Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Woran leidet die demokratische Opposition Irans und wie ist ein realistischer Einigungsprozess möglich?

 

 

 

Der Citoyen ist ein höchst politisches Wesen, das nicht sein individuelles Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt. Dieses gemeinsame Interesse beschränkt sich nicht auf die Summe der einzelnen Willensäußerungen, sondern geht über sie hinaus.“  (Jean-Jacques Roussea)

 

Es gibt keine Demokratie ohne Demokraten, wohl aber viele Demokraten ohne Demokratie. Sie zu vereinigen, ist die gegenwärtige Hauptaufgabe der demokratischen Oppositionellen. Denn jeder, der wissen will, weiß inzwischen, dass die weitere Existenz des theokratischen Totalitarismus im Iran auf die fehlenden politischen Alternativen zurückzuführen ist. Denn das Regime hat dermaßen abgewirtschaftet, so dass es sich angesichts des zunehmenden Legitimationsverlusts nur gewaltsam aufrechterhalten kann. Die Erfahrungen der blutigen Unterdrückung der „grünen Bewegung“ manifestieren deshalb nicht nur die Unbeugsamkeit der Obrigkeit im Iran vor demokratischen Forderungen. Sie bestätigen auch den geringen Organisationsgrad der Oppositionellen als Bedingung der Möglichkeit des Überlebens des Regimes trotz seines erheblichen Legitimationsverlustes wie sie sich in der „Grünen Bewegung“ manifestierte. Dieses Nachhinken der Selbstorganisation der demokratischen Opposition Irans ist nicht nur auf die brutale Unterdrückung jeglicher oppositioneller Regung im Iran zurückzuführen. Denn die Auslandsiraner sind ja dieser Gefahr nicht unmittelbar lebensgefährlich ausgesetzt.

 

Da der unterschiedliche Grad der Organisation zuungunsten der Opposition die bestehende Machtbalance zugunsten des Regimes als Garant seines Überlebens manifestiert, stellt sich die Frage nach den sozio- und psychogenetischen Aspekten der Organisationsprobleme der demokratischen Opposition. Denn eine effektive Organisation der Opposition ist eine unverzichtbare Machtquelle, wenn der Wille zur Gestaltungsmacht der Demokraten weiterhin besteht. Eine angemessene Diagnose dieses Problems könnte der erste Schritt zur Überwindung der bestehenden Zersplitterung der demokratischen Opposition sein. In diesem Beitrag möchte ich daher kurz erklären, warum diese Zersplitterung und Zerstrittenheit der demokratischen Oppositionellen als Folge ihrer mangelnden Konsensfähigkeit ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung des sozialen Habitus der Opposition ist. Die Überwindung dieses Habitusproblems1 ist daher eine unabdingbare Voraussetzung der effektiven Organisation der Opposition.

 

Die Zersplitterung und mangelnde Konsensfähigkeit als Nachhinkeffekt der Demokratisierung des sozialen Habitus.

 

Dazu bedarf es einer kritischen Selbstdistanzierungsfähigkeit, die bewusst gefördert werden muss.Denn eine der gemeinsam geteilten Defizite der iranischen Opposition ist ihre mehr oder weniger mangelnde selbstkritische Distanzierungsfähigkeit, die eine Einsicht in Eigenanteil bei der Entstehung der bestehenden Misere erschwert. Sie führt, mit anderen Worten, zu einem mangelnden Verantwortungsbewusstsein für ihren jeweils eigenen Beitrag zur Entstehung und Erhaltung der bestehenden politischen Verhältnisse im Iran. Deswegegen wird verdrängt, dass die Entstehung der „Islamischen Republik“ auch ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung ihres eigenen sozialen Habitus ist. Sie vergessen, dass nicht nur ihre schreckliche Toleranz gegenüber der nachrevolutionären Hinrichtungen sondern auch die Verteufelung jeglicher demokratischer Forderung als „Verwestlichung“ und „Liberalismus“ zur Etablierung des theokratischen Totalitarismus im Iran als eine institutionelle Ent-Demokratisierung beigetragen haben. Denn ein Vergleich der vor- und nachrevolutionären Verfassungen bezeugt diese institutionelle Ent-Demokratisierung und die sie begleitende De-Zivilisierung2 der iranischen Staatsgesellschaft. Damit wurden die Jahrzehnte lange Bemühungen der iranischen „Konstitutionalisten“ seit der „konstitutionellen Revolution“ zur Einführung und Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit leichtsinnig einem scheinbaren „Anti-Imperialismus“ des Khomeinismus geopfert, was zur sukzessiven Eliminierung aller oppositionellen Kräfte und Gleichschaltungsversuche des Alltagslabens im Iran führte. Dabei wurde diese sukzessive Unterdrückung generell toleriert und von Manchen sogar aktiv unterstützt. Wie sind aber diese institutionelle Reversion und die schreckliche Toleranz gegenüber der institutionalisierten Menschenrechtsverletzungen zu erklären?

