Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Warum Rollenerwartungen gefährlicher sind als Rollenträger

Der Weg ist das Ziel“      

 

Geschichte ist weder eine „Geschichte der Könige“ noch eine „Geschichte der Klassenkämpfe“. Die Geschichte ist im Sinne einer fortlaufenden Entwicklung nur dann „die Geschichte der Klassenkämpfe“, wenn Konflikte durch Kooperationsbereitschaft der involvierten Menschen produktiv überwunden werden können. Deshalb ist nicht nur die Konfliktbreitschaft, sondern auch die Kooperationsbereitschaft eine unabdingbare Bedingung der Möglichkeit jeder historischer Entwicklung. Den „geschichtslosen Völkern“, die nicht zu einer Nationalstaatsbildung fähig waren, fehlte kein „König“ sondern die angemessene Kooperationsbereitschaft. Die neuere iranische Geschichte scheint auch unter mangelnder Kooperationsbereitschaft demokratischer Oppositioneller zu leiden, die nach dem Wunsch mancher durch einen „König“ ersetzt werden soll. Diese neue iransche Geschichte wurde bis jetzt zur Geschichte von Eliminierung und Exklusion. Um dies zu vermeiden, sollte die Kooperationsbereitschaft der konkurrierenden oppositionellen Gruppierungen kultiviert werden.

 

Kooperationsbereitschaft ist eine der Grundqualifikationen des gelungenen Rollenhandelns der Konfliktbeteiligten, wenn der Teufelskreis gegenseitiger Ausschließung ein produktives Ende finden soll. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass Macht genauso ein Strukturmerkmal menschlicher Beziehungen ist, wie die mit ihr einhergehenden Machtkämpfe. Denn Menschen sind, sobald sie geboren sind, permanent aufeinander angewiesen und voneinander abhängig. Die Mittel der Befriedigung ihrer vielfältigen Bedürfnisse sind die Quellen der Macht. Die Machtchancen sind daher vielfältig. Sie reichen von der Liebe der Mutter bis zu anderen Mitteln zur existentiellen Sicherheit und zum Wohlbefinden von Menschen. Begreift man die Macht als die Chance, das Verhalten anderer Menschen als Einzelne oder Gruppen gegen ihren Willen zu bestimmen, ergibt sich die Machtüberlegenheit aus der Bilanz ihrer gegenseitigen Abhängigkeiten. Die Bilanz der gegenseitigen Abhängigkeiten bestimmt die Machtbilanz sowie die Richtung und Richtungabeständigkeit der Machtkämpfe, die zu einer mehr oder weniger stabilen Machtbalance führen muss. Eine Demokratisierung zwischenmenschlicher Beziehungen bedeutet die Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Machtschwächeren. Diese Machtverschiebung entsteht durch die Verschiebung funktionaler und emotionaler Abhängigkeitsverhältnisse, die nicht unbedingt mit gleichzeitiger Transformation der Existenz sicherenden Verhaltens- und Erlebensmuster einhergehen muss. Dazu gehört eine Kooperationsbereitschaft, um die Existenz der Konfliktparteien in ihrer gegenseitigen Angewiesenheit und Abhängigkeit zu sichern. Denn auch als Feinde sind sie funktional und emotional feindselig aneinander gebundene Menschen. Die Einsicht in diese Notwendigkeit ist Freiheit im Sinne der Wahrnehmung der bestehenden Handlungs- und Entscheidungsspielräume zur Gestaltung angemessener Maßnahmen zur existentiellen Sicherheit und zum Wohlbefinden. Die mangelnde Einsicht in diese Notwendigkeit erschwert gegenwärtig die integrative Einigung und Vereinigung der demokratischen Opposition Irans zur demokratischen Überwindung der klerikalen Herrschaft im Iran. Zumal sie an naturwüchsige soziale Einheiten gewöhnt sind. Kein Wunder, wenn der Ruf nach einem neuen „Retter in Not“ wieder aufkommt.

 

In einer Gesellschaft, in welcher der Spruch vorherrscht – „wenn Partnerschaft gut wäre, hätte auch Gott einen Partner“ – muss wohl freiwillige Vereinigung und Partnerschaft schwer fallen. Zumal man über Jahrhunderte an naturwüchsige tribale Einheiten, dörfliche Einheiten oder Großfamilien gewöhnt ist. Diese sind soziale Einheiten, in die man lebenslänglich hinein geboren wird. Eine Modernisierung der Gesellschaften geht einher mit sozialer Differenzierung und Zersetzung dieser tradierten Einheiten. Die sozial entbundenen Menschen müssen in der Lage sein, ihre emotionale Nabelschnur zu trennen und individuell neue Bindung einzugehen lernen. Dies bedeutet neue, vielfältigere und flexiblere Rollenverhalten und Rollenerwartungen lernen.

 

Gemäß des Spruchs, „jedes Aufgeben einer Gewohnheit verursacht Krankheit“, scheint die iranische Gesellschaft im Allgemeinen und die politische Gesellschaft im Besonderen an ein Entwöhnungsproblem zu leiden. Diese sozialen Gewohnheiten sind jene neuronal tief verankerten Verhaltens- und Erlebensmuster, die über Jahrhunderte kultiviert bzw. sozial vererbt werden. Als Sozialer Habitus prägen sie das individuelle Verhalten und Erleben einzelner Menschen. Als normative Struktur der Gesellschaft der Individuen werden sie in Form von Rollenverhalten und Rollenerwartungen von einer Generation zur nächsten weiter gegeben. In dieser Weitergabe in Sozialisierungsprozessen werden sie genauso wie die Muttersprache individuell aneignet. Denn die Sprache ist auch ein sozialer Habitus. Man lernt auch eine Sprache sprechen, hat aber einen eigenen mehr oder weniger individuellen Sprachstil. Der Grad der Individualisierung des sozialen Habitus ist entscheidend für die Richtung und Richtungsbestimmtheit der Transformation der sozialen Entwicklung und ihrer Geschwindigkeit. Denn soziale Prozesse sind vielschichtig und im Unterschied zu den Naturprozessen reversibel. (Kein Mensch verwandelt sich zu einem Affen, selbst wenn er sich affig verhält). Die Demokratisierungsprozesse implizieren funktionale, institutionelle und habituelle Prozesse. Sie sind außerdem nicht immer gleichzeitig und gleichgerichtet.

 

Hier möchte ich die gegenwärtigen Integrationsprobleme der Opposition als Nachhinkeffekt der Demokratisierung ihres sozialen Habitus diskutieren, die sich u.a. in nachhinkender Entwicklung von sich entwickelnden staatsbürgerlichen Rollenverhalten und Rollenerwartungen manifestiert. Zum demokratischen Rollenverhalten gehören die Fähigkeiten zur Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz und Identitätsdarstellung1. Denn in Demokratisierungsprozessen ist keine Institution aussichtsreich, in dem fixe Rollenverhalten und Rollenerwartungen automatisch erfüllt werden müssen, wie gegenwärtig in der „Islamischen Republik“.

