention. 

 

Im Völkerrecht werden nur kollektive Maßnahmen nach Artikel 39ff. der UN-Charta als Sanktion bezeichnet. Als UN-Sanktionen erfordern sie daher einen Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und ein entsprechendes UN-Mandat. Völkerrechtlich bezeichnet man mit Sanktionen daher Zwangsmaßnahmen gegen ein Völkerrechtssubjekt, insbesondere zur Durchsetzung von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats durch Wirtschaftssanktionen. 

 

Eine häufig angewandte Sanktion der Vereinten Nationen ist daher ein sogenanntes Embargo, beispielsweise in Form eines Wirtschafts- oder Handelsembargos. Dabei werden sämtliche Wirtschafts- oder Handelsbeziehungen anderer UN-Länder zu dem betroffenen Land abgebrochen. Derartige Embargos können allerdings im betroffenen Land zu Hungersnöten und anderen Engpässen führen, welche nicht die Machthaber, sondern die für die Politik nicht verantwortliche Bevölkerung treffen. Unter Sanktionen mit solchen Nebenwirkungen hatte z. B. das irakische Volk jahrelang bis zum Sturz Saddam Husseins zu leiden. 

 

Völkerrechtliche Grundlage für die Verhängung von Sanktionen ist der Artikel 41 der Charta der Vereinten Nationen: Der Sicherheitsrat kann beschließen, welche Maßnahmen - unter Ausschluss von Waffengewalt - zu ergreifen sind, um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen; er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegraphen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen. Als Teil des Kapitels VII der UN-Charta kann der Artikel nur dann Anwendung finden, wenn der Sicherheitsrat gemäß Artikel 39 vorher feststellt, dass aufgrund einer Angriffshandlung oder in der Fortdauer einer Streitigkeit oder einer Situation eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens besteht. Sanktionen können nur vom Sicherheitsrat verhängt werden, nicht einmal von der UN-Generalversammlung. Als alleinige Entscheidungsautorität kann er entscheiden, welche Staaten, Gruppen, Individuen oder Einrichtungen er sanktionieren will, welche Arten von Rohstoffen, Waren oder Dienstleistungen von den Sanktionen betroffen sein sollen und wie lange die Sanktionen andauern sollen. Darüber hinaus ist es dem Rat gestattet, den UN-Mitgliedern jeglichen Kontakt mit dem Sanktionsadressaten zu untersagen. Die Einhaltung sämtlicher Sanktionsmaßnahmen liegt jedoch in der Verantwortung jedes einzelnen Mitgliedsstaates.

 

Die von den USA eigenmächtig als „maximaler Druck“ auf die „Islamische Republik“ verhängten Sanktionen zum Zweck der „Verhaltensänderung des Regimes“ entbehrt jeglicher völkerrechtlichen Grundlage. Selbst, wenn die Fortdauer außenpolitischer Ausrichtung des Regimes im Iran eine regionale Bedrohung oder ein Bruch des Friedens bedeuten sollte. Demzufolge fallen die "US-Sanktionen" gegen die „Islamische Republik“ eindeutig unter die Kategorie „Wirtschaftskrieg“. Er wird in diesem Fall als eine intensive einseitige Konfrontation mit ökonomischen Instrumenten gegen Iran geführt. Wobei, wie üblich, neben ökonomischen auch juristische, politische und geheimdienstliche Instrumente eingesetzt werden. Hinzu kommt eine unverantwortliche militärische Drohkulisse, die den US-Forderungen mehr Nachdruck verleihen soll. Dieser Wirtschaftskrieg ist insofern ein ergänzendes Element der kalten Kriegsführung, die in einen heißen übergehen kann; selbst wenn die USA immer wieder betonen, dass sie keinen Krieg führen wollen.

