Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Wie sich die Torheit von Regierenden und Regierten gegenseitig bedingen ("It takes two to tango")

 

„In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? [...]
Der junge Alexander eroberte Indien.

Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?"
(Bertolt Brecht)

 

Zur Torheit der Regierten

 

In diesem Beitrag möchte ich darauf eingehen, wie die Torheit der Regierenden und der Regierten sich gegenseitig bedingen und aufzeigen, wie die Reformisten im Iran diese Torheit übersehen. Diese Torheit manifestiert sich nicht nur am Starrsinn, durch den die Reformisten im Iran seit vierzig Jahre glänzen, sondern auch durch das „Mahnschreiben“ (اندرزنامه) einer ihrer bekanntesten Persönlichkeiten1, der eine Haftstrafe verbüßte, an den „Führer“. Dabei bezieht er sich auf das von Barbara Tuchman veröffentlichte Buch: „The march of folly“2, wo sie über historische Beispiele von Torheiten früherer Regierender berichtet, aus denen gelernt werden müsse, wenn man nicht Opfer heutiger Torheiten werden will.

 

Mit dem Hinweis auf das unabwendbare Schicksal unbelehrbarer Herrscher, appelliert Herr Tajzadeh an die Einsicht des „Führers“, aus der Geschichte zu lernen. Herr Tajzadeh übersieht dabei, dass Macht ein Suchtmittel ist, das unkontrollierbar die Existenzgrundlage der Süchtigen und „Co-Abhängiger“ gleichermaßen zerstört. Je mehr sie genossen wird, desto süchtiger wird man, bzw. desto größer wird die Suchttoleranz. Wie jede tief verwurzelte Gewohnheit (Habitus), ist das Aufgeben dieser Machtsucht ungemein schwer. Zumal Herr Tajzadeh anscheinend nicht wahrhaben kann, dass die „Gottessucht“ und der Hegemonialrausch des Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein, nicht zu unterschätzen ist. Gerade diese Suchttendenz jeder Machtchance, d.h. der Chance, das Verhalten anderer Menschen gegen ihren eigenen Willen steuern zu können, macht eine institutionalisierte Kontrolle unabdingbar, wie sie in rechtsstaatlich verfassten Staatsgesellschaften durch Gewaltenteilung zu erreichen versucht wird.

 

Was mich aber angesichts dieser Tatsache dabei wundert, ist die Unbelehrbarkeit der Reformisten selbst - trotz vierzig jähriger Erfahrung des klerikalen Totalitarismus, an dessen Erhaltung sie nicht minder immer noch aktiv beteiligt sind. Die Begrüßung der Ernennung von Raissi – einem Mini-Eichmann - zum „Obersten Richter“ der „Islamischen Republik“ durch eine große Zahl der Reformisten ist ihr jüngster Beitrag dazu. Selbst Herr Tajzadeh drohte vor kurzem, dass die Reformisten nicht an den kommenden Wahlen Teil nehmen würden, wenn sie weiterhin selektiv von den bevorstehenden Wahlen ausgeschlossen werden, da sie bis jetzt, trotz selektiver Zulassung, immer wieder für die Mobilisierung der Hoffnung der Wählerschaft auf eine Änderung gesorgt haben. Sie fordern nicht die Aufhebung der verfassungswidrigen Selektion der Kandidaten überhaupt und eine garantierte, freie Wahl für alle Kandidaten, sondern nur die Aufhebung ihres eigenen selektiven Ausschlusses. Bedeutet dies nicht etwa, dass sie von ihrer eigenen Rolle bei der Entstehung und Stabilisierung des klerikalen Totalitarismus überzeugt sind und nur um ihren „gerechten“ Machtanteil feilschen? Ist dies nicht etwa ein Eingeständnis der unleugbaren Interdependenz der Unbelehrbarkeit der Regierenden und Regierten, wenn Herr Chatami vor dem zu erwartenden Verlust ihrer bisherigen Anhängerschaft warnt, die dem „System“ den Rücken kehren würden, falls nicht etwas passieren würde?