 

Grundqualifikationen für demokratische Rollenhandeln und Rollenerwartungen

 

Diese Grundqualifikationen für demokratische Rollenhandeln und Rollenerwartungen sind angesichts zunehmender sozialer Differenzierung der Gesellschaft die unabdingbaren Kompetenzen zur angemessenen demokratischen Beziehungsgestaltung.

 

Dazu gehört Empathie als eine unabdingbare Voraussetzung demokratischer Beziehungsgestaltung, weil sie eine Perspektivübernahme ermöglicht. Sie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, sich mental und emotional in andere hineinversetzen zu können. Nur so ist man in der Lage Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale anderer Menschen zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Die Perspektivübernahme wird desto dringender je differenzierter die sozialen Beziehungen bzw. je geringer die Machtdifferentiale damit werden. Je geringer die Machtdifferentiale desto schwieriger wird, das Verhalten anderer Menschen gegen ihren eigenen Willen zu bestimmen. Damit verschiebt sich die Balance zwischen Fremd- und Selbstbestimmung zugunsten der Selbstbestimmung im Sinne der Erweiterung der Entscheidungs- und Handlungsspielräume – also der Freiheit. Diese zunehmende individuelle Freiheit der Beziehungsgestaltung erfordert größere Fähigkeit der Perspektivübernahme und Vorwegnahme von Verhalten und Verhaltenserwartungen interdependenter Menschen.

 

Grundlage der Empathie ist die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion. Je offener eine Person für die eigenen Emotionen ist, desto besser kann sie auch die Gefühle anderer deuten. Um Egozentrismus überwinden zu können, ist eine angemessene Selbstdistanzierungsfähigkeit von Nöten. Ohne diese Fähigkeit, von sich selbst Abstand zu nehmen und sich selbst gegenübertreten zu können, ist Einfühlung und Perspektivübernahme schwer möglich.

 

Das Einfühlungsvermögen wird aber zunehmend wichtiger, wenn soziale Transformationsprozesse mit massiver Verschiebung der Machtbalance und selbstwertrelevanten sozialen Auf- und Abstiegsprozessen einhergehen. Diese Verschiebung der Machbalancen zugunsten der Machtschwächeren wird in der Regel als eine Veränderung der selbstwertrelevanten Rollenerwartungen und Rollenverhalten und der damit zusammenhängenden Verschiebung der Selbstwertbeziehungen erfahren. Eine erfolgreiche institutionelle Transformation der Rollenerwartungen und Rollenverhalten bedarf daher der Veränderung des Schemas des Selbstwertes der involvierten Menschen. Nur mit dem Wandel dieser kognitiven Struktur, in die Erfahrungen eingeordnet werden, ist ihre institutionelle Transformation möglich. Denn ohne emotionale Besetzung der neuen Zutaten des Selbstwerts, worauf man in den Beziehungen stolz sein kann, ist keine normative Transformation der Gesellschaft, d.h. der Rollenerwartungen und Rollenverhalten möglich. Diese Transformation ist unabdingbar, weil das Selbstbild, wie man sich selbst wahrnimmt, sich am Selbstideal, also daran misst wie jemand gerne sein möchte. Das Selbstbild und Idealbild werden demnach im Selbstkonzept zusammengefasst, das sich unter dem Einfluss von Reziprozität und Verinnerlichung der Urteile interdependenter Menschen bildet, jedoch relativ stabil bleibt.

 

Zu dieser Reziprozität des sozialen Urteilsvermögens gehört die unabdingbare Entwicklung der Kompetenzen der „Rollenübernahme“ und „Rollengestaltung“ als Aspekte der komplementären Sozialisierungs- und Individualisierungsprozesse.

 

Im Sozialisationsprozess werden die Rollenerwartungen der Gesellschaft als Fremdzwänge mehr oder weniger flexibel verinnerlicht. Mit der Rollenübernahme lernt man, den sozialen Anforderungen gerecht zu werden. Diese Anforderungen bestehen in gegenseitigen Ansprüche, Bedürfnisse und Wüsche der interdependenten Menschen, die Figurationen in verschiedenen Formen miteinander bilden wie z.B. Familien, Freundschaften, Kameradschaften, Herrschafts- und Regierungsformen usw. Sie repräsentieren „Rollensets“ der Menschen, die sich aus ihren verschiedenen funktionalen und emotionalen Bindungen ergeben. Mit der Verinnerlichung dieser Fremdzwänge als Selbstzwänge entwickelt sich eine soziale Identität z. B. als „Frau“ und „Man“ oder „Wirtschaftsbürger“, „Staatsbürger“, „Weltbürger“, „Bildungsbürger“ usw., die bestimmten Anforderungen gerecht werden sollen.

 

Die individuelle Gestaltung der übernommenen Rollen ist aber anhängig von den bestehenden Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, die sich aus der Machtbalance der Rollenträger z.B. der Geschlechterrollen ergeben. Diese Machtbalance bestimmt die Balance zwischen Sozialisierungs- und Individualisierungsprozessen der normativen Struktur der Gesellschaft, die sich in den Möglichkeiten der Rollenerwartung und Rollengestaltung manifestiert. Sie zeigen sich in der Balance zwischen Formalisierung und Informalisierung sozialer Normen. Je größer die Machtdifferenziale, desto stärker neigt diese Balance zugunsten der Formalisierung der Rollenerwartungen und Rollenverhalten wie in den vormodernen Gesellschaften. Deswegen erscheinen sie als ob natürlich oder Gott gegeben sind. Je geringer die Machtdifferenziale, desto größer die Chance der individuellen Rollengestaltung und desto größer die Balance zugunsten der Informalisierung der Rollenerwartungen und Rollenverhalten. Sie besteht in der Chance der mehr oder weniger gelungenen Vermittlung zwischen sozialer und individueller Identität der Menschen im Sinne ihrer demokratischeren rollengerechten Beziehungsgestaltung bei gleichzeitiger Vervielfältigung ihrer funktionalen Rollen und Veränderung ihrer emotionalen Bindungen, ihrer Valenzfigurationen. In diesem Sinne sind Menschen „Ensembles ihrer gesellschaftlichen Beziehungen“.

 

Mit der „Rollenübernahme“ wird zugleich die Fähigkeit entwickelt, sich in andere hinein zu versetzen und ihre Erwartungen zu antizipieren. Mit der „Rollengestaltung“ wird die Kompetenz zur Gestaltung eigener Interpretationen von einzunehmenden Rollen entwickelt. Diese sind aber ohne „Rollendistanz“ unmöglich.

