Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Warum zivilen Ungehorsam und Widerstand von unten organisieren?

„Mensch, erkenne dich selbst“ 

 

Das berühmteste Orakel der Welt, das Orakel von Delphi, fordert auf: Mensch, erkenne dich selbst. Warum beschäftigt dieser Aufruf zur Selbsterkenntnis so viele Menschen immer noch? Welche Weisheit steckt darin, die vielleicht immer noch gilt? Warum ist es auch heute eine wichtige Voraussetzung des zivilen Ungehorsams und der Bildung demokratischer Kampfformationen, wenn es angemessen verstanden wird.

Man nimmt in der Regel an, dieses Orakel sei wie ein uralter Spiegel, der einem vorgehalten wird. Diese Annahme setzt aber eine „Homo-clausus-Selbsterfahrung“ des Menschen voraus; eines anscheinend ganz  in sich „eingeschlossenen, verschlossenen Menschen“, ohne jegliche Bezüge zu anderen Menschen.  Während gerade die Überwindung dieses Selbstbildes, eines in seinem „Inneren“ von der „Außenwelt“ abgeschlossenen Menschen, die unabdingbare Voraussetzung der Selbsterkenntnis ist. Deswegen heißt es auch: „sag mir, wer dein Freud ist, damit ich sagen kann, wer du bist“.

Als Ausgangspunkt für diese Selbsterkenntnis bedarf man eines Bildes von Menschen im Plural, einer Vielheit von Menschen als relativ offener interdependenter Prozesse. Dafür ist es daher notwendig, sich nicht als scheinbar unabhängige Ichs oder Wir zu sehen, sondern als unaufhebbar interdependente Menschen. Denn: In seiner Wirklichkeit ist das menschliche Wesen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse[1]. Diese Interdependenzen kommen auch in unserer sprachlich vorgegebenen „Fürwörterserie“ wie Ich, Du, Er, Sie, Es, Ihr, Wir zum Ausdruck. Sie verkörpern die unterschiedlichen Beziehungsaspekte bzw. Beziehungsperspektiven interdependenter Menschen; denn man kann ja nicht „Ich“ sagen, ohne sich auf Du, Er, Sie, Es, Ihr zu beziehen. Außerdem kann niemand „Ich“ sagen, ohne seine Wir-Bezüge zu ignorieren. Sobald ich mich z.B. vorstelle, erwähne ich nicht nur meinen Vornamen, sondern auch meinen Nachnamen. Dieser Bezug auf meine Familienzugehörigkeit repräsentiert meine eingeschränkteste Wir-Identität, ohne auf andere meine Wir-Bezüge zu verweisen, wie meine Herkunft, meine berufliche oder konfessionelle u.a. Zugehörigkeiten. Auch sie verweisen auf meine unterschiedlichen Bindungstypen. Der Satz der persönlichen Fürwörter repräsentiert daher den elementaren Koordinatensatz, den man an alle menschlichen Grupperungen, an alle Gesellschaften anlegen kann. (Norbert Elias, Was ist Soziologie, S. 133). Diese Gruppierungen bilden aber unterschiedliche Figurationen, die Menschen miteinander bilden. Sie sind unterschiedliche Formen der Interdependenzen von Menschen als Einzelne und Gruppen, die bestimmte Beziehungstypen interdependenter Menschen mit ihren jeweils spezifischen Machtbalancen repräsentieren. In der „Islamischen Republik“, als einer Herrschaftsform sind z.B. Menschen als „Untertanen Gottes“ und „Gottes Stellvertreter auf Erden“, nämlich die „Geistlichkeit“ gegenseitig abhängig; obwohl die Machtbalancen institutionell und reell scheinbar unüberwindbar die Geistlichkeit begünstigen. Dennoch sind die „Untertanen“ nicht gänzlich machtlos, solange der scheinbar „absolute Herrscher“ zumindest auf seine Legitimation durch Scheinwahlen angewiesen ist. Mit anderen Worten, vollzieht sich seine Herrschaft auch nur durch die Unterwerfungsbereitschaft der Menschen, die sich als „unmündig“ erfahren So bestätigen sie praktisch unbewusst Chomeinis Legitimation der klerikalen Herrschaft durch die scheinbar ewige Unmündigkeit der Menschen.  (Aj. Chomeini, Der islamische Staat). Erst eine Weigerung der Menschen, sich als unmündig zu erfahren und behandeln zu lassen, erschüttert daher die Grundlage der klerikalen Herrschaft. Der zivile Ungehorsam mancher Frauen gegen die  Zwangsverschleierung wird deswegen so hart bestraft,  weil er die Herrschaftslegitimation der Geistlichkeit erschüttert. Als handlungsfähige Menschen verbitten sie sich eine solche Fremdbestimmung. Sie bleiben mit ihrem zivilen Ungehorsam daher solange in der Minderheit, solange die Mehrheit der Frauen nicht ihren eigenen Untertanengeist überwunden hat.  Das ist auch der Grund, warum die weiblichen „Reformisten“ die Relevanz dieses zivilen Ungehorsams nicht begreifen und immer wieder auf ihre noch „dringenderen Frauenprobleme“ hinweisen.  Sie begreifen nicht, dass dieser Widerstand gegen diese Art von Fremdzwängen die Selbstbehauptung dieser Frauen als handlungsfähige Menschen bedeutet; eine Weigerung, sich unmündig behandeln zu lassen. In diesem Missverständnis der „weiblichen Reformisten“  kommen unterschiedliche  Selbsterfahrungen von Menschen zum Ausdruck, die sich in unterschiedlichen politischen Orientierungen manifestieren. Ihre unterschiedlichen Bedürfnisstrukturen gehen also auf ihre unterschiedlichen Selbsterfahrungen als Frauen zurück. Sie manifestieren die Unterschiede ihrer funktionalen und emotionalen Bindungen in den bestehenden Herrschaftsverhältnissen, in ihren unterschiedlichen Valenzfigurationen, die auf ihre je unterschiedlichen Verflechtungsordnungen hinweisen. Sie sind also nicht bloß Frauen, mit anscheinend gemeinsamen Wesensmerkmalen. Die Brutalität der Unterdrückung des zivilen Ungehorsams der Frauen ist ein Aspekt dieser Verflechtungsordnung, die zur weiteren Eskalation dieses Typs von Verflechtung führt. Dazu gehört die unerschütterliche Zivilcourage der eigene Emanzipation anstrebenden Frauen. Diese Selbstbehauptung der couragierten Frauen als autonome Menschen ist der Beginn der menschlichen Umstände, in denen sie und andere als Menschen relativ menschlich, d.h. emanzipierter leben können. Die institutionelle Demokratisierung der Gesellschaft im Sinne der normativen Modernisierung repräsentiert die Transformation des vorherrschenden Untertanengeistes im emanzipierten sozialen Habitus zunehmend autonomer Menschen als (Staats-)Bürger.