 

Worin liegt der Starrsinn der Reformisten, trotz der Demütigungen, die sie seit Jahren erfahren müssen - abgesehen von ihrer Jahrzehnte langen konkurrenzfreien Machbeteiligung, die anscheinend eine Schicksalsgemeinschaft konstituiert hat? Was darüber hinaus geht, ist anscheinend ihr „Demokratieverständnis“. Chatamis Betonung der „islamischen Demokratie“ und seine vehemente Ablehnung der „westlichen Demokratie“ in seinen veröffentlichten Reden deuten unmissverständlich auf die Gemeinsamkeit seines Demokratieverständnisses mit den so genannten „illiberalen Demokratien“, die wir in manchen Ländern Osteuropas gegenwärtig erleben. Was sie gemeinsam teilen, ist die Ablehnung der „Freiheit des Individuums“ vornehmlich von rechtlich unkontrollierter Staatsgewalt, Willkürherrschaft und Machtmissbrauch sowie die Erweiterung der individuellen Handlungs- und Entscheidungsspielräume der mündigen Staatsbürger im Alltagsleben. Die einen im Namen der Verteidigung „christlicher Werte“ und die Islamischen Reformisten im Namen „islamischer Werte“. Sie teilen einen gefährlichen Nativismus, als demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werte, denen sie mit allen Mitteln Geltung verschaffen wollen. Dazu brauchen sie einen Untertanengeist.

 

Diesen Untertanengeist teilen sie mit dem autoritären Herrschaftsanspruch der unbelehrbaren Monarchisten, die die „nationale Einheit“ bzw. die „territoriale Einheit“ und „nationale Integrität“ Irans nur durch den Monarchen garantiert sehen. Vergessen wird dabei die 2500-jährige Geschichte der Schrumpfung des Persischen Reiches, unter der Herrschaft der „König der Könige“ bis zur heutigen Gestalt territorialstaatlicher Souveränität Irans. Diese Geschichtsblindheit - die im Kontrast zur klerikalen Herrschaft die Modernisierung des Schahregimes besonders hervorhebt - vernachlässigt auch die Tatsache, dass die Entstehung der heutigen klerikalen Herrschaft undenkbar gewesen wäre ohne die „aufgeklärtere“ Herrschaft des letzten „Königs der Könige“ und seine Wachstum orientierte Modernisierung, die einher ging mit sektoraler und regionaler Disparität der Entwicklung sowie der Unterdrückung jeglicher oppositionellen Organisationen und sonstiger nichtstaatlicher Interessenvertretungsorgane3. Gerade die unterdrückten unabhängigen sozialen Organisationen – „die Zivilgesellschaft“ - wären die unabdingbaren Garanten einer stabilen rechtsstaatlich organisierten modernen Staatsgesellschaft gewesen. Denn die bekämpften unabhängigen Interessenvertretungsorgane wären nicht nur bloßer Interessenvertreter; sie wären zugleich die unverzichtbaren „Ordnungsfaktoren“ eines Staates, der sie nicht als „Transformationsriemen“ der etablierten Herrschaft begriffen hätte. Als Vereinigungen der Individuen, im Unterschied zu vormodernen „Vereinen“, wie Stämme und Zünften u.a., - die die soziale Basis des „Königs der Könige“ abgaben -, setzen sie nicht nur die Transformation der Untertanen zum Bürger voraus; sie sind die unabdingbare Garanten der Förderung der mündigen Bürger einer nach Subsidiaritätsprinzip föderativorganisierten Staatsgesellschaft, die sich ihrer eigenen Rechte und Pflichten bewusst sind. Sie würden sich dabei nicht mehr, wie die vorrevolutionären Massenindividuen, mit einander identifizieren über einen Führer, der ihr Ich-Ideale ersetzen würde. Ihre symbolisch vermittelte Wir-Identität, ihre „nationale Integrität“ konstituiert sich dann weniger über einen gekrönten Führer als vielmehr durch die Verankerung ihrer emotionalen Bindungen in gemeinsamen unpersönlichen Symbole der nationalstaatlich organisierten Staatsgesellschaft - ihrer zunehmend sozial differenzierten „Schutz- und Trutz-Einheit“.

 

Zur Notwendigkeit der Transformation der zu „Untertanen“ Degradierten zum mündigen Bürger als habitueller Aspekte der funktionalen und institutionellen Demokratisierung.

 