 

Die Rollendistanz ist eine selbstreflexive Fähigkeit zur emotional distanzierten Betrachtung von Rollen und den an sie gestellten Erwartungen. Sie befähigt, soziale Normen oder Rollenerwartungen angemessen wahrzunehmen, sie zu interpretieren und mit ihnen reflektierend so umzugehen, dass die eigenen Bedürfnisse mehr oder weniger befriedigend in Beziehungen eingebracht werden können. Nur so ist man in der Lage, in einem ambivalenten, kritischen oder skeptischen Verhältnis der eingenommenen Rolle reflektierend gegenüber treten zu können. Dies setzt eine gewisse Ambiguitätstoleranz voraus.

 

Die Ambiguitätstoleranz ist eine Fähigkeit, Ambivalenzen wahrzunehmen und auszuhalten. Als eine Unsicherheits- oder Ungewissheitstoleranz ist sie die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen. Ambiguitätstolerante Personen sind in der Lage, Widersprüchlichkeiten, mehrdeutig kommunizierte Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren. Sie erschwert soziale Exklusion und Diskriminierungen, und schafft die Voraussetzung der Identitätsdarstellungen.

 

Eine Identitätsdarstellung ist eine Fähigkeit, die eigene Identität bzw. die Rollengestaltung, hinreichend selbstbewusst nach außen ausleben zu können. Dazu sind gewisse Freiräume zur persönlichen Ausgestaltung von Rollen in den Sozialisationsprozessen unabdingbar. Denn diese Alltagskompetenzen müssen bereits im Kindesalter gefördert und soziale toleriert werden.

 

Entstehung der „Islamischen Republik“ als Nachhinkeffekt der unabdingbaren Kompetenzen zur angemessenen Beziehungsgestaltung

 

Die nachhinkende Entwicklung dieser Grundqualifikationen hat mit zunehmender sozialer Differenzierung nicht nur zur vorherrschenden Identitätskrise der Mehrheit der involvierten Menschen geführt, sondern auch zur Islamisierung der Revolution und Etablierung der „Islamischen Republik“ im Sinne der institutionellen Entdemokratisierung der Gesellschaft. Sie erschwerte zudem, mit der Etablierung der „Scharia“ als ewig gültig sanktionierter sozialer Normen, die nachrevolutionären Demokratisierungsbemühungen der überlebenden zersplitterten und schwach organisierten Opposition. Die postrevolutionäre blutige „Säuberung“ jeglicher Opposition und die Unterdrückung der Entwicklung dieser Grundqualifikationen für demokratisch gelungenes Rollenhandeln der Staatsbürger hinterließ eine Opposition, die selbst durch mangelnde Kooperationsbereitschaft gekennzeichnet ist. Diese manifestiert sich vor allem in ihrer geringen Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, der Fähigkeit, sich in anderen Menschen als Einzelne und Gruppen hineinzuversetzen und die Welt aus deren Blickwinkel zu betrachten. Diese führt zu einem Teufelskreis der gegenseitigen Missverständnisse und rückbezüglich gefühlten Bedrohung, die zur Verschiebung der Balance zwischen ihre Konflikts- und Kooperationsbereitschaft zur Gunsten der ersteren führt. Dieser Teufelskreis der zuweilen feindseligen Konkurrenzhaltung reproduziert ihre relativ geringe Fähigkeit zur Empathie und Verträglichkeit.

 

In einer Gesellschaft, in der Kompromisslosigkeit (Ussulgerai) als Tugend und Verträglichkeit (Sazegari) und Kompromissbereitschaft (Sazeshkari) als Schande gilt, verhalten sich nicht nur die etablierten Islamisten eher egozentrisch, misstrauisch und antagonistisch gegenüber Absichten anderer Menschen als Einzelne und Gruppen. Dank ihrer niedrigen Verträglichkeitswerte, scheinen auch die oppositionellen Gruppen sich eher feindselig wettbewerbsorientiert als kooperativ zu verhalten. Dank dieser mangelnden Kooperationsbereitschaft verfügen sie über keinen angemessenen Organisationsgrad, der für die effektive Führung der sich zunehmend in Massenprotesten manifestierenden Opposition der Bevölkerung notwendig wäre. Daher scheint die Führungslosigkeit der zunehmend in kürzeren Abständen stattfindenden massenhaften Protestbewegungen auf ein Nachhinken des sozialen Habitus der Führung beanspruchenden Organisationsansätze hinzuweisen.

 

Die sich daraus ergebenden und immer lauter werdenden verzweifelten Rufe nach einem charismatischen „Retter in Not“ erinnert an ähnlich massenhafte Charakterzüge einer sozialen Erhebung, die zur „Islamischen Revolution“ unter Führung Khomeinis führte. Auch damals gab es keine demokratischen Organisationen, die zur Führung der Massenerhebungen in der Lage gewesen wären. Diesmal soll der „Prinz“ bzw. „der als Schah Geborene“ („Schahzadeh“) diese Rolle spielen. Dabei versucht man die Gefahr der Reproduktion des Autoritarismus mit dem Hinweis auf seinen demokratischen Charakter herunter zu spielen. Man vergisst dabei, dass nicht nur der demokratische „Wille zur Macht“ des „Retters der Stunde“ zu fürchten ist, der zur Reproduktion autoritärer Herrschaftsformen führen kann; sondern auch die projizierten Erwartungen der ihnen folgenden verzweifelten Massenindividuen, die ihnen das Charisma verleihen. Diese projizierten charismatischen Eigenschaften funktionieren genauso wie bei einem „Talisman“, dem zauberkräftige, Glück bringende Eigenschaften zugeschrieben werden; oder erinnern an religiösen Fetischismus oder an den Fetischcharakter sexuell erregender Objekte, die sich verselbständigen und verhaltenssteuernd wirken.

 

Um sich nicht zu wundern, warum die Geschichte sich zuweilen so tragisch-komisch wiederholen kann, nachdem die Machtübernahme der so harmlosen „Führer“ vollzogen ist, wäre die Einsicht in die Funktionsweise des Fetischismus hilfreich. Denn ähnlich wie ein unbelebter Gegenstand, der „Fetisch“, als Stimulus der sexuellen Erregung und Befriedigung dient, wirkt ein harmloser „Führer“, mit dem sich die Massenindividuen identifizieren. Er ist als Objekt affektiver Bindung identitätsstiftend für seine Massenbasis, über den sie sich miteinander identifizieren. Er muss aber deren projizierten Erwartungen gerecht werden, wenn er ihr „Führer“ bleiben will. So verselbständigt sich seine charismatische Herrschaft, die mit der Zeit eine Veralltäglichung erfährt. Ähnlich wirkt die Verehrung bestimmter Gegenstände im Glauben an ihre übernatürlichen Eigenschaften. Man erwartet von ihnen die Erfüllung ihrer Hoffnungen. Die Wahlfahrtsorte der Schiiten leben von diesem projizierten Charisma der verstorbenen Imame. Man kann aber auch charismatische Führer mit Göttern auf Erden vergleichen, wie verschieden auch die Gottesbilder sein mögen. So wie Götter, die, obwohl ein Geschöpf menschlicher Phantasie, ihren menschlichen Schöpfer beherrschen, verselbständigt sich der charismatische Führer als Herrscher ihnen gegenüber – solange er als Führer nicht versagt.