Diese Einsicht in die gegenseitigen Abhängigkeiten der Menschen in ihren interdependenten sozialen Positionen ist unverzichtbar für die angemessene Gestaltung demokratischer Kämpfe; geht es doch dabei um die Institutionalisierung zunehmender Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Machtschwächeren in ihren verschiedenen sozialen Positionen. Erst wenn man sich als „Ich“ und „Wir“ in verschiedenen interdependenten Beziehungen mit entsprechender Machtbalance erfährt, erkennt man sich und ist in der Lage, die Bedeutung des zivilen Ungehorsams und die Chancen eines Widerstandes zu begreifen. Erst durch die Einsicht in der Gegenseitigkeit der Abhängigkeiten der Menschen als Einzelne und Gruppen wird man sich der eigenen Machtchancen bewusst - selbst in den machtschwächsten sozialen Positionen. Selbst ein Sklave ist dann nicht vollkommen machtlos, wenn er begreift, wie und warum er die Existenzbedingung des Sklavenhalters ist. Denn die gegenseitig abhängigen Menschen leben immer in spezifischen Figurationen, die sie mit je spezifischem Selbstbewusstsein miteinander bilden, wie in Familien, Verwandtschaften, Dörfern, Stadtteilen, Städten, Staaten, Betrieben, Schulen, Universitäten,  usw. Deswegen repräsentieren alle „-schaften“ solche Figurationen, wie z.B. Freundschaften, Feindschaften, Verwandtschaften, Nachbarschaften, Studentenschaften, Schülerschaften, Genossenschaften, Kameradschaften, Gewerkschaften, Gemeinschaften, Bürgerschaften, Herrschaften und Knechtschaften, usw. . Sie sind spezifische Figurationen von Menschen, die nicht auf ihre beruflichen Bindungen reduzierbar sind. Sie sind institutionalisierte Formen beruflicher sowie unmittelbarer und symbolisch vermittelter emotionaler Bindungen von Menschen mit entsprechenden Machtbalancen, die sich nicht reduzieren lassen auf ihre „Klassenzugehörigkeit“. Sie sind mit spezifischen Machtbalancen ausgestattete Interdependenzformen von Menschen, die ihre unterschiedlichen gegenseitigen Bedürfnisse befriedigen. Dementsprechend haben sie vielfältige Funktionen für einander, jenseits ihrer beruflichen Bindungen. Deswegen setzt die Selbsterkenntnis voraus, dass man von den Beziehungen ausgeht, in die man im Leben verwickelt ist. Denn alle sozialen Positionen, in denen man sich befindet, bedingen sich gegenseitig. Sie konstituieren bestimmte soziale Beziehungen. Diese interdependenten sozialen Beziehungen existieren zwar relativ unabhängig von bestimmten Menschen; aber nie von irgendwelchen Menschen, die gerade diese Positionen besetzen. Z.B. „Mann“ und „Frau“ sind solche sich gegenseitig bedingenden geschlechtsspezifischen Beziehungen, wie „Herrscher“ und „Beherrschter“ in bestimmten Herrschaftsformen. Sie bedingen sich alle gegenseitig in spezifischen Beziehungsformen, d.h. als Figurationen, die Menschen miteinander bilden. Man kann sich daher nur als konstituierender Bestandteil einer Herrschaftsform als untertänig oder als staatsbürgerlich erfahren und entsprechend handeln; sobald man also die jeweilige Herrschaftsform als eine Figuration von interdependenten Menschen akzeptiert, die mit ihrem jeweiligen Selbstbild institutionell je spezifische Machtbalancen repräsentieren.