 

Diese soziale Umkehrung unterstreicht die Reversibilität sozialer Prozesse, die jeden Determinismus und jede teleologische Geschichtsauffassung empirisch widerlegt. Sie war nur möglich, weil die Mehrheit der Iraner und vor allem der Opposition gegen das Schahregime die vor der Revolution eingeklagten Menschen- und Grundrechte für ihre politischen Zwecke bloß instrumentalisierten. Sie waren noch nicht verinnerlicht bzw. zu ihrer „zweiten Natur“, d.h. zu ihrem unveräußerlichen „sozialen Habitus“3 geworden und als solches Verhalten steuernd. Aus diesem Grunde ist die „Islamische Republik“ ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung des sozialen Habitus der Iraner in ihrem Transformationsprozess von ehemaligen „Untertanen“ zum Staatsbürger, angesichts zunehmender „funktionaler Demokratisierung“ im Sinne einer effektiven Verschiebung der Machtbalance zwischen den Regierenden und Regierten zugunsten der Letzteren als Bedingung der Möglichkeit eines revolutionären Umsturzes des Schahregimes. Denn die Einführung der „Konstitution“ als „institutionelle Demokratisierung“, die der „konstitutionellen Revolution“ folgte, bedeutete keineswegs eine „Institutionalisierung der Demokratie“ und eine zunehmende Zivilisierung des sozialen Habitus der Regierenden und Regierten vor allem im Sinne der Verschiebung der Balance zwischen der Fremd- und Selbstzwänge zugunsten der letzteren - weil Institutionen erst dann zu zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartung werden und als solche die normative Struktur einer Gesellschaft bilden, wenn sie die Persönlichkeitsstruktur der involvierten Menschen geprägt haben. In diesem Falle hätten die eingeklagten Menschen- und Grundrechte als ein „komplex faktischer Verhaltenserwartungen, die im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf sozialen Konsens rechnen können“ keinen instrumentellen Charakter für die Opposition gegen das Schahregime gehabt, wenn sie zur Grundhaltung der Mehrheit der Iraner geworden wäre.4 Die verfassungsmäßig verankerten Grundrechte seit der „konstitutionellen Revolution“ wären nur dann „subjektive Rechte“, wenn sie emotional verankerte Rechte und durch Habitualisierung zur sozialen Gepräge der Mehrheit der Iraner geworden wären. Dann wäre die „Demokratie“ nicht nur eine Herrschaftsform sondern auch eine Lebensform,denn im Demokratisierungsprozess verändern sich allmählich die gemeinsame gesellschaftliche Ausprägung des individuellen Verhaltens, der Sprache und Denkweise, der Gefühlslage und vor allem der Gewissens- und Idealbildung der involvierten Menschen. Aus diesem Grunde ist die Entstehung der nachrevolutionären theokratisch-totalitären Herrschaft, die einen Untertanengeist voraussetzt, ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung des sozialen Habitus der Mehrheit der Iraner – einschließlich der sich demokratisch begreifenden und selbst ernannten oppositionellen Führer und Aktivisten.

 

Eine institutionelle Demokratisierung der iranischen Staatsgesellschaft wäre demnach ein Nachholeffekt des sozialen Habitus der Mehrheit der Iraner, wie sie sich ansatzweise massenhaft in der „Grünen Bewegung“ manifestierte. Sie signalisierte die Transformation der Untertanen in mehr oder weniger rechtsbewusste Staatsbürger, die auf ihr Stimmrecht insistierten. Denn genauso wie ein Tagelöhner zu einem Lohnarbeiter wird, wenn er nicht nur formell sondern reell unter das Kapital untergeordnet ist, d.h. wenn er Normen abstrakter Arbeit verinnerlicht hat; verwandelt sich ein formeller „Bürger“ in einen reellen rechtsbewussten Staatsbürger, wenn er gewisse „Bürgertugenden“ verinnerlicht hat. In diesem Sinne verwandeln sich die Rechtsnormen als Fremdzwänge mehr oder weniger in Selbstzwänge, wenn sie zur „zweiten Natur“, zur Persönlichkeitsmerkmal der Menschen geworden sind. Nur so verwandeln sich die Menschen- und Grundrechte als Institutionen in generalisierte Verhaltenserwartungen, für deren Respektierung sich Menschen einzusetzen bereit sind. So etablieren sie sich als Ethos der Menschen- und Grundrechte.