 

Die internen Kräfteverhältnisse entscheiden über die Wirksamkeit der Sanktionen 

 

Die USA haben trotz internationaler Proteste die nach eigenen Angaben härtesten Wirtschaftssanktionen gegen Iran in Kraft gesetzt. Nach den offiziellen Verlautbarungen von Donald Trump, zielen sie keineswegs auf einen „Regimewechsel“ sondern nur auf eine Unterlassung der aggressiven außenpolitischen Orientierung und extraterritorialen Aktivitäten des Regimes, die nicht einmal regional begrenzt sind. Das „revolutionäre Regime“ soll so in einen völkerrechtlich verantwortlichen Staat umgewandelt werden, der kooperationsbereit ein Dasein in friedlicher Koexistenz mit seinen Nachbarn führt. Demzufolge sollte sich die „Islamische Republik“ als eine eher Angriffseinheit in eine Verteidigungseinheit umwandeln, wozu sie auch keinen Bedarf für Angriffswaffen hätte. Deswegen sollte sie auch auf die atomare Aufrüstung genauso verzichten wie auf ballistischen Raketen, die sonst zur Eskalation regionaler atomarer Aufrüstung führen würde.  

 

Diese von der „Islamischen Republik“ als „Wirtschaftsterrorismus“ bezeichneten „Sanktionen“ werden auch sehr kontrovers unter Iranern diskutiert. Abgesehen von der als „Verräter“ stigmatisierten Befürworter der Sanktionen, die auf eine Schwächung des Regimes und dessen beschleunigten Sturz hoffen, leugnen Teile der Oppositionellen deren Wirksamkeit. Als Beweis weisen sie auf die Erfahrungen mit den Sanktionen gegen Saddam Hussain. Die Befürworter aber führen Südafrika als Beweis der Wirksamkeit der Sanktionen, die zur Aufhebung der Apartheid geführt haben. Beide vernachlässigen aber dabei die spezifischen Figurationen der jeweiligen Etablierten-Außenseiter-Konstellationen dieser zwei Staatsgesellschaften, die zu zwei grundverschiedenen Ergebnissen geführt haben. Diese figurationsspezifische Unterscheide der Etablierten-Außenseiter-Beziehungen zeichnen sich aus durch ihre jeweiligen, sich eigendynamisch verändernden, gegenseitigen Angewiesenheiten und Abhängigkeiten der Menschen entlang der Hauptspannungsachsen der Gesellschaft sowie der Organisationsgrad der Opposition der Außenseiter und deren Wille zum Wandel. Letztendlich war die Machtbilanz der involvierten sozialen Gruppen, ihr effektiver Organisationsgrad und ihr Wille zu Macht entscheidend für den unterschiedlichen Ausgang der verhängten Sanktionen. Die Bilanz der Verteilung der Machtchancen als Chancen, das Verhalten anderer Menschen als Einzelne und Gruppen auch gegen ihren eigenen Willen zu bestimmen, ist dafür entscheidend. Dazu gehören funktionale, institutionelle und sozial-habituelle Verteilung der Machtchancen entscheidend, d.h.:

  • Das Interdependenzgeflecht der Angewiesenheiten und Abhängigkeiten der Menschen in ihren jeweiligen sozialen Funktionen, ihren funktionalen Interdependenzen,
  • Die Normierung dieser Interdependenzen, die sich als Institutionen ihnen gegenüber in Form von Fremdzwängen verselbständigt ihr Denken, Fühlen und Verhalten steuern,
  • Die Verinnerlichung dieser Normen als Selbstzwänge, die ihr Denken, Fühlen und Verhaltensbereitschaften, ihren sozial vermittelten Habitus prägen.

Die Entwicklung dieser funktionalen, institutionellen und sozial-habituellen Aspekte der Machtbalance sind keineswegs zielgerichtet, wie mancher sich das wünschen mag; sie sind gerichtete, umkehrbare und ungleichzeitig verlaufende Wandlungsprozesse, die als funktionale, institutionelle und sozial-habituelle Demokratisierungsprozesse erfasst werden. Die „Islamische Revolution“ als eine institutionelle Ent-Demokratisierung ist ein gutes Beispiel von der Ungleichzeitigkeit und Umkehrbarkeit dieser sozialen Prozesse, weil sozialer Habitus einer Mehrheit der Träger der Revolution hinter ihrer funktionalen und institutionellen Demokratisierung hinterherhinkte. Denn ohne die funktionale Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Machtschwächeren hätte es überhaupt keine revolutionäre Umwälzung gegeben. Doch die institutionelle Demokratisierung im Sinne der Etablierung eines Rechtsstaates mit dem Volk als Souverän widersprach der dominanten Vorstellung der Mehrheit von Gott als einzigem Souverän, in dessen Namen nur die Geistlichkeit sprechen darf. Die Etablierung der klerikalen Herrschaft ist deswegen ein Nachhinkeffekt dieses sozialen Habitus, d.h. der dominanten Art zu denken, zu fühlen und zu handeln.