Will man sich emanzipieren, muss man sich also als Beherrschter angemessen erkennen. Dafür muss man von den Beziehungen ausgehen, in die man verwickelt ist; so kann man von Beziehungen auf Bezogene hin denken. Denn in der Regel geht man nur von dem Herrscher aus, auf den man fixiert alles positiv oder negativ Erfahrene bezieht. Deswegen hofft man durch dessen Ersetzung oder Tod die erwünschte Erlösung, als ob der verhasste Herrscher ohne die leidenden Beherrschten überhaupt existenzfähig gewesen wäre. Daher wird nur von dessen Position und Taten aus alles Erfahrene beklagt; anstatt zu erklären und zu verstehen versuchen, wie und warum der Herrscher sich solange so verhalten durfte. Diese Einsicht ist unmöglich, wenn man sich nur als bloßes Opfer begreift. Dies wäre der Fall, solange man nicht begreift, dass es sich bei jeder Herrschaftsform nicht nur um die Beziehung vom Herrscher (A) zum Beherrschten (B) handelt, sondern auch umgekehrt von B zu A handelt, eine Beziehung, die verstanden werden muss. Zu erklären und verstehen wären also die Sozio- und Psychogenese ihrer Interdependenzen. Diese Einsicht in die eigene Motivlage als unabdingbare Voraussetzung jeder Herrschaft, sie ist in der Regel den involvierten Menschen schwer zugänglich.