 

Die Erinnerung an die Entstehung der „Islamischen Republik“ könnte eventuell exemplarisch eher lehrreich sein, wenn man nicht unbelehrbar ist. Dabei möchte ich ausdrücklich betonen, dass ich Reza Pahlavi keineswegs mit Khomeini vergleichen möchte, sondern die an ihn gerichteten Rollenerwartungen. Als Beispiel erinnere ich an die Frage einer iranischen TV Journalistin von „Iran International“ nach seinem „Wirtschaftsprogramm“ in einer Fragenstunde, obwohl immer wieder auf Großbritannien als Vorbild einer künftigen konstitutionellen Monarchie hingewiesen wird. Dabei vergisst sogar die Journalistin, dass niemand die „Queen“ nach ihrer Wirtschaftspolitik fragt. Man erwartet von ihr nur, die Politik der gewählten Regierung im Parlament zu verkünden.

 

Auch die scheinbar spontane Glorifizierung von Rezaschah, als Vorbild der künftigen Regentschaft bei Demonstrationen im Iran ist nicht minder furchterregend für Demokraten. Vor allem, weil die Royalisten so stolz auf Leistungen von Pahalvis sind. Deswegen bezeichnen sie alle Opponenten des Schah-Regimes als „schwarze und rote Rektion“, die sich sogar für die Entstehung der Revolution entschuldigen müssen. Sie begreifen nicht, dass die islamisierte Revolution die unbeabsichtigte Folge der von ihnen gepriesenen „weißen Revolution“ ist.

 

Daher wären kurze Hinweise auf die Sozio- und Psychogenese der „Islamischen Revolution“ und die Erinnerung an den Stellenwert der Rollenerwartungen sinnvoll.

 

Stellenwert der Rollenerwartungen bei der Entstehung der „Islamischen Republik“

 

Die „islamische Revolution“ entstand als eine chiliastisch geprägte nativistische Massenbewegung, die verschiedenen ideologischen Formen hätte annehmen können. Sowohl die Aufbruchsbereitschaft der Massen zur Herstellung paradiesischer Glückszustände auf Erden (Chiliasmus) als auch ihre demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werte (Nativismus) in Gestalt des „Islam“ sind Funktion der Identitätskrise der Mehrheit ihrer dominanten sozialen Träger1. Diese Krise ergab sich aus den herrschaftsstabilisierenden und wachstumsorientierten Modernisierungsmaßnahmen, die sich aus den südostasiatischen Erfahrungen der USA sowie der zunehmenden „West-Integration“ Irans nach dem zweiten Weltkrieg dem Schah nahegelegt wurden. Die Islamisierung der Revolution und des Alltagslebens ist daher nur eine der konservativen Formen der Befriedigung der Bedürfnisse der involvierten Menschen nach Überwindung ihrer Identitätskrise. Diese Form wurde im Sinne der Errichtung eines antikommunistischen Bollwerks – nach der „Guadeloupe Konferenz“ – durch westliche Mächte praktisch unterstützt. Ohne diese Unterstützung und der Flucht des Schahs wären andere Verläufe möglich gewesen. Denn der ganze Staatsapparat war Jahrzehnte lang auf seine persönliche Autorität ausgerichtet. Ohne ihn, als obersten Befehlshaber, gab es keinen Halt für den gesamten Staatsapparat, der in seiner Abwesenheit zusammen brach. Außerdem existierten keine säkulardemokratisch organisierten Oppositionellen, die dieses Vakuum hätten effektiv füllen können. Wenn man deswegen die blutige Unterdrückung dieser Oppositionen nach dem CIA-Putsch (1953) zu Recht dafür verantwortlich macht, erntet man Hohn von unbelehrbaren Royalisten. Diese „stolzen“ Royalisten begreifen immer noch nicht die tragische Reichweite dieser blutigen Unterdrückung, wenn sie meinen, man trauere um sie wie die Schiiten um Husseins „Martyrium“ in „Kerbela“. Unfähig zur Selbstreflexion, sind sie immer noch nicht in der Lage Verantwortung für die unbeabsichtigten Folgen ihrer eigenen Handlungen zu übernehmen.

 

Der Khomeinismus konnte, dank der geduldeten weit verbreiteten religiösen Netzwerke, dieses Vakuum ausfüllen. Der so dominant gewordene Islamismus durfte konkurrenzlos die Hervorhebung des verletzten Selbstwertgefühls der zuvor von den Etablierten verächtlich als altmodisch („Ommol“) stigmatisierten und marginalisierten Menschen repräsentieren. Mit ihrer Orientierungskrise als Folge der Modernisierungsmaßnahmen akzeptierten sie massenhaft die Führung Khomeinis als ihrem charismatischen Führer, der sie sogar als ewig unmündig begriff und sie als solche zu führen berechtigt glaubte. Ohne die verächtliche Stigmatisierung und Marginalisierung der orientierungslos gewordenen Menschen, die nicht „modern“ genug erschienen bzw. ein eher religiös geprägtes Leben führten, wäre die etablierte Hierokratie kaum möglich gewesen. Ihnen wurde durch Khomeini nicht nur soziale und ökonomische Wohlfahrt, sondern auch und vor allem Menschenwürde versprochen. Die Islamisierung der Revolution ist deshalb die Reaktion jener Massenindividuen, die sich durch gemeinsame Identifizierung mit Khomeini als ihrem „charismatischen Führer“ die Massenbasis der klerikalen Herrschaft bildeten, um sich gegen ihre Marginalisierung und Arroganz der Macht der Etablierten zu wehren. Die erfahrene Überheblichkeit der Etablierten manifestierte sich in ihrer Geringschätzung der Menschen, die sich in einem Modernisierungsprozess anscheinend normwidrig verhielten bzw. Rollenerwartungen nicht erfüllten. So demonstrierten die vermeintlich modernisierten Etablierten ihre Selbstwertbeziehungen gemäß der Logik der Emotionen, wonach die Größe der Macht als Größe des Selbstwerts erlebt wird. Mit ihrer Definitionsmacht betonten sie mit ihrem Lebensstil demonstrativ ihre selbstwertrelevante Machtüberlegenheit gegenüber dieser als unwürdig und verachtenswert erlebten „rückständigen“ Menschen. Sie ließen diese Logik der Emotionen durch Hervorhebung ihrer Selbstwertbeziehungen alltäglich schmerzlich spüren: je größer die Macht, desto bedeutsamer die sie repräsentierenden Zutaten des Selbstwertes. Mit der demonstrativen Hervorhebung ihrer Distinktionsmittel verschärften sie die Identitätsdiffusion der mehr oder weniger traditionell verhafteten machtschwächeren Menschen, die der herrschenden Rollenerwartungen nicht gerecht werden konnten. Diese Identitätsdiffusion kam in allen Beziehungen zum Ausdruck; vor allem in geschlechtsspezifischen Rollenverhalten und Rollenerwartungen, die bereits mit der gewaltsamen Entschleierung seit Reza-Schahs Herrschaft ansetzte. Kein Wunder, dass die postrevolutionäre gewaltsame Verschleierung folgte, und die Islamisierung des Alltagslebens der Frauen zum identitätsstiftenden Markenzeichen der klerikalen Herrschaft wurde.