 

Der andersartige Ausgang der Sanktionen gegen die Apartheid ergab sich aus der bestehenden Machtbalance, die sich in der Tat durch die wirtschaftlichen Sanktionen zugunsten der Apartheidgegner verschob; sie führte dort zu einer institutionellen Korrektur, weil schließlich auch die weiße Minderheit aus Eigeninteresse die Einsicht in ihre Notwendigkeit bekam. Die Sanktionen hatten nur eine Unterstützende Funktion für die Opposition. Die Apartheidgegner bestanden in Südafrika aus der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft, die als Außenseiter weitgehend im ANC effektiv organisiert waren oder ihr loyal folgten. Gerade dieser Organisationsgrad der Einheit der irakischen Außenseiter fehlte im Irak, welche das wesentliche Merkmal der diktatorischen Einparteienstaaten ist; wo also alle demokratische Institutionen unterdrückt sind und eine Obrigkeitsmentalität der Massenindividuen permanent reproduziert wird. Diese Figurationsmerkmale teilt die theokratische Herrschaft im Iran mit der nationalistisch legitimierten „Allein-Herrschaft“ Saddams durch die „Bath-Partei“. Darin sieht man auch die Funktionsgleichheit des Islamismus und Nationalismus. Beide sind unterschiedliche Manifestationen des gruppencharismatischen Selbstbildes der staatlich organisierten Menschen unter einer „Alleinherrschaft“, die ihren eigenen Selbstwert unterschiedlich stolz demonstrativ hervorheben. Diese ideologischen Unterschiede der Zutaten des Schemas des Selbstwertes, verdecken aber ihre gemeinsame selbstwertrelevante Funktion, die jederzeit - als demonstrative Hervorhebung der stolz als Eigen definierte Werte - herrschaftsstabilisierend gegen „Fremde“ oder „Imperialismus“ mobilisierbar ist.

 

Die Theokratie im Iran ist entstand durch eine massenhafte revolutionäre Erhebung der chiliastisch geprägten Menschen, die „den Islam“ als ihren eigen definierten Wert demonstrativ hervorhoben und sich über Chomeini miteinander als islamistische Masse identifizierten. Unter dessen Führung eroberten sie die Macht, die sie freiwillig ihrem charismatischen Revolutionsführer aushändigten. Symbolisch vollzog sich dieser Akt, indem sie der Aufforderung der Kerngruppe der Macht nach der Revolution Folge leisteten und ihre eroberten Waffen den Moscheen übergaben. Durch diese Selbstentwaffnung entmachteten sie sich als minder organisierte Massenindividuen, die jahrzehntelang für die Stabilisierung und Erhaltung der klerikalen Herrschaft mobilisiert werden konnten. Die sukzessive Eliminierung der dürftig organisierten Konkurrenten als „Liberale“, „Konterrevolutionäre“ oder „Kollaborateure“ mit dem allgegenwärtigen „Feind“ hinterließ eine genauso zersplitterte und dürftig organisierte systemimmanente „reformistische“ Opposition, die sich gegenüber den, sich zunehmend stramm organisierenden orthodoxen Islamisten, kaum behaupten konnten. Ihr Lebensrecht verdienen sie nur als „Retter in Not“ für die etablierte Herrschaft, wenn sie zur eigenen Legitimation scheindemokratische Wahlen abhalten müssen. Ihre Funktion besteht in der Mobilisierung der Hoffnung der Wahlbürger, die sie seit vier Jahrzehnte immer wieder zur „Wahl“ der institutionell und reell machtlosen Amtsträger aufrufen. 