Die nachrevolutionäre institutionelle Ent-Demokratisierung ist ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Mehrheit der die Revolution tragenden Menschen. Darauf habe ich seitdem verschiedentlich hingewiesen4, weil diese Einsicht weitgehende Konsequenzen für die Demokratisierungsbestrebungen im Iran besitzt. Daraus folgt, dass Demokratisierung kein einmaliger Akt, sondern ein permanenter Lernprozess im Sinne der Zivilisierung5 der involvierten Menschen bedeutet. Dieser Aspekt der Zivilisierung der Menschen als Staatsbürger bedeutet die Entwicklung der „personalen Erfordernisse“ der institutionellen Demokratisierung im Unterschied zur bloßen Etablierung der Institutionen der Demokratie, die seit der „konstitutionellen Revolution“ im Iran versagt haben. Die habituellen Aspekte der Demokratisierung, die ständig gefördert werden müssen, sind die zur „zweiten Natur“, d.h. zu Persönlichkeitsmerkmalen gewordene Bereitschaft der Menschen, zunehmend gleichmäßig Affekt- und Triebkontrolliert, in wechselnden Situationen, also „kontextgerecht“ zunehmend selbstgesteuert eine gewisse Balance zwischen Kooperation und Konflikt wahrend eigene Interessen als Einzelne und Gruppen durchzusetzen versuchen. Dazu gehören: 1. gewisse Bürgertugenden, 2. Rechtsinn und Zivilcourage, 3. Gerechtigkeitsinn und Toleranz, 4. Staatsbürgersinn, 5. Gemeinsinn, 6. Besonnenheit, Gelassenheit, Klugheit.6

 

Mit der Demokratisierung des sozialen Habitus der zunehmend selbstverantwortlichen Bürger, werden die zivilisierten Normen sozialer Konfliktaustragung und die unabdingbare Kooperationsbereitschaft für eine friedliche Koexistenz als ihre „zweite Natur“ verinnerlicht. Durch diese Verinnerlichung der demokratischen Normen als „Fremdzwänge“ zu „Selbstzwänge“ wird die Gewalt als Regulationsprinzip suspendiert, wie sie in jeder zivilisierten „Liberal-Demokratie“ zu beobachten ist. Ohne diese habitualisierten Verhaltens- und Erlebens-Bereitschaften - die keine bloßen Gewohnheiten sind - ist die Demokratisierung der Staatsgesellschaft undenkbar. Damit vollzieht sich eine Transformation der Herrschaft durch Recht in Herrschaft des Rechts.

 

Manche in der „Islamischen Republik“ vergessen, dass Herrschaft – als eine Figuration interdependenter Menschen - die Chance ist, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Max Weber). Man könnte auch sagen, "Es gehören immer zwei dazu". Aber die englische Version dieses Sprichwortes, „es gehören zwei zu Tango“ ("It takes two to tango"), bringt den „Figurations“-Charakter jeder menschlichen Beziehung und so auch der Herrschaftsverhältnisse eher zum Ausdruck. Solche Figurationen sind Formen der unentrinnbaren Interdependenzen der Menschen, die als Funktionszusammenhänge mit gewissen Zwangläufigkeiten einhergehen. Als gewisse „Institutionen“, haben sie nicht nur ihren normativen Strukturen, die keineswegs immer als Fremdzwänge vorgeschrieben sind; diese sind als „sozialer Habitus“ der sie tragenden Menschen „verinnerlicht“ und zu ihrer zweiten Natur gewordenen symbolische Welt. Die erlernten Symbole sind so zu sagen der Instinktersatz für Menschen.7

 

Als fünfte Dimension der menschlichen Existenz sind gelernte gesellschaftliche Symbole, als Kommunikations-, Orientierungs- und Kontroll-Mittel der mit einander Gruppen bildenden Menschen, unmittelbar mit ihren zeiträumlichen Dimensionen verbunden. Diese Art des Zusammenlebens wird daher durch Wissensübertragung von einer Generation zur anderen vollzogen, deren Form sie dabei mehr oder weniger mitbestimmen. Denn eine Sozialisierung vollzieht sich ja in individualisierten Formen. Deswegen sprechen Menschen zwar dieselbe Sprache, haben aber unterschiedliche Sprachstile. Damit soll hervorgehoben werden, dass es zwar Stilunterschiede eines bestimmten Herrschaftstyps, wie Theokratie geben kann, wie man auch Tango mit Variationen tanzen kann. Wenn man sich aber für Tango entschieden hat, unterwirft man sich der den Tango bestimmenden Regeln. Beim überlieferten Tango führt in der Regel, mit gewissen Handlungs- und Entscheidungsspielräume, nur der Mann. Wenn aber die Tanzpartnerin die „absolute Führung“ ihrem männlichen Tanzpartner übertragen hat, kann sie selbstverständlich kein Mitbestimmungsrecht mehr erwarten; er führt also auch selbstverständlich allein. Es gibt aber auch keine „Damenwahl“. Das gleiche gilt auch für die „absolute Hierokratie“, die absolute klerikale Herrschaft, von der nun demokratische Spielregeln zu erwarten eine Torheit wäre. Dies wäre genauso wie die Erwartung einer Quadratur des Kreises, die Konsequenzen für deren Protagonisten hat – quälende „kognitive Dissonanz“ und Selbst-Inkonsistenz – ohne Änderungen herbeizuführen.