 

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Dies ergab sich aus den historisch dominant gewordenen Entwicklungsalternativen nach der Niederlage der demokratischen Opposition nach der „konstitutionellen Revolution“. Der Islamismus und Nationalismus wurden zu alternativen selbstwertrelevanten anti-kolonialen Abwehrstrategien sozialer Träger der „konstitutionellen Revolution“. Beide waren Abwehrmechanismen der kolonial induzierten Minderwertigkeitsgefühle, die verstärkt wurden als Russland und Großbritannien durch die Aufteilung des Landes in ihre Einflusszonen, die Souveränität des Landes quasi aufhoben. Der Putsch von Reza Khan (Feb. 1921) führte zur hegemonialen Führung der „National-Modernisten“ in diesem Abwehrkampf.

 

Während die Islamisten die koloniale Einflussnahme regressiv durch die Etablierung der Scharia als normativer Struktur der Gesellschaft anstrebten, sahen die „National-Modernisten“ den alternativen Abwehrmechanismus in der „Identifikation mit dem Aggressor“. Dabei wurde wie bei jedem gewaltsamen Übergriff bzw. einer psychischen Grenzüberschreitung die Verantwortung für die quasi koloniale Unterwerfung sich selbst und der eigenen Rückständigkeit zugeschrieben, die überwunden werden musste. So wurde die nationalstaatliche Integrität und Souveränität durch Modernisierung der Staatsgesellschaft zu ihrem Grundwert. Alles andere waren nur Mittel zum Zweck. Die technokratisch-bürokratische Modernisierung nach westlichen Vorbildern wurde zu ihrer Abwehrstrategie. Sie dienten der Abwehr ihrer unerträglicher Angst- und Hilflosigkeitsgefühle und einer symbolischen Rückerlangung von Kontrolle. So wehrten sie ihre Angst vor Bedrohungen von außen ab durch das Übernehmen äußerer Einflüsse wie Verhalten, Anschauungen, Normen und Werte kolonialer Mächte in ihr Selbstkonzept, so dass sie diese nicht mehr als Bedrohungen von außen erleben mussten. Auf die Errungenschaften dieser Strategie als Vermächtnis Reza-Schahs sind die Royalisten heute noch sehr stolz. Sie schreiben deswegen die moderne Geschichte Irans als Geschichte von „Reza-Schah dem Großen“, als ob er nicht mal einen Koch dabei hätte. Man unterschlägt gern die Bedeutung der germanophilen intellektuellen Kreise, deren Konzepte er quasi umsetzte.

 

Unter dem ideologischen Einfluss der „National-Modernisten“, begann Reza-Schah eine Verschiebung der Selbstwertbeziehungen, ohne dass sie zur gesellschaftlichen Veränderung des Schemas des Selbstwerts der Mehrheit werden konnten. Die Zutaten des Selbstwertes wurden also nicht zum Inhalt des impliziten Gedächtnisses der Mehrheit der Menschen. Sonst hätten sie als ihr Instinktersatz ihnen ermöglicht, sich in den sich verändernden sozialen Verhältnissen problemlos zurechtzufinden und sinnvoll zu verhalten.

 

Mit der Veränderung der herrschenden Ingredienzen des Selbstwertes, z.B. in Gestalt des zwangsweise eingeführten westlichen Outfits, betonten die etablierten National-Modernisten mit ihrem Alltagsverhalten demonstrativ, worauf man stolz sein darf. Die sich daraus ergebende Erfahrung der Verachtung, Entwürdigung und Entwertung der später als „schwarzen Reaktion“ stigmatisierten Außenseiter, führte nicht nur zu alltäglichem Stress, Wut, Zorn und Aggressionen, die nicht ausgelebt werden duften. Sie führte auch zu einer massiv zunehmenden Abwehr der herrschenden Rollenerwartungen als „Verwestlichung“. Damit entstand in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jh. der islamische Revivalismus als eine chiliastisch geprägte nativistische Bewegung. Als demonstrative Hervorhebung ihrer als eigen definierten Werte, betonte diese Bewegung eine „islamisch“ geprägte Identität der Marginalisierten in einer zunehmend formell bzw. funktional modernisierten Gesellschaft.

 

Was ist Identität als ein erinnertes Wandlungskontinuum?

 

Diese Identität im Sinne der „Kontinuität des Selbsterlebens“ und des Bedürfnisses nach Verschiebung der Selbstwertbeziehungen entstand als Folge der allgemeinen Identitätskrise, vor allem weil die Selbstverständlichkeit der Selbsterfahrung einer Mehrheit der städtischen Bevölkerung durch die Überforderungen der Modernisierungsprozesse gestört wurde. In solchen Krisenzeiten wird in der Regel die Selbsterfahrung der Menschen als ein erinnertes Wandlungskontinuum fraglich. Sie sind nicht mehr in der Lage, das eigene Leben als ein zusammenhängendes Ganzes zu gestalten und die eigenen Verhaltensweisen als sinnvoll zusammenhängend zu erfahren. Daraus ergeben sich Identitätsdiffusion und Fragen danach, was und wer man ist? Was unterscheidet mich von anderen Menschen und andere Lebewesen? Wozu bin ich eigentlich in dieser Welt. Somit geht die Identitätskrise mit einer Sinnkrise einher.

 

Solche Identitätskrisen entstehen also in der Regel mit den Brüchen in der Kontinuität der Lebenszusammenhänge, die im Iran massenhaft einhergingen mit der als „weiße Revolution“ gepriesenen wachstumsorientierten Modernisierung1. Sie führte vor allem zur Zersetzung der über fünfzigtausend sozialen Integrationseinheiten in ländlichen Gebieten und massiver Migration und Entwurzelung der bäuerlichen Bevölkerung. Diese bildeten die Massenbasis der zunehmend sozial entfunktionalisierten Geistlichkeit, die in den Modernisierungsprozessen vor allem durch die modern ausgebildeten Lehrer und Juristen institutionell ersetzt wurden. Ihre Symbiose wurde vor allem durch die herrschaftsstabilisierende Unterdrückung aller möglichen sozialen Einrichtungen gefördert, die sie hätten auffangen und staatsbürgerlich sozialisieren können. Einen besonderen Stellenwert hätte das  unterdrückte zivilgesellschaftliche Engagement vor allem bei der Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts spielen können. Es hätte geholfen die, in der sozial zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft, geforderten Fähigkeiten zur Kompromissbereitschaft und zu einem zivilen Umgang der Menschen herauszubilden.