Dabei handelt es sich um  eine je spezifische Verflechtungsordnung und die ihr eigentümliche Zusammenhangsform, mit der es die involvierten Menschen hier zu tun haben. Wie jede Figuration, in die man unentrinnbar verwickelt ist, ist auch jedes Herrschaftsverhältnis ein spezifischer Reproduktionsprozess von gegenseitigen Abhängigkeiten von - mit unterschiedlichen Machtressourcen ausgestatten – Menschen. Denn Macht ist die Struktureigentümlichkeit jeder menschlichen Beziehung im Sinne ihrer gegenseitigen Abhängigkeiten. Was ein Herrschaftsverhältnis auszeichnet, ist die ungleiche Machtbalance zugunsten des Herrschers, wenn man unter Macht die Chance versteht, das Verhalten anderer Menschen auch gegen deren eigenen Willen zu bestimmen. Diese ungleiche Machtbalance entsteht und erhält sich als Herrschaft, mit einer Legitimation der auszuübenden notwendigen Funktionen der Herrscher. Sie geht einher mit einer Zwangsbefugnis derselben. Die Herrschaftsverhältnisse reproduzieren sich also, solange der Beherrschte die Rechtfertigung dieser Fremdbestimmung seines eigenen Verhaltens durch die Machthaber akzeptiert.  Der zivile Ungehorsam oder der Widerstand dagegen beginnt also mit der Legitimationskrise der Herrschaft. Erst wenn die bisherigen Rechtfertigungen der bestehenden Herrschaft nicht mehr nachvollziehbar sind, entsteht die Bedingung der Möglichkeit des zivilen Ungehorsams. Sie entsteht in Gestalt der Weigerung, den normativen Erwartungen genauso nachzukommen, wie man gleichzeitig die eigenen „Erwartung-Erwartungen“ überwindet. Diese Erwartung der Erwartungen andrer sind die als Selbstzwänge verinnerlichten Fremdzwänge. Der zivile Ungehorsam beginnt also dann, wenn man darauf pfeift, was „die anderen“ von einem erwarten. Diese „innere“ Weigerungshaltung manifestiert sich im zivilen Ungehorsam und Widerstand gegen unerträglich gewordene Fremderwartungen. Der unermüdliche zivile Ungehorsam der Frauen seit der „Islamischen Revolution“ repräsentiert ihre Weigerung der Fremdbestimmung und ihren Widerstand gegen ihre Zwangsverschleierung. Er hat allerdings bis jetzt keinen massenhaften Charakter angenommen, weil für die Mehrheit der Frauen andere Bedürfnisse im Vordergrund stehen. Die jüngsten erfolglosen Massendemonstrationen der unteren sozialen Gruppen deuten nicht nur auf diese unterschiedliche Bedürfnishierarchie hin. Sie manifestieren auch die zunehmende bzw. Vermassung der Legitimationskrise der bestehenden Herrschaft im Iran. Damit wurde auch die Hoffnung auf weitere schicksalhafte Massenbewegungen geweckt, die bisweilen anscheinend enttäuschend ausgeblieben sind. Diese Hoffnung trübt allerdings die Einsicht in die möglichen Gefahren der spontanen Massenerhebungen, wie wir auch jüngst in anderen Ländern erfahren mussten. Sie alle sind auch zurückzuführen auf eine massive Legitimationskrise der Herrschaft, ohne zielführend zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass die Rebellionen deswegen aufzuhalten wären.

Zur Notwendigkeit der Basisorganisationen

"Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren." (B. Brecht)

In der Regel versagt die Legitimation der Herrschaft mit dem Versagen der Herrschenden in der Wahrnehmung ihrer Herrschaftsfunktionen, die in der Herstellung und dem Betrieb der allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft der Menschen besteht. Die Rechtfertigung der beanspruchten Machtausübung geht also verloren, wenn die Herrschenden nicht mehr in der Lage sind, die allgemeinen Bedingungen der Befriedigung der Bedürfnisse der unterworfenen Menschen herzustellen und zu betreiben. Dieses Versagen führt in der Regel zu unerträglichen Frustrationen, die sich in der Regel in Massenerhebungen Luft zu verschaffen versuchen, wenn es keine institutionalisierten Möglichkeiten der Überwindung der Herrschaftskrisen gibt.  