 

Deswegen verfügen weder „ihre“ parlamentarische Vertreter noch „ihr“ gewählter Präsident über die Richtlinienkompetenz oder entsprechende Entscheidungsbefugnisse, die ihnen ermöglichen würde, in einer existentiellen Krise der „Islamischen Republik“ mit der Hegemonialmacht USA die sonst üblichen Verhandlungen in einem Wirtschaftskrieg zu führen. Dies vor allem, wenn bestimmte strittige Themen von dem „Führer“ zur „Ehrensache“ erklärt werden. Dazu gehört der unverhandelbare „revolutionäre Charakter“ des Regimes, dessen Mission in der Aktivierung der Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung paradiesischer Glückzustände auf Erde besteht. In diesem aktivistischen Chiliasmus unterscheiden sich die etablierten Orthodoxen von dem quietistischen Chiliasmus der systemimmanenten oppositionellen – mit ihrem geteilten Glauben an die Wiederkunft Mahdi und das Errichten seines Friedensreichs. Sie teilen zwar den nativistisch geprägten schiitischen Chiliasmus der etablierten Orthodoxen, ohne deren Aktivismus im Sinne des Exports der „Islamischen Revolution“ zu teilen. Sie sind auch nicht in der Lage diesen zu ändern, selbst wenn sie den Export eher als ein erfolgreiches Modell eines „Islamischen Staates“ anstreben. Die massive Bedrohung des Regimes durch eine fremde Macht erschwert sogar ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Opposition, weil sie sich einer Solidaritätserwartung ausgesetzt fühlen.

 

Die nicht islamistische iranische Opposition besteht gegenwärtig aus weitgehend unorganisierten Massenindividuen, die einem unbarmherzig brutalen Regime gegenüberstehen, das nicht nur alle Machtquellen und Herrschaftsinstitutionen monopolisiert hat. Es wird sogar getragen von einer effektiv organisierten und jederzeit mobilisierbaren Masse der privilegierten Islamisten, selbst wenn sie nicht mehr als 5% der Gesellschaft ausmachen sollten. Hinzu kommen opportunistische Trittbrettfahrer, die durch ihre „praktische Loyalität zur Theokratie“ dem Regime demonstrative Legitimation liefern, vor allem bei den Scheinwahlen. Ihnen gegenüber steht eine systemimmanente Opposition, die hauptsächlich als Steigbügelhalter der klerikalen Herrschaft entstand, nun jedoch aus mangelnder Loyalität in Ungnade gefallen sind. Sie teilen mit den „Fundamentalisten“ immer noch das von Chomeini verkündete Kredo der „Systemerhaltung als absolute Priorität“ der handlungssteuernden politischen Strategie um jeden Preis. Sie konkurrieren mit den Fundamentalisten nur um die Machtchancen, weil sie glauben, mit der reformierten Herrschaftspraxis das „System“ effektiver schützen und erhalten zu können. Ihre soziale Basis rekrutierte sich weitgehend aus der Mittelschicht, die eine Liberalisierung des Alltagslebens anstrebte. Ihnen geht es daher nicht um die Überwindung der klerikalen Herrschaft, sondern um deren „demokratisierte“ Erhaltung. Damit soll vor allem die soziale Mobilität der systemtreuen Staatsbürger gesichert werden. Die Zirkulation der islamistischen Elite ist ihr Hauptziel, nach dem alle anderen Konkurrenten aus dem Feld geschlagen worden sind. Deswegen sind sie bereit immer wieder die Furcht- und Wunschbilder der breiteren Schichten des sozialen Feldes als Wahlbürger der klerikalen Herrschaft im Sinne ihrer eigenen „Verhandlungsmasse“ zu mobilisieren. So haben sie inzwischen nach Enttäuschung der Wahlbürger, die vier Jahrzehnte lang nur zwischen „schlecht“ und „schlechter“ zu wählen hatten, ihre mobilisierbare soziale Basis weitgehend verloren. Dies vor allem, nach dem sie sich weigerten, die massiven Protestdemonstrationen der letzten Zeit zu unterstützen und sie als fremdgesteuert diffamierten. Sie wissen auch, dass die gegenwärtige allgemeine Krise durch das Missmanagement der klerikalen Herrschaft entstanden ist, die als Staat im Sinne von Herstellung und Betrieb allgemeiner Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft unübersehbar versagt hat. Die vor allem zunehmende Wirtschaftskrise und die zunehmende Massenverarmung von mehr und mehr Schichten, die durch die Sanktionen verschärft wurden, riefen jene vorher nicht dagewesene Protestbewegungen der Menschen hervor, die ihrer eigenen Meinung nach, die „Reformisten“ gleichwie die "Orthodoxen" politisch schon überwunden haben. 