 

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Auch die zunehmende funktionale Differenzierung der Gesellschaft im Zuge der importsubstituierenden Industrialisierung der Produktion und Distribution ersetzte die traditionellen Gewerbe und den Bazar. Damit einhergehende Verlängerung der Abhängigkeitsketten durch wachsende Arbeitsteilung verschob auch im Allgemeinen die Machtbalance zwischen der Machstärkeren und Machtschwächeren zugunsten der Letzteren. So auch die Machtbalance zwischen Unternehmern und Arbeitern, ohne sie reell unter Normen abstrakter Arbeit zu subsumieren. Ohne Verinnerlichung der Normen abstrakter Arbeit hängt die Transformation der Rollenerwartungen und Rollenverhalten der Tagelöhner und Unternehmer als Aspekte des sozialen Habitus der „Wirtschaftsbürger“ hinter der funktionalen Transformation der Gesellschaft hinterher. Auch in diesen Bereichen hätten die unterdrückten unabhängigen Berufsverbände und Gewerkschaften als Interessenvertreter und Ordnungsfaktoren ebenso erhebliche Sozialisationsfunktionen der „Wirtschaftsbürger“ als Vertragsparteien übernehmen können. Stattdessen wurde durch die Bildung der „gelben Gewerkschaften“ als bloßer Ordnungsfaktoren und Gewinnbeteiligung der Arbeiter als Teilaspekt der herrschaftsstabilisierenden „Revolution vom Schah und Volk“ eine Art Paternalismus gefördert. Ihre Enttäuschung als Folge der massiven ökonomischen Krisensituation vor dem Ausbruch der Revolution konnte deswegen leicht zur Legitimationskrise der „Alleinherrschaft“ führen; zumal sie sich für die Wohlfahrt der „Wirtschaftsbürger“ dank der enormen Erdöleinahmen als Alleinverantwortlicher hatte feiern lassen – als ob der „Kapitän“ für die ozeanischen Wellen der Wirtschaftsentwicklung verantwortlich wäre. So kann sich eine schwere konjunkturelle Krise leicht in eine strukturelle Krise verwandeln und zur Revolution führen.

 

Nur durch die Chance der reellen Interessenvertretung der Berufsverbände und Gewerkschaften hätten sie ihre Ordnungsfunktionen ausüben können, weil sie nicht nur friedliche Konfliktlösungen institutionalisiert hätten. Sie hätten auch die Beteiligten als verhandlungs- und kooperationsbereite Vertragspartner sozialisiert, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sind.

 

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Mit der allgemeinen Schulbildung und den massiven Alphabetisierungsmaßnahmen wurde die Schulbildung zwar modernisiert aber die Bildung auf bloße Alphabetisierung und Fachausbildung im Allgemeinen reduziert; die moderne soziale Kompetenzbildung der Kinder und Jugendlichen wurde jedoch massiv vernachlässigt. Dies führte zur Verschiebung der Machtbalance zwischen den Generationen, die über keine angemessene soziale Kompetenzen zur angemessenen Beziehungsgestaltung verfügten. Generationenkonflikte waren die Folge, die mit der Überforderung der älteren Generationen den Wunsch nach der Wiederherstellung der alten Ordnung und der damit einhergehenden generationsspezifischen Verhaltenserwartungen als Aspekte der Selbstwertbeziehungen Vorschub leisteten.

 

Ohne entsprechende soziale Kompetenzen zur demokratischen Beziehungsgestaltungen konnte die sich daraus ergebende Rollenerwartungen nicht nur zur Verschärfung der Generationenkonflikte führen, sondern auch zur „kognitiven Dissonanz“ der Jugendlichen. Letztere führt zu unangenehm empfundene Gefühlszustände, weil eigenes Verhalten und Einstellung als widersprüchlich empfunden werden. Die Rückbesinnung auf die „fixen“ Rollenverhalten und Rollenerwartungen wurde eine der Lösungsstrategien für die empfundenen Spannungen und Konflikte mancher Jugendliche. Die Ersetzung Farahs durch Fatima als Vorbild ist ein Ausdruck solcher Lösungsstrategien. Die Ersetzung des Schahs durch Khomeini eine andere.

 

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Mit der Familienrechtsreform wurden Frauenrechte verstärkt und die soziale Mobilität der Frauen gefördert, ohne die Voraussetzungen einer balancierten Ich-Identität der Männer und Frauen durch die Transformation der normativen Struktur der Geschlechterbeziehung empathisch zu fördern. Mit den rechtlich sanktionierten Veränderung von geschlechtsspezifischen Rollenverhalten und Rollenerwartungen entstanden somit jene Spannungen und Konflikte, die ohne Zugang zu entsprechenden sozialen Kompetenzen zur geschlechtsspezifischen Beziehungsgestaltung zu massiven Identitätsdiffusion der Beteiligten und in die gewaltsame „Islamisierung“ der Geschlechterbeziehungen mündeten. Die nachrevolutionäre Wiederherstellung der Männerherrschaft wurde sogar von so vielen Frauen getragen, deren Rollenverhalten und Rollenerwartungen der veränderten funktionalen Transformation der Geschlechterbeziehungen weit hinterher hinkte. Auch sie konnten das modernisierte Ich-Ideal der Frauen nicht akzeptieren, weil sie nur mit ihrenverinnerlichten Rollenverhalten und Rollenerwartungen keine Selbstkonsistenz erleben konnten.

 

Ohne die institutionelle Förderung der sozialen Kompetenzen zur demokratisch entsprechenden Beziehungsgestaltung und der friedlichen Beilegung der geschlechtsspezifischen Konflikte, hat die Verinnerlichung der rechtlich sanktionierten Fremdzwänge als Selbstzwänge keine Chance. Die Folge ist eine unerträgliche Selbstinkonsistenz der Beteiligten, die zu den auto- und heterodestruktiven Verhalten wie gewaltsamer „Islamisierung“ des Alltagslebens führen kann. Die nach der Revolution geforderte und durch die Sittenwächter durchzusetzenden „Wahrung des äußeren islamischen Scheins“ in der Öffentlichkeit ist ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung der geschlechtsspezifischen Rollenverhalten und Rollenerwartungen. Sie hätte in verschiedenen Sozialisationsinstanzen gefördert werden müssen.