Darin liegt allerdings die mögliche nächste Falle neuer ähnlicher Herrschaftsverhältnisse, in die sie als Massenindividuen hinein tappen können. Denn die Masse ist in der Regel diffus, ohne einheitliche Richtung und leicht manipulierbar. Sie ist leicht emotional erfassbar durch die ansteckende Massenpsychologie. Als Massenindividuen identifizieren sie sich in der Regel gegenseitig miteinander über die gemeinsame Identifizierung mit einem „Führer“, dem sie so einen „charismatischen Charakter“ verleihen. Mit solch einer affektiven Bindung werden sie als Massenindividuen unentrinnbar manipulierbar, weil sie mittels ihres „impliziten Gedächtnisses“ kommunizieren. Als ein  „Schema“ ist dieses „implizite Gedächtnis“ ein Hilfsmittel der Menschen, um Informationen, die sie über ihre Sinnesorgane aufnehmen, eine Bedeutung zuzuordnen und entsprechend zu handeln. Als ihr Orientierungswissen ermöglichen sie dem Menschen, sich in jeder Situation schnell und bequem zurechtzufinden und entsprechend „sinnvoll“ zu verhalten. Dieses Orientierungsmittel repräsentieren nicht nur ihre weniger bewussten kognitiven Strukturen, sondern auch zugleich ihr Schema des Selbstwertes, das die Grundlage einer erneuten charismatischen Herrschaft liefern kann. Als ihr sozialer Habitus steuern diese „Schemata“ ihre Wahrnehmung und Informationsverarbeitung und letztlich ihr zielgerichtetes Handeln als Massenindividuen.  Die sich daraus ergebende relativ geringe Fähigkeit zur autonomen Selbststeuerung macht sie so eher geneigt zur Unterwerfung unter autoritäre Führer, die ihre weniger bewussten Triebkräfte ansprechen und zu ihren Zwecken manipulieren können. Um diese Falle zu vermeiden, ist daher eine demokratische Organisation des Widerstandes nach dem Subsidiaritätsprinzip als dessen Basisorganisation notwendig.

Wie entstehen die Basisorganisationen nach dem Subsidiaritätsprinzip

Abgesehen von der Manipulierbarkeit der Massenindividuen, besteht auch eine größere Chance der gewaltsamen Unterdrückung der spontanen Massenerhebungen. Dazu brauchen bloß einige „Agent Provokateure“ die Massen manipulierend zu unüberlegten Handlungen zu treiben, die in der Regel eine gewaltsame Unterdrückung der „Ordnungshüter“ rechtfertigen.  Darauf hat sich die „Islamische Republik“ erfahrungsgemäß umfassend organisatorisch vorbereitet.

Die geplante Unterdrückung jeglicher Erhebung wäre vermeidbar, wenn die Protestierenden, selbst bei aller Unüberschaubarkeit, in ihren jeweils eigenen kleineren Formationen auftreten würden. Dazu könnten z.B. die traditionell geübten und überlieferten Formationsbildungen der schiitischen Trauerfeierlichkeiten als Vorlage dienen. Auch hier schließen sich Formationen der Stadtteilgruppen der Gläubigen in einem „Sternmarsch“ zusammen zu größeren Trauerzügen. So können den Basisorganisationen der Unterdrückung, den paramilitärischen Organisationen des Regimes, entsprechende gewaltlose Basisorganisationen des demokratischen Widerstandes entgegengesetzt werden. Sie können auch als Zellen zivilgesellschaftlicher Organisationen die künftige demokratisch organisierte Staatsgesellschaft vorweg nehmen. So überwindet man nicht nur die Gefährdung der manipulierbaren Massenindividuen. Man vermeidet auch größere Gefahren gewaltsamer Unterdrückung unorganisierter Massen, indem die Menschen sich zuvor in semiautonomen Kampfeinheiten nach dem Subsidiaritätsprinzip organisieren.

Abgesehen von diesen kampftaktischen Überlegungen, dienen die nach dem Subsidiaritätsprinzip organisierten demokratischen Kampfeinheiten zugleich strategischen Zielen der basisdemokratischen Organisation der Gesellschaft. Denn nur so kann „das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung (…) als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ (Marx, Thesen über Feuerbach)

So verhindert eine demokratische Dezentralisierung der Organisation des Widerstandes gegen eine totalitäre Herrschaft die Reduzierung der Kämpfe um die Demokratisierung der Gesellschaft auf bloße Einführung formeller „Institutionen der Demokratie“. Sie führt zugleich zur basisdemokratischen Reorganisierung der Staatsgesellschaft und vermeidet die Verselbstständigung der Parteiendemokratie der Berufspolitiker, die sonst das Volk zertreten anstatt vertreten würden – so wie man es gegenwärtig in der Krise der Parteiendemokratien der entwickelteren Staatsgesellschaften erlebt.

