Überarbeitetes Fragment
I. Zur Bestimmung des Begriffs „Zivilgesellschaft“ als Utopie
Es gibt ein für die gesellschaftliche Entwicklung Irans bezeichnendes Sprichwort, das die Grundüberzeugung und Werthaltung der Iraner der „Gesellschaft“
gegenüber zum Ausdruck bringt: „Wenn Gesellschafter gut wäre, hätte Gott einen Teilhaber“.
Im solch einer Gesellschaft von Menschen ist der Gebrauch des Begriffes „Gesellschaft“ als Kommunikationsmittel über Iran ist ein Novum, geschweige denn der von „Zivilgesellschaft“. Bei der
Kommunikation über diese sich seit jahrhunderten verstaatlichenden Gesellschaft bezog man sich hauptsächlich auf eine Angriffs- und
Verteidigungseinheit. Mit Iran wurde ein Land oder ein Staat identifiziert und zwar zumeist ein Territorialstaat. Mit Nationalstaat wurde diese Integrationseinheit erst allmählich in den
antikolonialen und antiimperialistischen Abwährkämpfe identifiziert. Dabei stand der iranische Staat als eine Verteidigungseinheit immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der sprachprägenden
Schichten, deren Integrität sie seit der Entstehung des Kolonialismus immer befürchtet. Die antikoloniale und antiimperialistische Orientierung der
aufsteigenden Teile des Bürgertums, vor allem das Berufsbürgertum, verdrängte aus dieser Erlebnislage heraus weitgehend den gesellschaftlichen Charakter der Staatsgesellschaft und
damit die Notwendigkeit der Vergesellschaftung eines sich zunehmend zentralisierenden Staates. Dies
trotz der seit der „Konstitutionellen Revolution“, 1906, in der iranischen Verfassung vorgesehenen städtischen und ländlichen Kommunalen Räte und garantierten Assoziationsfreiheiten. Der erste
von Mossadeghs „Nationalfront“ in Angriff genommene Versuch in diese Richtung wurde mit Hilfe eines CIA-Putsches 1953 unterdrückt. Dies führte zu
Etablierung einer weitgehend unkontrollierten Dominanz des Staatsapparates gegenüber der Gesellschaft der Menschen zwar durch eine widerrechtliche Enteignung und Monopolisierung der gesamten staatlichen Machtquellen durch das den Schah und der Kerngruppen des Schahregimes, das jeden institutionellen Kontrollversuch im Sinne institutioneller Demokratisierung des Staates bis zur „Islamischen Revolution“ brutal verfolgte und unterdrückte. Die
materielle Grundlage der weitgehenden Unabhängigkeit und Verselbständigung des Staates als Herstellung und Betrieb der allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft und seiner
weitgehenden Dominanz gegenüber der Gesellschaft, bestand jedoch in der Monopolisierung der zunehmenden Erdöleinnahmen und damit einhergehender relativer Unabhängigkeit von Steuern und sonstigen
Abgaben der „Bürger“.
Diese staatlich weitgehend dominierte Gesellschaft transformierte sich durch die in den 60er Jahren als herrschaftsstabilisierende Maßnahme eingeführte
Landreform im Rahmen der „Weißen Revolution“ des Schahs in einer zunehmend vermasste Gesellschaft von Menschen, mit erheblichen Integrationsprobleme,
deren Lösung sie in einer gemeinsamen Identifikation mit Khomeini als ihren charismatischen Führer fanden.
Selbst bei den iranischen Linken, die im Anschluß an der russischen Revolution von einer künftigen „sozialistischen“ oder „kommunistischen“ Gesellschaft träumten, fehlte der Begriff
„Gesellschaft“, wenn sie über Iran. Sie bezogen sich immer auf die „Masse“. Die Partei, die für dieses gesellschaftliche Ideal kämpfen sollte, bezeichnete sich sogar als „Tudeh-Partei“,
„Massenpartei“, bei der die Bekämpfung des Staates und der Sturz des Schahregimes im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Ihre antikoloniale und antiimperialistische sowie pro-sowietische
Orientierung, verdrängte den gesellschaftlichen Charakter des Staates nur dann nicht aus ihrem Bewußtsein, wenn sie seinen Klassencharakter als
Legitimationsgrundlage ihrer strategischen Orientierung thematisierten. Letztere bezog sich auf die „Eroberung der Staatsmacht“ und „Zerschlagung der Staatsmaschinerie“, gestütz auf die „Massen“,
wobei die Menschenmassen nur als Statisten und Instrumente ihrer Machtergreifung - natürlich in deren Namen - fungierten.
