In diesem Beitrag möchte ich die Notwendigkeit der Dezentralisierung der staatlichen Organisation im Sinne des Föderalismus nach dem Subsidiaritätsprinzip als einen unverzichtbaren Aspekt der
Demokratisierung Irans diskutieren. Mit der Dezentralisierung und Demokratisierung der Entscheidungs- und Zwangsbefugnisse soll zugleich nicht nur die Effektivität der staatlichen Organisation
gefördert werden, sondern auch die nationale Solidarität der Iraner. Die Förderung dieses Zusammengehörigkeitsgefühls hilft, bei Anerkennung ihrer ethnischen Vielfalt als kulturellem
Reichtum des Landes, die gegenwärtige Tendenz zur Ethniesierung sozialer Konflikte zu überwinden. So soll eine stabilere Balance zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften hergestellt
werden, die bis jetzt als erlebte Furcht- und Wunschbilder der involvierten Menschen, einer Überwindung der territorialen Disparität der Entwicklung im Wege gestanden haben.
Was bedeutet Föderalismus nach dem Subsidiaritätsprinzip?
In der Regel wird Demokratisierung gleichgesetzt mit einem der Aspekte ihrer institutionellen Formen. Sie wird reduziert auf die Institutionalisierung des Parlamentarismus einer
Parteiendemokratie, die mit der Gewaltenteilung die Volkssouveränität garantieren soll. Mit dieser Reduktion werden nicht nur die funktionalen und sozial-habituellen bzw. personalen Aspekte ihrer
Entstehung und Erhaltung vernachlässigt, die ich in anderen Beiträgen öfters diskutiert habe. Auch die Relevanz des territorialen Aspekts einer institutionellen Demokratisierung wird nicht
angemessen gewürdigt. Der Berücksichtigung dieses Aspekts der Demokratisierung kommt vor allem in den multiethnischen Staatsgesellschaften besondere Bedeutung zu, die in Europa durch die
föderative Organisation des Staates nach dem Subsidiaritätsprinzip ihre mehr oder weniger stabile Lösungsform gefunden hat. Denn der Föderalismus ist einer der unverzichtbaren
Demokratisierungsaspekte der Vergesellschaftung der modernisierten Staatsgesellschaften, die durch die Zersetzung und Auflösung der früheren Integrationseinheiten wie Stämme und dörflichen
Gemeinschaften im Zuge der Modernisierungsprozesse entstanden sind. Als ein komplementärer Prozess der Verstaatlichung der nomadisch geprägten Gesellschaft, verläuft die Vergesellschaftung der
zentralisierten Staatsgesellschaft durch seine föderative Reorganisierung im Laufe der Demokratisierungsprozesse. Dabei wird mit dem Subsidiaritätsprinzip einer Ethnisierung der Problemlösung
sozialer Konflikte einer Absage erteilt, die bei der territorialen Demokratisierung des Staates die Menschen eher als Kollektivmitglieder begreift, als einzelne Staatsbürger mit gewisser
ethnischer Herkunft.
Was bedeutet Subsidiaritätsprinzip
Mit der Modernisierung der Gesellschaft geht eine soziale Differenzierung einher, die vor allem mit der zunehmenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die zuvor vorherrschenden Formen der
sozialen Integration der Menschen wie Stämme und dörfliche Gemeinschaften auflöst. Diese zunehmend mit der Urbanisierung der Lebenszusammenhänge der Menschen einhergehende Desintegration früherer
Integrationseinheiten bedeutet aber lange nicht ihre emotionale Entbindung davon. Sie bestimmen weiterhin ihre Wir-Identität, deren Balance zu ihrer Ich-Identität zugunsten der ersteren neigt,
solange sie noch nicht demokratisch als gleichberechtigte und gleichwertige Staatsbürger integriert werden. Dies verhindert die mehrstufige soziale Integration der entwurzelten Menschen und
verschärft die Ethnisierung sozialer Konflikte, die sich aus der unübersehbaren territorialen Disparität der Entwicklung ergibt. Als eine Begleiterscheinung der Verstaatlichung der Gesellschaft
und Nachhinkeffekt der emotionalen Integration ehemaliger Untertanen mit verschiedener ethnischer Herkunft, wird diese regionale Vernachlässigung der Entwicklung aber als ihre ethnische
Diskriminierung erfahren. Durch die Personifizierung der sie vernachlässigende Zentralmacht als „Perser“, erscheint ihnen selbst eine unterdrückte Gruppe als ihr etablierter Unterdrücker. Diese
personifizierte Wahrnehmung der von der Zentralmacht marginalisierte Gruppe verschärft die Ethnisierung ihres demokratischen Kampfes für die föderative Autonomie der ethnisch geprägten Regionen.