 

Gerade diese unrealistische Erwartung der scheinbar unbelehrbaren „Reformisten“ hat zur Verlängerung dieser zunehmend sozial unerträglich gewordenen Herrschaftsform geführt, die zuweilen auch zunehmend zu einer bedrohlichen Quelle der Gefährdung nationaler Sicherhit geworden ist. Sogar Herr Chatami hat inzwischen den unabwendbaren Zerfallsprozess der sozialen Basis des Regimes wahrgenommen, wenn er auf gewisse unabdingbare Änderungen bloß hinweist, ohne wahrhaben zu wollen, dass es keine systemimmanente Änderungs-möglichkeit mehr für das Regime gibt.

 

In der Tat schafft die „Islamische Republik“ als eine Quadratur des Kreises die Grundlage einer Verfassungskrise, die nur überwunden werden kann, wenn dieser immanente Widerspruch zugunsten einer ihrer Komponenten entschieden ist. Die seit der Entstehung der klerikalen Herrschaft im Iran sich vollziehenden politischen Auseinandersetzungen drehen sich daher um dieses Problem. Entweder setzen sich die „Konservativen Islamisten“ durch, indem sie die republikanische Komponente verfassungsrechtlich und praktisch aufheben; oder ihre Opponenten, indem sie die theokratische Komponente zugunsten der republikanischen Komponenten überwinden. In diesem Sinn müssten sich die Reformisten der Fundamentalopposition anschließen, die als Republikaner dieses Regime seit der Entstehung des klerikalen Totalitarismus bekämpfen. Zumal Reformismus als Erhaltungsstrategie des klerikalen Totalitarismus inzwischen keine Option mehr für die Demonstranten der letzten Zeit ist. Dies vor allem deswegen, weil die „Islamische Republik“ als Staat im Sinne der Organisationsform der Herstellung und Betrieb allgemeiner Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft der Menschen unübersehbar versagt hat. Diese „allgemeinen Reproduktionsbedingungen“ werden in der Regel als Kernaufgaben jedes Staates begriffen, deren Erfüllung die Legitimationsgrundlage des politischen Staates - im Sinne der Herrschaft der mit diesen Aufgaben betrauen Amtsinhaber - bildet. Nicht nur diese Legitimationskrise des klerikalen Totalitarismus verstärkt die Unhaltbarkeit der Quadratur des Kreises der „Islamischen Republik“. Sie manifestiert sich inzwischen auch zunehmend in „kognitive Dissonanz“ und Probleme der „Selbstkonsistenz“ größerer Teile der sich inzwischen zu bewussteren Bürger entfalteten Menschen. Diese verfassungsmäßige Inkonsistenz, die sich sozialpsychologisch als zunehmend unerträglicher Stress für größere Teile der sich zunehmend als mündiger Staatsbürger begreifenden Menschen erfahren wird, muss in ihrer republikanischen Richtung aufgehoben werden – sollten die unerträglichen persönlichen Spannungen überwunden werden8. Der zunehmende Zerfall der sozialen Basis der klerikalen Despotie ist Ausdruck dieses sozialpsychologischen Lösungsprozesses als ein Selbstbefreiungsakt der Involvierten Menschen.


Gerade in dieser Krisenhaften Situation fällt - plötzlich einigen verzweifelten Teilen der iranischen Opposition eine scheinbar nicht vergessene symbolische Alternative zum Islamismus als mobilisierbare „Software“ - ein, die als nostalgische Erinnerung an glorifizierte 2500-jährige königliche Geschichte wachzurufen wäre. So wird auf einmal die mumifizierte Leiche Reza-Schahs entdeckt, dessen Enkelsohn als Nachfolger öffentlich gefeiert wird. Damit liefern sie politisch unverantwortlich eine willkommene Vorlage für jene unbelehrbaren Monarchisten, die eine Wiedereinführung ihres „goldenen Zeitalters“ als eine Farce erträumen.9

 

