Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Wie und warum sich Islamismus und Islamophobie gegenseitig als de-zivilisierende Aspekte der Demokratisierung in Europa gegenseitig hochschaukeln


„Man unterwirft sich dem Großen, um über Kleine Herr zu sein: diese Lust überredet uns zur Unterwerfung“ (Friedrich Nietzsche)

 

In diesem Beitrag möchte ich auf die interdependenten sozio- und psychogentischen Aspekte des Islamismus und der Islamophobie als De-Zivilisierungsschübe in Europa hinweisen, die ich als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der involvierten Menschen in Demokratisierungsprozessen diskutieren möchte. Damit soll eine Überwindungsperspektive des Problems erörtert werden, indem die Ungleichzeitigkeit der drei komplementären und reversiblen Aspekte der Demokratisierungsprozesse sowie ihre Richtung und Richtungsbeständigkeit berücksichtigt werden. Denn in der Regel werden die funktionellen, institutionellen und sozial-habituellen Aspekte der Demokratisierung auf ihre institutionellen Aspekte zustandsreduziert. Vernachlässigt wird:

 

      die gerichtete funktionelle Demokratisierung im Sinne der Verschiebung der Machtbalance zwischen den Machtstärkeren und Machtschwächeren zugunsten der letzteren im Zuge der inner- und zwischenstaatlichen Differenzierungs- und Integrationsprozesse, ohne zu institutioneller Demokratisierung zu führen. 

      der gerichtete und reversible Transformationsprozess des sozialen Habitus der involvierten Menschen im Sinne ihrer Zivilisierung und De-Zivilisierung, die deren ganzes Wollen, Denken, Fühlen und Handeln prägen.

 

Aus diesem Grunde möchte ich zunächst kurz auf den Zusammenhang von Demokratisierung, Zivilisierung und De-Zivilisierung als komplementäre und reversible Prozesse eingehen.

 

Zum Zusammenhang von Demokratisierung, Zivilisierung und De-Zivilisierung als komplementäre und reversible Prozesse

 

Zu den demokratisierungsrelevanten Hauptkriterien für einen Zivilisierungsprozess gehören u. a. Veränderungen des sozialen Habitus der Menschen in Richtung auf ebenmäßigere, allseitigere und stabilere Selbstkontrollmuster. Ohne sich je von Fremdzwängen völlig loszulösen, gewinnen die Selbstzwänge den Fremdzwängen gegenüber größere Autonomie. Das Gleichmaß der Selbstregulierung im Verhältnis zu allen Menschen und in fast allen Lagen nimmt zu. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Verselbständigung der individuellen Selbstregulierungsinstanzen erweitert sich auch die Reichweite des Vermögens eines Menschen, sich mit anderen Menschen in relativer Unabhängigkeit von deren Gruppenzugehörigkeit zu identifizieren, also auch Mitgefühl mit ihnen zu empfinden. Ein De-Zivilisierungsschub bedeutet dann eine Veränderung in entgegengesetzte Richtung, eine Verringerung des Mitgefühls.[1]

 

Eine angemessene Berücksichtigung dieser drei Dimensionen der Demokratisierungsprozesse erlaubt den gewalttätigen Islamismus und Islamophobie in Europa als einen Nachhinkeffekt des sozialen Habitus zu diskutieren, unter Berücksichtigung entsprechender Konsequenzen: vor allem der Notwendigkeit der Förderung der Zivilisierung des sozialen Habitus der Menschen in einem gezielten humanistisch geprägten institutionellen Bildungsprozess. Denn Menschen sind im Unterschied zu manchen anderen sozialen Lebewesen auf die Mobilisierung ihrer natürlichen Anlage zur Selbstregulierung durch das persönliche Lernen von Trieb- und Affektkontrolle im Sinne gesellschaftlicher Zivilisationsmuster angewiesen, um mit sich selbst und mit anderen Menschen leben zu können.[2]

 

Islamismus und Islamphobie als ein sich gegenseitig zur Eskalation  bringender De-Zivilisierungsschub.