Dabei verwechseln sie ihre wahren Peiniger.
Der undemokratische und extrem zentralisierte Staat bekämpft jeglichen Protest gegen territoriale Disparität der Entwicklung und jede regionale relative Autonomiebestrebung im Sinne einer
demokratischen Integration der Staatsbürger als Separatismus. Dies verstärkt die Ethnisierung sozialer Konflikte, die mit deren Eskalation die Gefahr territorialer Zerfallsprozesse enorm
erhöhen wird. Ein Problem, das durch eine Dezentralisierung des Staats nach dem Subsidiaritätsprinzip produktiv und effektiv gelöst werden kann. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass Aufgaben
möglichst von den kleinsten zuständigen Einheiten in einer mehrstufigen Integrationseinheit der Staatsgesellschaft übernommen werden sollen. Übergeordnete Einheiten sollen nur dann eingreifen,
wenn die unteren Einheiten es nicht können. Demnach bieten übergeordnete Einheiten nur Unterstützungsleistungen, die jedoch oft von den Zentralregierenden als ein emotional unerträglicher
Funktionsverlust erlebt und bekämpft werden.
Deswegen setzt eine solche demokratische Reorganisierung des Staates die Einsicht in die Notwendigkeit der Dezentralisierung der Herstellung und den Betrieb allgemeiner Reproduktionsbedingungen
der Gesellschaft voraus. Demnach darf eine höhere staatliche oder gesellschaftliche Einheit erst dann helfend eingreifen und Funktionen an sich ziehen, wenn die Ressourcen der untergeordneten
Einheiten nicht ausreichen, diese Funktionen wahrzunehmen. Diese Dezentralisierung nach dem Subsidiaritätsprinzip vollzöge sich also durch eine Delegation der staatlichen Aufgaben nach unten, so
dass sie soweit wie möglich von der unteren Ebene bzw. kleineren Einheit wahrgenommen werden.
Dieses Prinzip beschränkt sich deshalb nicht nur auf die staatliche Verwaltung, wie sie in den vor- und nachrevolutionären Verfassungen vorgesehen und zentralgesteuert mehr schlecht als recht
umgesetzt wurde. Es umfasst alle für die Herstellung und des Betriebes der allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft notwendigen Funktionen, wie „Daseinsvorsorge“, Rechtsprechung auf
ihrem Instanzenweg und im Bereich des Sozialrechts, das Almosen ersetzen soll. Auch Bildung und Ausbildung gehören zur föderativen Kulturhoheit der unteren Gliedereinheiten eines territorial
demokratisierten Staates. All dies dient, im Sinne der Solidarität aus freiheitlicher Perspektive, dem sozialen, territorialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt der Menschen als Staatsbürger in
einem normativ modernisierten Nationalstaat. Dies unterscheidet sich grundsätzlich von der traditionellen territorialstaatlichen Integration ethnischer Gruppierungen, in deren jeweils autonom
regierten regionalen Einheiten ethnische Außenseiter unter unvermeidlichen Assimilationsdruck geraten. Um jede Angleichung einer gesellschaftlichen Gruppe an eine ethnisch dominante Gruppe unter
Aufgabe eigener Kulturgüter zu vermeiden, müssen Staatsbürger eher als Rechtsgenossen subsidiär föderativ organisiert werden – und nicht als ethnische Genossen.
Hannover, 07.07.2019