 

Aus diesem Grunde scheint mir die Zersplitterung der demokratischen Oppositionellen und ihr mangelnde Konsensfähigkeit auf ihre mangelhaften „Bürgertugenden“ zurückzufuhren sein. Die Demokratisierung ihrer gemeinsamen Orientierung im Sinne der Demokratisierung ihrer Glaubensaxiome und Werthaltungen, die sich in ihrer entsprechender effektiver Vereinigung manifestieren würde, wäre ein Nachholeffekt ihres Bürgersinns, ihres Rechtssinns und Zivilcourage, sowie ihres Gerechtigkeitssinns und ihrer Urteilskraft und nicht zuletzt ihres Gemeinsinns und ihrer demokratischen Integrität.5 Diese Grundhaltungen, die den für sein Gemeinwesen engagierten, guten, vielleicht sogar vortrefflichen Bürger auszeichnen, sind für die demokratischen Organisationen der Opposition unverzichtbare demokratischen Tugenden und bei Erweiterung der Demokratie um eine reich entwickelte Zivilgesellschaft auch republikanische Tagende.

 

Zu mangelnden politischen Ethik in der Tradition der iranischen Opposition als Habitus-Problem.

 

Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“ (Kant)

 

Das Ethos der Menschenrechte als rechtsmoralische Grundlage jeglicher demokratischen Organisationsform der Gesellschaft und Opposition setzt aber eine „politische Ethik“ zumindest bei den Oppositionsführern voraus. Die Voraussetzung der Einsicht in der Notwendigkeit einer „politischen Ethik“, die die Politik unter normativen Gesichtspunkten, insbesondere moralischen Gesichtspunkte untersucht und bestimmt, ist aber die Unterscheidung zwischen Staatsbürger (Citoyen) und Wirtschaftsbürger (Bourgeoise). Diese Unterscheidungsvermögen setzt die Einsicht voraus, dass eine Staatsgesellschaft neben sonstigen unmittelbaren und symbolisch vermittelten Bindungen der Menschen miteinander nicht nur aus „beruflichen Bindungen“ besteht, sondern auch aus „staatlich-politischen Bindungen“ mit ihrer jeweils relativen Autonomie. Soziologisch betrachtet6 sind die Entwicklung der staatlich-politischen Organisation der Gesellschaft und die der beruflichen Positionen komplementäre Aspekte der Entwicklung von ein und derselben Funktionszusammenhänge. Sie sind die Differenzierung- und die Integrierungsaspekte der Entwicklung des gleichen Interdependenzgeflechtes, die reversibel sind und zuweilen ungleichzeitig verlaufen können. Gerade dieser Integrierungsaspekt der Entwicklung manifestiert sich in jene Schutz- und Trutzeinheit, die als Staat zur legitimen Organisationsform der Gesellschaft und Objekt gemeinsamer affektiver Bindungen der „Bürger“ (Citoyen) wird, für deren Verteidigung sie sogar ihr Leben zu opfern bereit sind. Zugleich ist aber der Staat als eine politische Einheit, eine Herrschaftsform, die sich aus den Machtkämpfen auf allen Integrationsebenen der vielstöckigen Staatsgesellschaft ergeben. Sie auf die Verteilung der „ökonomischen“ Chancen, d.h. auf „Klassenkämpfe“ zu reduzieren, übersieht nicht nur alle anderen Hautspannungsachsen der Gesellschaft, wie die Konflikte zwischen Regierenden und Regierten, die Geschlechterkonflikte, Generationenkonflikte, ethnische und konfessionelle Konflikte sowie Konflikt zwischen wissenschaftliche und vorwissenschaftliche Orientierungen und nicht zuletzt die zwischenstaatlichen Konflikte; sie übersieht auch die Notwendigkeit der effektiven zusammenfassenden Organisationen auf höheren Integrationsebenen der Gesellschaft, der nationalen oder Parteiorganisationen für die Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe um die staatlichen Machtmonopole, deren Kontrolle die Rahmenbedingungen aller anderen Konfliktsaustragung bestimmen.