 

Wenn man gewalttätige Konfliktaustragungen von Islamisten begreifen will, muss man wissen, dass Menschen von Natur aus gegenseitig auf einander angewiesen und voneinander abhängig sind. Aus diesem Verflechtungsprozess interdependenter Menschen gestaltet sich eine Figuration, wie Familie, Stamm, Staat mit entsprechender Machtbalance und entsprechenden Machtkämpfen. Dabei geht es immer um die Chance, das Verhalten der anderen gegen ihren Willen zu beeinflussen und zu steuern. Darum sind diese Konflikte immer auch selbstwertrelevant. Sie sind getragen von einer Tendenz, sich mit anderen zu vergleichen und zu messen; sie steuern als eine Art Selbstzwang das Verhalten und Erleben der involvierten Menschen. Deswegen bekommen wir nur aus dieser Interdependenz ihrer Beziehungen heraus einen Einblick in ihr Seelenleben bzw. in die Psychogenese ihrer zielgerichteten Verhaltens- und Erlebensmuster, denn Menschen sind nicht in der Lage zu denken, zu fühlen, zu wollen, zu handeln, ohne dass ihnen ein Ziel vorschwebt.[3] Aber diese Zielgerichtetheit des Seelenlebens der Menschen verleiht dem „fiktiven Endziel“ bzw. dem als fix gedachten oder empfundenen Finale, unter deren Herrschaft alle im einzelnen sichtbaren Ziele geraten, die entscheidende Bedeutung. Und wegen dieser Zielgerichtetheit des Seelenlebens der Menschen ist das Leben ein Sollen[4], mit entsprechenden zivilisatorisch geprägten moralischen Maßstäben.

 

Demzufolge ist das, was Seelenleben genannt wird, nur verständlich als ein Kommunikationssystem in einem dynamischen Netz von kommunikativen Beziehungen in Raum und Zeit, das als Figuration bezeichnet werden kann. Folglich ist das Sprechen, Fühlen, Denken und Verhalten von Menschen, kurz ihr individualisierter sozialer Habitus nur begreifbar als selbstwertrelevante Stellungnahmen zu den Mitmenschen, als ihre Antworten in der jeweils spezifischen Figuration.

 

Mit der funktionellen Demokratisierung ihrer Beziehungen, als Reduktion der Machtdifferentiale zwischen Individuen und Menschengruppen, können sich eine institutionelle Demokratisierung und entsprechende Zivilisierung der Verhaltens- und Erlebensmuster der involvierten Menschen, im Sinne der emotionalen Verankerung der demokratischen Normen, vollziehen. Damit einher geht eine Verschiebung der Selbstwertbeziehungen mehr oder weniger zugunsten der früher machtschwächeren Menschen als Einzelne und Gruppen, da diese interdependenten Beziehungen zugleich ihre Selbstwertbeziehungen sind: Denn das, was sich auf der funktionellen Ebene als Machtdifferentiale bzw. als Verringerung derselben vollzieht, wird in der Regel von den in diese Prozesse involvierten Menschen auch mit mehr oder weniger zeitlicher Verzögerungen erfahren und empfunden. Diese Selbsterfahrungen und damit einhergehend auch Selbstbewertungen manifestieren sich in ihren Selbstwertbeziehungen. Was auf der funktionellen Ebene also die Machtbeziehungen bzw. Machtdifferentiale sind, sind auf der habituellen Ebene die selbstwertrelevanten Erfahrungen dieser Machtbeziehungen: die Selbstwertbeziehungen.

 

Allerdings kann die Transformation des sozialen Habitus der involvierten Menschen hinter der funktionellen Demokratisierung hinterherhinken. In dieser Konstellation wird das Minderwertigkeitsgefühl der Machtschwächeren, angesichts ihrer gesteigerten Aspirationen, schmerzhafter empfunden, weil das Minderwertigkeitsgefühl als eine Gefühlslage dann entsteht, wenn Angestrebtes nicht aus eigenen Kräften erreichbar ist. Diese Gefühlslage ist der Ausgangspunkt für ein kompensatorisches Streben, da sich im Minderwertigkeitsgefühl ein den Selbstwert verneinendes Empfinden manifestiert.[5]

 

Und je höher das angestrebte fiktive Ich- und Wir-Ideal angesichts der Verfügbarkeit der Machtchancen ist, desto destruktiver das kompensatorische Streben. Worin die Überwindung dieser negativen Ausgangslage gesehen und mit welchen Mitteln sie angestrebt wird, ergibt sich nicht nur aus der individuellen Situation der Menschen als Einzelne und Gruppen. Hier kann sich auch der Nachhinkeffekt des sozialen Habitus manifestieren: Die früher eingeübte Art und Weise, in der die Menschen als Einzelne und Gruppen auf das Minderwertigkeitsgefühl antworteten, verfestigt sich in ihrem Lebensplan. Während die individuell fixierte Prestigepolitik vorsprachlich ist, wird das zugrunde liegende gruppenspezifische Muster zumeist sprachlich tradiert. Diese als Geschichte gefeierten Überlieferungen werden wiederum individualisiert rezipiert.