Mit dieser „Software“ ist gerade die, als eine der Schichten des sozialen Habitus der Menschen, quasi programmierten Verhaltens- und Erlebensmuster gemeint, die mit ihrem projektiven Charakter sich von bloßer „Attitude“ im Sinne von Dispositionen unterscheidet. Denn der Habitus ist keineswegs eine bloße Neigung zu bestimmten Verhaltens- und Erlebensmuster im Sinne einer Reaktion; er umfasst gerichtete emotionale, kognitive und kommunikative Muster, die projektiv eine Realität konstruieren, worauf sie dispositiv agieren. Jeder Habitus ist daher eine pre-dispositive Übertragung im Sinne eines Abwehrmechanismus. Jede Projektion umfasst aber auch das Übertragen und Verlagern eines innerpsychischen Konfliktes durch die Abbildung eigener Emotionen, Affekte, Wünsche und Impulse, die im Widerspruch zu eigenen und/oder gesellschaftlichen Normen stehen können, auf andere Personen, Menschengruppen, Lebewesen oder Objekte der Außenwelt. Wir sehen diese Projektionen alltäglich in der „Islamischen Republik“, die anscheinend ohne Feindbilder nicht auskommen kann. Sich als „historisches Opfer“ empfunden, streben sie die Wiederherstellung eines glorreichen islamischen Reiches über den Leichen derer, die sie als Feinde deklarieren.  

Man darf nicht vergessen, dass sozialer Habitus – wie in der Geologie der Gesteine - aus überlagerten Schichten besteht, entsprechend der erinnerten Integrationseinheiten der Menschen als ein erinnertes Wandlungskontinuum. Diese selektiven Erinnerungen werden durch Geschichtskonstruktionen in der Regel aufrecht erhalten oder wiedererweckt. Das „Dritte Reich“ Hitlers oder das angestrebte große „Russische Reich“ Putins oder das erträumte „Islamische Reich“ von Erdogan oder Khomeini und ISIS sind gleiche Konstruktionen. Die Geschichtskonstruktion der unbelehrbaren Monarchisten, auf die sie rekurrieren, ist genauso wie jede mystifizierte religiöse Geschichte eine Geschichte der „Wahrheit“ bestimmter Glaubensaxiome und Werthaltungen, die qua ihrem axiomatischen Charakter keiner faktischen Überprüfung zugänglich sind: als Fiktion ist sie nur ein selektiv erinnertes Wandlungskontinuum. Sie bestimmt aber nicht desto weniger die Form des Denkens, und Fühlens und Sprechens der Menschen, die sich mit dieser Kollektivgeschichte identifizieren. Wie andere „Ewiggestrige“ schreiben sie die Geschichte immer wieder als Geschichte der Könige, als ob sie noch nicht einmal einen Koch bei sich gehabt hätten. Dabei unterschlagen sie die Gräueltaten, die diese glorifizierte Geschichte begleitet hat.

 

So teilen sie mit den „Islamisten“ gemeinsame kognitive Strukturgemeinsamkeiten, trotz ihrer Formunterschiede. In ihrem autoritären Charakter bringen sie immer wieder autoritäre Herrschaftsformen verschiedener Formen hervor und sorgen – unbelehrbar - für ihre weitere Reproduktion bis sie wie ein Kartenhaus zusammenbrechen und Millionen von Menschen in Mitleidenschaft ziehen. Dies zu stoppen, wäre eine gemeinsame Aufgabe verantwortungsbewusster Fundamentalopposition Irans.

 

Hannover, 24.03.2019

 

 

1 Mostafa Tajzadeh war Stellvertretender Innenminister während der Amtszeit Chatamis.

 

2 Barbara Tuchman, Die Torheit der Regierenden, - von Troja bis Vietnam (deutsche Übersetzung von Reinhard Kaiser,, Frankfurt, 1989)

 

3 Vergl. Dawud Gholamasad, IRAN – Die Entstehung der „Islamischen Revolution“, Hamburg 1985. (Die Buchausgabe als Download: https://gholamasad.jimdo.com/iran-die-entstehung-der-islamischen-revolution/)

 

4 Vergl. Meine diversen Beiträge über Demokratisierungsprobleme als ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus.

 

5 Vergl. Norbert Elias, „Zivilisation“, in: Bernhard Schäfers(Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, 1986 (2. Auflage), S. 382ff.

 

6 Vergl. u.a. Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 190ff.

 

7 Deswegen kann man sprichwörtlich sagen („Der Biss des Skorpions ist kein Groll, sondern seine Natur.“).

 

8 Die Kognitionen wie Wahrnehmungen, Informationen, Bedürfnisse, Vermutungen, Meinungen usw. sind mentale Ereignisse, die mit Bewertungen einhergehen. Zwischen ihnen können Konflikte entstehen, die als unangenehme Gefühlszustände empfunden werden. Derartige Zustände erzeugen innere Spannungen, die nach Überwindung drängen.

 

9 „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“ (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (Werke, Bd. 8, S. 115).