 

Die Einsicht in diesem Zusammenhang setzt aber die Überwindung der durch die Tudeh-Partei im Iran geprägten Vorstellung voraus, man könne die Machtmittel und die Funktion des Staates als Derivat der Machtmittel und der Funktionen der bürgerlichen Unternehmergruppe erklären, also als Derivat des Klasseninteresses jener Berufsgruppen, denen der Begriff Wirtschaft und des Wirtschaftlichen seine spezifische Bedeutung verdankt. Denn daraus ergab eine Reduktion der „marxistische Ethik“ auf „Klassenethik“, mit dem hegemonialen Anspruch der „Arbeiterklasse unter der Führung der Partei“, mit den verehrenden Folgen im „real existierenden Sozialismus“. Ohne die Korrektur dieser Reduktion aller gesellschaftlichen und politischen Tätigkeiten auf bestimmte Formen der Interdependenzen, die mit den spezialisierten beruflichen Tätigkeiten von Unternehmerschichten aufs engste verbunden sind und eine Eigengesetzlichkeit und eine gewisse Autonomie gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten besitzen, bleib der Stellenwert der emotionalen Bindungen der Menschen an die staatlich-politische Organisation der Gesellschaft als Objekt ihrer gemeinsamen Identifizierung folgenträchtig unterschätzt; damit auch der Stellenwert des „Bürgersinns“ als Inbegriff verschiedener Bürgertugenden und als Antriebskraft der politischen Institutionen, wie der politischen Organisationen.

 

Die Vernachlässigung einer realitätsangemessenen politischen Ethik, als Mittel der Begründung der Politik unter normativen, insbesondere moralischen Gesichtspunkte, war deshalb eine der Gründe der verheerenden politischen Orientierungen zugunsten des Khomeinismus, die zur Entstehung und Erhaltung des Totalitarismus im nachrevolutionären Iran führte; sie war ebenso der Grund für die schreckliche Toleranz gegenüber den nachrevolutionären Hinrichtungen, bis man selbst daran glauben musste. Ohne dieses Habitus-Problem wäre die schreckliche Toleranz gegenüber der sukzessiven und zuweilen blutigen Eliminierung der zu „Feinde der Revolution“ erklärten Andersdenkende, Andersglaubende, Anderslebende und Oppositionellen undenkbar gewesen. Auch die gegenwärtige Zersplitterung der Opposition ist u. a. auf die mehr oder weniger mangelnde Fähigkeit zur moralischen Begründung ihrer jeweiligen Opposition gegen das Regime und ihrer jeweiligen politischen Orientierung zurückzuführen. Ohne eine politische Selbstbildung der Oppositionellen im Sinne einer ethischen Umorientierung und des damit zusammenhängenden Bewusstseins des Stellewertes des „Bürgersinnes“ bei den politischen Auseinandersetzungen, ist daher eine politische Bildung im Sinne einer effektiven Organisation der demokratischen Opposition unmöglich. Ohne einen expliziten Rückgriff auf politische Tugenden einer demokratischen Organisation, ohne ein begründetes rechtmoralisches Orientierungsmittel, fehlt der Opposition auch jegliche moralische Legitimationsgrundlage. Erst wenn die demokratische Opposition in der Lage ist alternative Moralprinzipien zu gegenwärtig herrschender „theologischer Ethik“ anzubieten, kann sie sich legitimer Weise als eine Alternative gegenüber dem theokratischen Totalitarismus behaupten. Ohne alternative Moralprinzipien als oberstes Kriterium, als letzter Maßstab praktischen Argumentierens, das implizit oder explizit in jeder Begründung singulärer oder genereller moralischer Urteile in Anspruch genommen wird, leidet die sich demokratisch begreifende Opposition unter einer Orientierungslosigkeit. Als systemstiftendes Begründungsprinzip eines Normengefüges ist ein Moralprinzip die unabdingbare Voraussetzung jeder politischen Organisation, „weil die Sitten selber allerlei Verderbnis unterworfen bleiben, so lange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurteilung fehlt“7. Der „kategorische Imperativ“8 Kants könnte daher, als oberstes Kriterium der moralischen Beurteilung menschlicher Willensbestimmung, dem oppositionellen „Wille zur Macht“ eine Orientierungshilfe bieten. Damit entsteht für die Opposition eine moralische Grundlage, die ihnen erlaubt, jenseits ihrer ideologischen Orientierungen, gemeinsam nach diskursiv konsensfähigen Interessen zu handeln. Sie ist deshalb die unabdingbare Voraussetzung der gemeinsamen politischen Organisation der oppositionellen Strömungen.