 

Wenn man daher begreift, dass die Sprache die Welt ist, wie Menschen sie erfahren, wird die Bedeutung der sozialen Vererbung der Verhaltens- und Erlebensmuster und entsprechender Regulationsprinzipien durch die Sprachvermittlung verständlich. Die virulente Gewaltbereitschaft und die unbarmherzig gewalttätigen, blutrünstigen Kommunikationsmittel der Islamisten, als Ausdruck eines De-Zivilisierungsschubes, deuten auf diese Überlieferung der Erfahrung der anfänglich kriegerisch geführten Expansion der Herrschaft Mohammads und seiner Nachfolger hin. Auf diesen niedrigen Grad der Trieb- und Affektkontrolle der beduinischen Stämme vor 14 Jahrhunderten beziehen sich die Islamisten, wenn sie ihre blutigen Taten subjektiv rechtfertigen wollen. Sie sind ihre allgegenwärtigen Vorbilder. Deswegen darf man sie nicht danach beurteilen, was sie sagen sondern danach, was sie tun und wozu sie das tun, was sie tun. Denn das, was sie sagen, sind lediglich subjektive Rechtfertigungen ihrer barbarischen Taten für sich und die Ausbeutung der Glaubensaxiome und Werthaltungen der Muslime. Wie sollen sie denn sonst ihren gewaltsamen Versuch, ihre Geltungssucht mit allen Mitteln zu befriedigen, indem sie aus ihrer Unsicherheit und Minderwertigkeit heraus unaufhörlich nach einer „göttlichen Herrschaft“ über ihre Mitmenschen zu gelangen streben, subjektiv rechtfertigen? Diese ihre angestrebte „göttliche Herrschaft“ soll sich ja in einem „Islamischen Staat“ manifestieren, der einer subjektiven Rechtfertigung bedarf, während ihnen ihre wahren Motive verkannt und unbewusst bleiben.

 

Aber gerade was diese subjektive Rechtfertigung und als Gegenpart auch die Islamophobie ermöglicht, ist die Identifizierung des Islamismus mit dem zustandsreduzierten Vorstellungsgebilde „Islam“, welches jedoch nur als ein Wandlungskontinuum[6] erschlossen werden kann;  sie setzt aber die Hypostasierung des „Islam“ als einer Fiktion  voraus. Diese Vergegenständlichung eines Vorstellungsgebildes vollzieht sich durch die fiktiven Abstraktionen in der Sprache, indem man aus bequemen Abstraktionen Wirklichkeiten macht, „als ob sie etwas Besonderes, selbständig Existierendes wären ohne die Objekte, an denen wir sie faktisch finden.“[7] Obwohl Fiktionen als Vorstellungsgebilde Produkte der Einbildungskraft sind, können sie als Substitutionen im weiteren Sinne betrachtet werden, indem an die Stelle der Wirklichkeit irgendetwas Unwirkliches gesetzt wird. Problematisch wird es, wenn man diese symbolischen Repräsentanten der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit verwechselt; einer Wirklichkeit, die „an sich“ nicht erkennbar ist. Von daher ist die Sprache die Welt, wie Menschen sie erfahren. Vor allem im Alltagsleben, in dem Menschen nicht danach fragen, was Dinge „an sich“ bedeuten, sondern was sie „für mich“ bedeuten. In diesem Zusammenhang also, welche selbstwertrelevante Bedeutung sie „für mich“ haben.

 

In diesem selbstwertrelevanten Apperzeptionsschema[8] eines Neurotikers, der alle Eindrücke als „grundsätzlich“ und sie tendenziös und polargegensätzlich im Sinne von „Oben-Unten“, „Sieger-Besiegter, „Männlich-Weiblich“, „Nichts-Alles“ usw. wertet, liegt die Bedingung der Möglichkeit der Islamophobie als ein Schema des Selbstwertes. Mit dieser neurotischen Apperzeption, mittels derer man den Abstand der Wirklichkeit von dem tendenziös verstärkten Ideal misst, kann man verurteilend einen wirklichen Menschen an einem Ideal  messen, damit man ihn dabei beliebig entwerten kann.[9]

 