 

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Eine andere unbeabsichtigte Folge dieser Art Modernisierung in Gestalt der zunehmenden Zentralisierung des Staates ist die regionale Disparität der Entwicklung. Sie gefährdete, mit der Missachtung der ethnischen kulturellen Entwicklung im Iran, die nationale Integration Irans, statt sie zu fördern. Vor allem erschwerte die Vernachlässigung der Förderung ethnischer Sprachen die Verschiebung der Balance zwischen Ich-Wir-Identität zu Gunsten der Ich-Identität der sich als gleichberechtigt und gleichwertig fühlenden Staatsbürger und somit die Erweiterung der Reichweite der Identifizierung, der sich ethnisch diskriminiert fühlenden Menschen mit anderen Menschen jenseits ihrer Gruppenzugehörigkeit.

 

Die verschärfte Ethnisierung der postrevolutionären sozialen Konflikte ist ein Aspekt des ethnisch dominant gewordenen Selbstbildes der Menschen, die nicht nur durch regionale Disparität der Entwicklung sozial-ökonomisch benachteiligt wurden. Auch ihre sprachliche Benachteiligung erlebten sie durch die Dominanz der persischen Sprache als Herrschaft der „Perser“, die andere Ethnien kulturell unterdrückt hätten.

 

Dieses Gefühl verstärken die Royal-Nationalisten immer noch durch die besondere Hervorhebung der persischen Sprache als wertvollste Bildungssprache der Iraner, die durch Dichter wie Ferdowsi die iranische Identität vor Invasoren geschützt hätten. Diese Sprach-Chauvinisten vergessen, dass immer noch die Mehrheit der Iraner Analphabeten sind und nie Gedichte lesen konnten. Außerdem kann eine Bildungssprache nicht allgemein zugänglich sein. Deshalb dürfte das Überleben der persischen Sprache nicht auf die bloße Leistung der Gelehrten und Dichter zurückführbar sein. Selbst eine passive Rezeption der rezitierten Gedichte Ferdowsis, des „Retters der persischen Sprache und Identität“, setzt das Allgemeinverständnis der persischen Sprache als Kommunikationsmittel der Iraner voraus. Eine selbstwertrelevante ethnische Vereinnahmung der persischen Sprache durch Royal-Nationalisten leistete daher der ethnischen Fehlinterpretation der persischen Sprache als Sprache der ethnisch dominierenden Perser Vorschub. Die Fehlinterpretation gefährdet die nationale Integration der Iraner, wozu eine gemeinsame affektiv besetzte Sprache als gemeinsames Kommunikationsmittel der Iraner unabdingbar ist.

 

Die persische Sprache ist seit Jahrhunderten eine Amtssprache der Iraner, weil keine staatliche Organisation ohne Kommunikation möglich wäre. Deswegen brauchte Iran wie jede andere staatliche Organisation eine gemeinsame Sprache als Kommunikations-, Orientierungs- und Kontrollmittel. Für Jahrhunderte blieb Iran ein weites Reich, das nur durch eine ausgedehnte effektive Verwaltung die allgemeinen Reproduktionsbedingungen der territorialstaatlich organisierten Gesellschaft herstellen konnte. Dazu gehörte vor allem die Herstellung und der Betrieb der landesweiten Bewässerungsanlagen. Die persische Sprache überlebte als eine Verwaltungssprache des Reiches, selbst wenn es von fremden kriegerischen Stämmen erobert wurde. Auch sie waren auf diese Verwaltung angewiesen. So erhielt sich die persische Sprache über Jahrhunderte als Verwaltungssprache und wurde zur Sprache des Hofes. Mit der „orientalische Despotie“ wurde diese Hof- und Verwaltungssprache im Laufe der Jahrhunderte kultiviert. In diesem Sinne ist die herrschende Kultur, Kultur der Herrschenden. Die Dominanz der persischen Sprache hat gar nicht mit der Dominanz der „Perser“ als einer dominanten Ethnie im Iran zu tun, worauf die Royal-Nationalisten als Sprache von „Schanameh“ (Königsbuch oder Buch der Könige) so stolz sein durften. Die Hervorhebung dieses Heldenepos, das sich mit der Geschichte Persiens vor der islamischen Eroberung im siebten Jahrhundert befasst, als Grund des Stellenwerts der persischen Sprache mag für die Royal-Modernisten identitätsstiftend sein. Sie schadet der nationalstaatlichen Identität der ethnisch vielfältigen Iraner. Zumal sie einhergeht mit bewusster Vernachlässigung und Minderbewertung der vielfältigen Sprachen im Iran. Diese Art der Begründung der Etablierung der persischen Sprache als Integrationsmittel Irans bzw. der nationalen Einheit aller Iraner hat sogar die Nationalstaatsbildung gehemmt, statt sie zu fördern. Diese autoritäre Zentralisierung des Staates erschwerte zudem die symbolisch vermittelte Einheit aller Iraner als gleichwertiger und gleichberechtigter Staatsbürger, deren symbolisch vermittelte emotionale Bindung als eine Nation eine förderungsbedürftige soziale Kompetenz der demokratisch verfassten Staatsgesellschaft ist. Je stärker die förderungswürdige symbolisch vermittelte Bindung der Iraner zu einer nationalstaatlichen Einheit als einer Schutz- und Verteidigungseinheit, desto geringer der Bedarf nach persönlich vermittelter Einheit über Identifizierung mit einem charismatischen Führer.

 

Was außerdem vernachlässigt wurde, ist die Förderung religiöser Toleranz. Zwar wurde mit den eingeführten Reformen die konfessionelle Gleichstellung der Iraner formalrechtlich sichergestellt, die zu den massiven Protesten unter der Führung Khomeinis und dessen Deportation aus dem Iran führte. Aber die praktisch fortgesetzte staatliche Bevorzugung der schiitischen Geistlichkeit aus herrschaftsstabilisierenden Gründen fütterte weiterhin die Konfessionalisierung der sozialen Konflikte. Dies manifestierte u.a. die ungestrafte konfessionelle Diskriminierung der Andersgläubigen, vor allem der Bahais. Mit der Duldung der „Islamisten“ als „antikommunistischem Bollwerk“ wurde die Förderung konfessioneller Toleranz vernachlässigt, ja gar untergraben, obwohl die Nicht-Muslime in vielen Bereichen die Hauptträger der Modernisierung waren. Folglich verstärkten sich eher sektiererische Orientierungen, statt der Erweiterung der Reichweite der Identifizierung der Menschen miteinander jenseits ihrer konfessionellen Zugehörigkeit. Dieses Sektierertum erschwert immer noch vehement die gemeinsame Verteidigung der Gesinnungsfreiheit der konfessionellen Gruppierungen, die durch die „Islamische Republik“ systematische diskriminiert und verfolgt werden. Sie sind immer noch kaum in der Lage die Freiheit der Andersgläubigen zu verteidigen. Ihr Schwerpunkt liegt vornehmlich bei der eigenen Gruppenselbstverteidigung. Dank dieser mangelnden konfessionellen Kooperationsbereitschaft ist die klerikale Herrschaft in der Lage, sie als eigene Konkurrenten erfolgreich zu diskriminieren und zu unterdrücken.