Diese Entwicklungsperspektive  setzt allerdings die Einsicht in die Notwendigkeit der Dezentralisierung des Staates im Sinne der Herstellung und des Betriebes allgemeiner Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft voraus, die man als Vergesellschaftung des Staates begreifen kann. Demnach darf eine höhere staatliche oder gesellschaftliche Einheit erst dann helfend eingreifen und Funktionen an sich ziehen, wenn die Ressourcen der untergeordneten Einheiten nicht ausreichen, um diese Funktionen angemessen wahrzunehmen. Diese Dezentralisierung nach dem Subsidiaritätsprinzip vollzöge sich also durch die weitgehende Übernahme der Aufgaben von unteren Integrationseinheiten, so dass sie soweit wie möglich von den unteren Ebenen bzw. kleineren Einheiten wahrgenommen werden.

In diesem Sinne müssten auch die Organisierung der Herstellung und Betrieb der allgemeinen Bedingungen der demokratischen Kämpfe von unten nach oben aufgebaut werden. Die Demokratisierung der familiäreren, verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen, ländlichen, städtischen sowie betrieblichen Beziehungen steht also ebenfalls auf der Tagesordnung. Ohne die basisdemokratische Transformation dieser Figurationen würde die autoritäre Herrschaft nur oberflächlich überwunden werden, wenn überhaupt.

Vor allem ist die Wiederaneignung der, nach der Revolution islamisierten, Betriebsräte und der Aufbau solcher Räte auf allen Integrationsebenen der Gesellschaft der entscheidende Bestandteil des alltäglichen demokratischen Kampfes, der zugleich die Voraussetzungen des entscheidenden Kampfes schafft. Diese Veralltäglichung des demokratischen Kampfes soll die Teilnahme an den staatlich verordneten selektiv zugelassenen „Wahlverfahren“ der „Islamischen Republik“ ersetzen, die seit vierzig Jahren die bestehenden Herrschaftsverhältnisse legitimieren sollen. Der allgemeine zivile Ungehorsam muss daher mit Wahlboykott beginnen. Dazu bedarf es nicht nur einer schmerzhaft empfundenen Unterdrückung der Selbsterfahrung des zunehmend größeren Teils des Volkes als Staatsbürger, sondern auch der Zivilcourage. Eine aktive Eisatzbereitschaft ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung, ohne die es in der bisherigen Geschichte der Menschheit keine Demokratisierung der Gesellschaft gegeben hätte. Denn „Demokratie“ entsteht nur als Bezugsrahmen der Selbsterfahrung und Objekt der Hingabe von immer mehr Menschen als Einzelne und Gruppen.

Auch eine gewisse Organisation des demokratischen Selbstschutzes, im Sinne der erhöhten und dauerhaften Bereitschaft zum gegenseitigen Schutz der Menschen, auf allen Integrationseben der Gesellschaft gehört unbedingt dazu. Dadurch soll nicht nur die ohnmächtige Passivität gegenüber den alltäglichen und vereinzelten Übergriffen der „Ordnungshüter“ in der Öffentlichkeit überwunden und der alltäglichen Willkürherrschaft aktiv entgegengewirkt werden. So kann auch die soziale Kontrolle der Gesellschaft auf allen Ebenen den Islamisten entzogen werden, die als Sittenwächter gewaltsam „das Gebotene befehlen und das Verbotene untersagen“. Damit wollen sie die Menschen dazu zwingen wenigstens „den islamischen Schein“ zu wahren, und sich wenigsten scheinbar als Untertanen der Geistlichkeit zu unterwerfen. Mit dem öffentlichen Schutz der Bedrängten wird praktisch eine Toleranz geboten und Intoleranz verboten und so die normative Modernisierung der Gesellschaft der mündigen Menschen praktisch durchgesetzt. So können die islamistischen Herausforderungen in Gelegenheiten verwandelt werden, sich der eigenen Mündigkeit stärker bewusst zu werden.

 

 

Hannover, 16.07.2019

 



[1] „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx, Thesen über Feuerbach)