Damit diese tendenziöse Apperzeption zur Islamophobie führen kann, bedarf es also einer „Pars-pro-toto“-Verzerrung der Realität, indem die besten Charaktereigenschaften der Minderheit der eigenen Gruppe für die „Wir-Gruppe“ verallgemeinert werden und der De-Zivilisierungsschub einer Minderheit der Muslime als Zivilisationsstandard „der Muslime“ generalisiert wird, um die eigene selbstwertrelevante feindliche Haltung ihnen gegenüber subjektiv legitimieren zu können. In dieser feindseligen Haltung den Muslimen gegenüber und ihrer Entwertung und Marginalisierung manifestiert sich ebenfalls einer der Aspekte der De-Zivilisierung: die Verengung der Reichweite der Identifikation der Menschen mit Menschen relativ unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit.

 

Die Islamophobie als eine Entwertungstendenz ist also eine, durch dasselbstwertrelevante fiktive Ziel der Überlegenheit angetriebene, feindliche Haltung neurotischer Europäer, deren ganzes Wollen, Denken, Fühlen und Handeln durch ihr Minderwertigkeitsgefühl angestachelt ist. Sie sind geprägt durch eine durch den Kolonialismus überlieferte neurotische Kultur der Überlegenheit. Diese nachhinkenden Glaubensaxiome und Werthaltungen sind neurotisch, weil „das neurotische und psychotische Seelenleben als das Haften an der »leitenden Fiktion« im Gegensatz zum Gesunden (…)“[10] zu begreifen ist. Fiktiv ist ihr „Ideales Leitbild“ der Überlegenheit als Orientierungsmittel, weil es nicht nur der Wirklichkeit widerspricht, sondern auch in sich widerspruchsvoll ist.[11] Diese Widersprüche bleiben ebenfalls unverstanden durch tendenziöse Erinnerung und Aufmerksamkeit, die eine „Pars-Pro-toto“-Verzerrung der Realität ermöglichen. Auf diese Weise wird der Entzug des Mitgefühls für die Muslime emotional verträglich gemacht und die Einengung der eigenen Reichweite der Identifikation mit Menschen relativ unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit im Sinne eines De-Zivilisierungsschubes stolz nach außen demonstriert.

 

Mit dieser tendenziösen Verknüpfung der Ereignisse wird „der Islam“ sowohl gleichgesetzt mit Islamismus als einer gewalttätigen demonstrativen Hervorhebung der als eigen definierten Werte der „Rechtgläubigen“, die mit der „Scharia“ als Inbegriff des „Islams“ im Sinne der überlieferten göttlichen Regulationsprinzipen der gesellschaftlichen Beziehungen zur Herstellung der paradiesischen Glückszustände auf Erden dienen. Indem dem Islamismus als einer chiliastisch geprägten nativistischen Bewegung[12] zugleich der eigene Chauvinismus gegenübergestellt wird, wird zu einem Teufelskreis der Feindseligkeit beigetragen, womit die gewalttätigen Islamisten weitere Anhänger rekrutieren können.

 

Der Beitrag der Presse als vierter Gewalt in der Staatsgesellschaft, die ihrer Verantwortungsethik nicht gerecht wird.

 

Hinzu kommen die provokativen Karikaturen in der Presse, die im Namen der Meinungs- und Pressefreiheit verteidigt werden, statt sich als „vierter Gewalt“ im Staat einer Verantwortungsethik  verpflichtet zu fühlen. Dabei wird ungeachtet der, durch den Minderwertigkeitskomplex stark gesteigerten, Erregbarkeit und Empfindlichkeit der Islamisten das Ethos der Presse- und Meinungsfreiheit als eine Art Gesinnungsethik demonstrativ hervorgehoben ohne zu merken, dass ihre „Freiheit“ genauso eine Fiktion ist wie der „Gott“ der Islamisten, in dessen Namen für die Etablierung der „Scharia“ als ewig gültiges Rechtssystem, sie die Wiedergeburt der Barbarei rechtfertigen.

 

Dabei wird nicht nur verdrängt, dass ein „gesunder Mensch“ die nützliche Fiktion „Freiheit“ nur als ein „ideales Leitbild“ und als ungefähres Orientierungsmittel erfasst.[13] Sie ist bloß ein angestrebtes Ziel der Erweiterung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume, aber keine existierende Realität, die mit allen Mittel und um jeden Preis verteidigt werden müsste. Gerade diese Hypostasierung der Fiktion charakterisiert ihre doppelte Widersprüchlichkeit. Aber dieser selbstwertrelevant demonstrativ hervorgehobene Wert „Freiheit“ verblendet die Augen für die Tatsache, dass ein stark neurotischer oder gar psychotischer Islamist sich keineswegs seiner Verantwortlichkeit für sein eigenes Gefühl des „Beleidigt seins“ bewusst sein kann, so wie es anscheinend unterstellt wird. Gerade weil er alle anderen Menschen für seine eigene Gefühlslage verantwortlich macht, ist er solch ein blutrünstiger Islamist geworden, der als Rache sogar unschuldige Menschen stellvertretend enthaupten kann.