 

Nicht zuletzt gingen die sozialen Transformationsprozesse und die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft mit massiven politischen Restriktionen einher, statt durch institutionelle Demokratisierung der politischen Entscheidungsbildung und politischen Partizipationsmöglichkeiten die Entstehung der selbst- und rechtsbewussten Staatsbürger zu fördern. So wurde mit der „Zivilgesellschaft“ die Entstehung der autonomen Berufsverbände, Gewerkschaften und politischen Parteien als Interessenvertreter und Ordnungsfaktoren unterdrückt, die auch die notwendige Entwicklung der sozialen Kompetenzen der zu Staatsbürger werdenden ehemaligen Untertanen hätten fördern können. Damit wurde auch die Chance der Modernisierung der normativen Struktur der Gesellschaft, der Rollenerwartungen und Rollenverhalten im Sinne einer dynamischen Verschiebung der Ich- und Wir-Balance zugunsten der modernen Ich-Identität der mehr oder weniger gleichberechtigten und gleichwertigen Staatsbürger vertan. Übrig blieben mehr oder weniger traditionell verhaftete und autoritätsfixierte Massenindividuen in einer sich massiv funktional modernisierenden Gesellschaft, die mit ihrer Überforderung nostalgischen Wunschbildern und charismatisch gekürten Führer nacheiferten. Sie konstituierten die Massenbasis von Khomeini, in dem sie sich über ihn als Ersatz ihres eigenen Ich-Ideals miteinander identifizierten. Die klerikale Anmaßung, diese Menschen zu ihrem eigenen Wohl zu bevormunden und zu lenken, setzt die Akzeptanz von Khomeinis propagiertem Menschenbild durch ihre Massenbasis voraus, der mit der „ewigen Unmündigkeit“ der Menschen die Notwendigkeit der Hierokratie legitimierte.

 

Diese paternalistische und autoritätsfixierte Orientierung der Massen ist nicht nur Ausdruck der Jahrhunderte langen „orientalischen Despotie“, sondern auch der erlebten „aufgeklärten Diktatur“ nach der „konstitutionellen Revolution“. In einer autoritär geprägten Gesellschaft der Menschen, in der ein Dreieck von „Gott-Schah-Vaterland“ – mit dem Schah an der Spitze des Dreiecks – als Grundwerte verherrlicht wurde und alles als Ausdruck des „Kaiserlichen Willens“ propagiert wurde, entsteht keine allgemein vorherrschende demokratische Ordnung als Wunschbild der, von der „weißen Revolution“ bzw. der „Revolution von Schah und Volk“, enttäuschten Massen; sondern ein nostalgisch ausgerichteter traditioneller Paternalismus: eine Herrschaftsordnung, deren Autorität und Legitimation sich auf eine göttlich legitimierte vormundschaftliche Beziehung zwischen Regierenden und Regierten basiert.

 

Die von Khomeini propagierte klerikale „Gottesherrschaft“ entsprach den Bedürfnissen der von der „weißen Revolution“ enttäuschten Verlierer und marginalisierten Massen, die keine andere Orientierungsalternativen kannten. Ihr Bedürfnis nach charismatischer Bevormundung ist daher eine unbeabsichtigte Folge der „weißen Revolution“. Als Herrschaft stabilisierende Maßnahmen gedacht, führten sie zur Anomie im Sinne eines gefühlten Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln bzw. normativer Ordnung der Gesellschaft, die wieder hergestellte werden sollte. Mit der hegemonialen Definitionsmacht der Geistlichkeit als der bestorganisierten sozialen Gruppe wurde die erfahrene Anomie als Manifestation der Verletzung religiöser Gesetze interpretiert, die mit der klerikalen Herrschaft wieder hergestellt werden mussten.

 

Von daher ist es ein Ausdruck der Unbelehrbarkeit der „Royalisten“, die stolz auf die Errungenschaften der „weißen Revolution“, die Entstehung der „Islamischen Republik“ simplifizierend auf die „rote und schwarze Reaktion“ – einer Handvoll Kommunisten und Mullahs – zurückführen und nostalgisch die Wiederherstellung der Pahlavi-Herrschaft als Lösung der bestehenden Probleme anstreben. Dabei rekurrieren sie nicht nur auf die Errungenschaften der „Revolution von Schah und Volk“ sondern auch auf die glorifizierte 2500 Jahre Geschichte des Kaiserreichs Irans, die nichts anderes war als die der „orientalischen Despotie“. Eine Herrschaftsform, die durch die „konstitutionelle Revolution“ hätte überwunden werden sollen. Bei dem permanenten Verweis auf die „vergleichsweise erfolgreiche Modernisierungsmaßnahmen“ der „aufgeklärten Diktatur“ Pahlavis im Vergleich zum kläglichen Versagen der „Islamischen Republik“ vergessen sie gern ihre unbeabsichtigten Folgen in Rechnung zustellen.

 

Sie übersehen, dass die zur Revolution und ihre Islamisierung führende krisenhafte Erfahrung der Gesellschaft und das damit einhergehende nostalgische Bedürfnis nach einem neuen „Retter“ ein Nachhinkeffekt der Transformation der normativen Struktur der Gesellschaft und Folge der von ihnen gerühmten Art der Modernisierung ist. Die Modernisierung der Rollenerwartungen und Rollenverhalten hinkte somit hinter der funktionalen bzw. formellrechtlichen Modernisierung der Gesellschaft, die kaum zur Transformation der normativen Struktur der Gesellschaft führen konnte. Mit anderen Worten, entstanden mit der funktionalen und formalrechtlichen Modernisierung der Gesellschaft neue Spannungsachsen, ohne eine angemessene Entwicklung sozialer Kompetenzen zur entsprechenden Beziehungsgestaltung und friedlicher Beilegung der sich verschärfenden Konflikte.

 

Der gegenwärtig erneute Ruf nach einem neuen „Retter in Not“ in Gestalt des „Prinzen“ als „politisches Kapital“ ist nicht nur ein Armutszeugnis autoritätsfixierter Menschen, die sich führen lassen müssen. Er ist auch ein Nachhinkeffekt der demokratischen Grundqualifikationen der demokratischen Opposition. Mit ihrer geringen Kooperationsbereitschaft sind sie nicht in der Lage, ihren Aufgabe gerecht zu werden. Sie hätten sich längst auf gewisse unverzichtbare Grundprinzipien einer demokratischen Grundordnung Irans als gemeinsame Orientierungsmitte einigen und die Führung der massenhaften Protestbewegungen übernehmen müssen, damit kein Bedarf für charismatische Führung virulent wird. Es ist immer noch nicht zu spät dafür.

 

 

Hannover, 08.06.2022

 

3 Vergl. Dawud Gholamasad, Iran – Die Entstehung der Revolution, Hamburg 1985

 

2 Dawud Gholamasad, Iran – Die Entstehung der „Islamischen Revolution“, Hamburg 1985

 

1 Lothar Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart, 1972