 

Damit haben auch die „Reformisten“ nicht nur konjunkturell versagt, sondern auch strukturell, weil sie keine Chance haben, systemimmanent zum Abbau der bestehenden sieben Hauptspannungsachsen der Staatsgesellschaft beizutragen. Diese Spannungen bestehen hierin:

  1. zwischen den Regierenden und Regierten, die mit der bestehenden klerikalen Herrschaft nicht aufzuheben sind,
  2. zwischen den Eigentümern der Produktions- und Distributionsmittel und der Lohn- und Gehaltsabhängigen, sowie
  3. Geschlechtsspezifische Spannungen,
  4. Generationenspezifische Spannungen,
  5. Konfessionelle Spannungen
  6. Ethnische Spannungen, und nicht zuletzt,
  7. Außenpolitische Spannungen 

Zu 1: zur Überwindung dieser Spannungen müssten sie vor allem zur Demokratisierung der Staatsgesellschaft mit beitragen, die mit der Überwindung der klerikalen Herrschaft die Etablierung eines Rechtstaates zum Ziel haben sollte. Sie müssten vor allem den institutionellen Antagonismus zwischen republikanischen und theokratischen Komponenten der „Islamischen Republik“ zugunsten der ersteren aufheben. Zudem müssten sie mit der Kasernierung der Gewalttätigkeit zur Verrechtlichung aller sozialen Beziehungen und der damit zusammenhängenden Konfliktaustragung beitragen. Die Aufhebung der Scharia als Bezugsrahmen jeglicher Beziehungsgestaltung und Konfliktaustragung, wäre die unabdingbare Bedingung einer demokratischen Lösung aller sonstigen sozialen Spannungen und Konflikte. Dazu sind sie aber nicht in der Lage, wenn sie ihre religiös definierte Selbst-Integrität bewahren wollen. 

 

Zu 2: Zur Abbau dieser Spannung müsste zunächst die „ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitals als die dominante Form der Kapitalakkumulation überwunden werden, die mit außerökonomischer Gewalt einhergeht. Dazu müssten alle rechtswidrigen nach-revolutionären Enteignungen als islamisch definierte „Kriegsbeute“ und deren Konzentration und Zentralisation in den Händen der Kerngruppe der Macht rückgängig gemacht werden. Allen voran müssten die von dem „Führer“ kontrollierten milliardenschweren Wirtschaftskonglomerate samt der von der „Revolutionsgarde“ und „religiösen Stiftungen“ monopolisierten Wirtschaftseinheiten, die sogar von Steuerabgaben befreit sind, usw. vergesellschaftet werden. Hinzu kommt noch eine Beendigung der „Privatisierung“ der Staatsbetriebe, die zu Eigentumsverhältnissen führte, die ohne Nepotismus und loyalitätsbasierte Seilschaften als eine Form außerökonomischer Gewalt keine Chance gehabt hätten.

 

Zu 3: Zur Aufhebung der geschlechtsspezifischen Spannungen müssten sie der, als islamisch definierten und sanktionierten, Männerherrschaft eine Absage erteilen. 

 

Zu 4: Zur Aufhebung der generationsspezifischen Spannungen müssten sie nicht nur die Jugendkultur respektieren; auch dem kriminell verletzten Generationsvertrag entgegenwirken. Sie haben der jüngeren und den kommenden Generationen eine „verbrannte“ Erde, ausgeraubte Fonds für Grundlagen-Investitionen, marode Infrastruktur, sowie Pleiten und leere Kassen der Rentner beschert.