 

Solange die Bannerträger dieser Fiktionen, sich gegenseitig in ihrer fiktiven Überlegenheit zu übertreffen versuchen, wird sich die Spirale der Eskalation der gegenseitigen Feindseligkeit und der sie begleitenden Gewaltakte weiter hochschaukeln. Die Deeskalation hat nur eine Chance, wenn wenigstens die eher distanziertere Seite des Konfliktes in Europa das zunehmende Engagement bremst. Denn jedes weitere Gefühl der Bedrohung (des Selbstwertes) steigert das emotionale Engagement und führt zu weiterer Eskalation der Gewalt und Gewaltbereitschaft.

 

In diesem Sinne haben alle Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft sich ihrer Verantwortungsethik bewusst zu werden und sie als einer der Aspekte der Zivilisierung zu pflegen. Damit soll die Balance zwischen Kooperation und Konflikt zugunsten der ersteren verschoben werden, durch Herstellung und Erweiterung des Mitgefühls mit Mitmenschen relativ unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit. Hinzu kommen die allseitige Förderung der beruflichen und staatlichen Bindungen als Voraussetzung der Bildung der verantwortungsbewussten „Wirtschaftsbürger“ und „Staatsbürger“ als unverzichtbare Integrationsmaßnahmen.

 

Hannover, 14.06.2015

 



[1] Vgl. Norbert Elias, Zivilisation, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1986, S. 382ff.

[2] ibid.

[3] Das „Seelische Organ“ der Menschen ist genauso zielgerichtet wie alle anderen seine Organe: ohne Sonne gäbe es keine Augen, ohne Erdanziehungskraft gäbe es keine Füße und ohne Handlungsziele u.a. gäbe es auch keine  Seelenleben.

[4] Vgl.  Alfred Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, München 1930/ Köln 2012, S. 14

[5] Vgl. Henry Jacoby, Alfred Adlers Individualpsychologie und dialektische Charakterkunde, Ffm., 1983, S.48

[6] „Islam“ als Wandlungskontinuum  bezieht sich auf einen lückenlosen Wandlungszusammenhang von Ereignissen, der unter „Islam“ als eine „analogische Fiktion“ subsumiert wird - so wie bei Juristen ein Einzelfall unter einen „Allgemeinbegriff“ subsumiert wird, dem er eigentlich nicht angehört wie z.B.  Mord, Diebstahl als  „analogische Begriffe“ bzw. „symbolische Fiktionen“ (vgl. Hans Vaihinger, die Philosophie des Als Ob, Volksausgabe, 1924/2014, S. 32). Somit sind die Kategorien wie Dogmen analogische Fiktionen:  Nach Analogie menschlicher, subjektiver Verhältnisse wird das Wirkliche gedacht. (Ibid., S. 28)

[7] Hans Vaihinger, ibid., S. 205

[8] Apperzeption bedeutet die klare und bewusste Aufnahme des jeweiligen Inhalts eines Erlebnisses, einer Wahrnehmung oder eines Denkens. Damit ist also verbunden eine selbstwertrelevante Gerichtetheit der Aufmerksamkeit.

[9] Vgl. Alfred Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, München 1930/ Köln 2012, S. 153

[10] Alfred Adler, a.a.O, S. 117

[11]  „Als eigentliche Fiktionen im strengen Sinne des Wortes stellen sich Vorstellungsgebilden dar, welche nicht nur der Wirklichkeit widersprechen, sondern auch in sich selbst widerspruchsvoll sind.“ (Hans Vaihinger, die Philosophie des Als Ob, Volksausgabe, 1924/2014, S. 15

[12] Vgl. Dawud Gholamasad, Zur Sozio- und Psychogenese der Selbstmordattentate der Islamisten, unter: http://gholamasad.jimdo.com/vortr%C3%A4ge/zur-sozio-und-psychogenese-der-selbstmordattentate-der-islamisten/

[13] Vgl. Alfred Adler, a.a.O, S. 117