 

Damit würde eine der Haupthindernisse der Zersplitterung der demokratischen Opposition überwindbarer werden, die in ihrem gegenseitigen Misstrauen besteh. Sie ist auf ihre gemeinsame Erfahrung der allgemein herrschenden moralischen Prinzipienlosigkeit der politisch Handelnden zurückzuführen; eine Prinzipienlosigkeit, die einer auf bloßen Machterwerb und Machterhalt orientierten Politik zugrunde liegt.9 Zwar ist „Politik“ immer „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“10; sie muss aber begleitet sein durch eine Moralkritik, welche die herrschende Moral auf ihren verborgenen Zweck hinterfragt und so die Unmittelbarkeit ihrer Geltung erschüttert. Im Sinne einer selbstkritischen Vergangenheitsbewältigung ist eine solche Moralkritik eine der ersten Schritte zur Herausbildung eines gemeinsam geteilten Kanons moralischer Prinzipien, die als politische Tugenden das gemeinsame Orientierungsmittel der demokratischen Opposition bilden kann. Dazu gehört unverzichtbar der Staatsbürgersinn, als personale Aspekt der Demokratisierung der Staatsgesellschaft, dessen Förderung das Ziel der gemeinsamen Anstrengungen der demokratischen Opposition sein soll.

 

Hannover, den 21. 10.2013

 

 

1 Zu Demokratisierungsprobleme der weniger entwickelten / islamisch geprägten Gesellschaften vergl. meine diversen Beiträge in: http://gholamasad.jimdo.com/

 

2 Zivilisation im soziologischen Sinne teilt nicht die übliche Funktion des Begriffes als Ausdruck des Selbstbewusstseins der okzidentalen Gesellschaften. Um Zivilisation im soziologischen Sinne zu verstehen, muss man sich von den alltäglichen Wertungen des Begriffes distanzieren. Als ein mehrere Generationen umfassender Prozess weist der Begriff auf eine strukturierte Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in eine ganz spezifische Richtung hin. Dieser Prozess ist immer begleitet von Gegenschüben. Er vollzieht sich als Ganzes ungeplant; aber er vollzieht sich nicht ohne eine eigentümliche Ordnung. Als eine gerichtete Veränderung des sozialen Habitus der Menschen zeigt Norbert Elias in seiner Untersuchung „über den Prozess der Zivilisation“, wie etwa von verschiedensten Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelungen des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird. Wie jeder soziale Prozess ist auch Zivilisierungsprozess reversibel. Diese Umkehrbarkeit manifestiert sich in entsprechende De-Zivilisierung des Verhaltens und Erlebens der Menschen, wie wir sie im nachrevolutionären Iran erlebt haben.

 

3 Der Begriff „sozialer Habitus“ bezieht sich, wie der verwandte Begriff der sozialen Persönlichkeitsstruktur, auf ein spezifisches und mehr oder weniger individualisiertes Gepräge, das jeder einzelne Mensch- trotz seiner Verschiedenartigkeit- mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt. Dieses gemeinsam geteilte Gepräge der interdependenten Einzelnen bildet gewissermaßen den Mutterboden, aus dem diejenigen Merkmale entstehen, durch die sich ein einzelner Mensch von anderen Menschen unterscheidet, mit denen er eine Gesellschaft bildet. Doch dieses Gepräge ist ein Wandlungskontinuum, wie es sich aus der Prozessnatur der einzelnen Menschen und ihrer Interdependenzen ergibt. Um sich ein Bild von diesem individualisierbarem sozialen Gepräge zu machen, wäre es sinnvoll die gemeinsame Sprache als Kommunikationsmittel und die jeweiligen individuellen Sprachstiele in Erinnerung zu rufen.

 

4 Diesen Zusammenhang übersieht auch Niklas Luhmann, (Grundrechte als Institution; ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1974, S.12f.)weil er auch nicht zwischen Institutionalisierung der Grundrechte und Grundrechte als Institutionen unterscheidet; er setzt sie sogar gleich.

 

5 Vergl. Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 190ff. & ders. Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger, München 2004, S.82ff.

 

6 Vergl. Norbert Elias, Was ist Soziologie, München 1986, S. 151ff.

 

7 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in Kant Werke in zwölf Bänden , Insel Verlag Wissbaden 1956, Bd. VII,S. 14 (BA X)

 

8 Also „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant, a.a.O., S. 66 (BA, 52)

 

9 „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“, Kant, a.a.O., S. 60 (BA 66)

 

10 Max Weber, Staatssoziologie, Berlin 1956, S. 27