 

Zu 5: mit der Zentralisierung der Verwaltung und Verschärfung der regionalen Disparität der Entwicklung sowie Unterdrückung jeglicher regionalen Autonomiebestrebung haben sie nicht nur zur regionalen Ent-Demokratisierung beigetragen. Sie haben, im Namen der Verteidigung der „territorialen Integrität“, der nationalen Einheit der Iraner großen Schaden zugefügt. Sie müssten mit der Einführung des Föderalismus auf Grundlage des Subsidiaritätsprinzips dies wieder gut machen. 

 

Zu 6: Mit dem Versuch der Gleichschaltung und konfessionellen Diskriminierung haben sie nicht nur die Religions- und Gewissensfreiheit aufgehoben, sondern eine konfessionell begründete Etablierten-Außenseiter-Beziehung der Staatsbürger geschaffen und institutionell zementiert. Sie ist eine nicht minder brutale und inhumane Apartheid als die südafrikanische, aufgrund rassistischer Selbstwertbeziehungen, deren Aufhebung nur durch die Überwindung des Islamismus möglich ist. 

 

Zu 7: Mit der Verteidigung der aggressiven außenpolitischen Orientierung der „Islamischen Republik“ sowie Ihrer extraterritorialen Interventionen als „notwendigen Erweiterung der strategischen Tiefe der Selbstverteidigung“ haben die „Reformisten“ nicht minder zu einer nicht unergründbaren regionalen Iran-Phobie beigetragen. 

 

Mit solch einer heimischen loyalen Opposition kann sich jedes sanktionierte Regime glücklich fühlen. Denn anstatt die soziopolitische Genese der internationalen Krise des Regimes anzuerkennen und daraus entsprechende politische Konsequenzen zu ziehen, fühlt sie sich zu mehr Loyalität verpflichtet, in der gemeinsamen Abwehr der als imperialistisch empfundenen US-Bedrohung. Auch sie lehnen eine Verhandlung aus einer Position der Schwäche ab. Eine militärische Bedrohung schließt daher sogar die Reihen der Islamisten enger, verleiht dem Regime eine Legitimation mit seinen permanenten Hinweisen auf die allgegenwärtige feindliche Bedrohung, die eine innenpolitische Verfolgung der Opposition und zivilgesellschaftlicher Organisationen noch mehr verschärfen kann. 

 

Hinzu kommt die durch die jahrelangen Sanktionen entstandene neue Schicht der „Kriegsgewinnler“, die jede Normalisierung der Außenbeziehungen mit allen Mitteln torpedieren, weil sie ohne sie gar nicht existieren würden. Sie sind die Träger der vom „Führer“ verkündeten „Widerstands-Ökonomie“, die nicht anderes ist als ein systematischer Schwarzhandel auf dem Weltmarkt als existentielle Grundlage eines „Rentierstaates“, der nur von der Vermarktung des Erdöls leben kann. Sie konkurrieren miteinander sogar um die Regierungspositionen mit der Betonnung ihrer besseren Qualifikation für die Umgehung der Sanktionen.  Die Transformation der Theokratie in eine Kleptokratie ist die Folge dieser neuen „Wirtschaftsweise“, die als „Islamisch“ in die Geschichte eingehen wird.

 

Aus diesem Grunde verfehlen die „Sanktionen“ ihren Sinn, beinträchtigen aber die schutzlose Bevölkerung als Opfer der Destruktivität der Ideale der herrschenden Islamisten im Iran, deren Lebenssinn anscheinend die weltweite Expansion des schiitischen „Reich Gottes“ ist. Destruktiv ist ihr Ideal, weil sie mangels anderer Machtquellen, sich nur auf physische Gewalt stützen müssen. Deswegen wären nur jene, Kollateralschaden vermeidenden gezielten Sanktionen in solchen Staaten Ziel führend, die die tatsächlichen Verantwortlichen anpeilen. Nur die Erhöhung der individuellen Kosten ihres selbstwertrelevanten „Messianismus“ könnte sie möglicherweise von ihren außenpolitischen Abenteuern abhalten. Längerfristig und effektiv wären diese Maßnahmen allerdings, wenn sie begleitet werden von einer weltweiten Unterstützung der demokratischen Opposition, die eine rechtsstaatliche Organisation der Gesellschaft anstrebt.

 

Hannover, 21.06.2019

 

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