In solch einer Gesellschaft, in der der Begriff Gesellschaft nur zu dem Sprachschatz der wenigen im Ausland ausgebildeten Soziologen gehört, muß „Zivilgesellschaft“ wie ein Fremdwort klingen.
Dies obwohl sie seit der Modernisierung des Staates über ein „Zivilrecht“ verfügen, deren Normen selbst die „Islamische Revolution“ überlebte. Trotzdem wird einer der Präsidentschaftskandidaten
zum Wahlsieger, weil er „Zivilgesellschaft“, „Rechtsstaatlichkeit“ und „Toleranz“ zu seinen zentralen Programmatischen Erklärungen machte.
Die Entstehung und Diffusion dieses Begriffes dürfte nicht nur eine der wahrnehmbaren Anzeichen des zunehmenden Veralltäglichungsschubes der
charismatischen Herrschaft im Iran sein. Sie ist auch symptomatisch für die weitgehende Transformation
der Selbsterfahrung der Menschen als Gesellschaft. Diese Veränderungen kommen vor allem durch den sehr intensiven Diskurs der sprachprägenden Gruppen in den iranischen Zeitungen und Zeitschriften im In- und Ausland zum Ausdruck, die die „Zivilgesellschaft“ als ein
innerweltliches Idealbild kommunizieren.
2. Zur Soziogenese der „Zivilgesellschaft“ im Iran
Dieser Diskurs begann vor allem seit der ersten Hälfte der
80er Jahre zunächst beiläufig als eine Art Reflektion über den revolutionären Zusammenbruch des Schahregimes und die Entstehung der „Islamischen
Republik“ zunächst einmal im Ausland. Überrascht von dem unerwartet raschem Sturz des Schahregimes, wird sein quasi widerstandsloser Zusammenbruch u. a. zurückgeführt auf die vorrevolutionäre
Unterdrückung der „Zivilgesellschaft“ (Hekmat, B. 1985 und Arian, S. 1984), während die „Organisation der Nationalen Republikaner Irans“ 1989 bei Kommentierung ihres 1983 verfaßten Programms, die
Errichtung der Zivilgesellschaft zu einem der Hauptziele ihres Kampfes erklärte. In einer Art selbstkritische Reflektion der Linken, die zur Revision der überlieferten Positionen der
Marxisten-Leninisten führte (Salur, B. 1980), wird nicht nur Teile aus Gramscis „Briefe aus dem Gefängnis“ zum zweiten Male Übersetzt (Milani, A.
1980), in denen er die Zivilgesellschaft thematisierte; die „Zivilgesellschaft“ wird außerdem in einer Abrechnung mit dem leninistischen Demokratieverständnis der Linken (Rahim, A. 1984), die mit
ihrem historischen „Antiliberalismus“ der Entstehung der „Islamischen Republik“ vorschubgeleistet hatten, als alternative Orientierung hervorgehoben. In diesem Sinne erklärte die „Liga der
freiheitlichen Sozialisten“ 1984, die Bildung der zivilgesellschaftlichen Institutionen und die „weitest mögliche Demokratisierung des Staates“ als Grundlage ihrer Politik. Selbst im Sprachschatz
der orthodox gebliebenen Marxisten-Leninisten (Darbandi und Mohajer 1986, 1987) findet „Zivilgesellschaft“ wenn auch als Furchtbild einer möglichen
künftigen Gesellschaft Eingang, als sie in ihrem Abwehrkampf des „Revisionismus“ das Verhältnis der „Zivilgesellschaft“ zum Staat und Klassenkampf thematisieren mußten.
Scheinbar als ein Wunschbild der Emigranten etabliert, beginnen sie sich zunächst Anfang der 90er Jahre mit den Hindernissen und Realisierungschancen der „Zivilgesellschaft“ im Iram (Tiva, M. 1992) zu beschäftigen.
Mit der zunehmenden Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft bekommt dieser Diskurs einen allgemein gesellschaftlichen Charakter, indem auch die im Iran lebende Intellektuelle und Sozialwissenschaftler sich zunehmend für die „Zivilgesellschaft“ interessierten.
Die islamischen Intellektuellen schließen sich seit Mitte der 90er Jahre diesem Diskurs an. Der im Iran geführte Diskurs begann jedoch mit dem Reprint des im Ausland erschienenen Beitrages eines iranischen nichtreligiösen Sozialwissenschaftlers in der religiös-reformistisch orientierten Zeitschrift der National-Liberalen, „Iran-e Farda“ (1996, Nr. 27 und 28). Diese Debatte wurde fortgeführt in einem gemeinsamen „Runden Tisch-Gespräch“ der säkularen und religiösen Intellektuellen, das von der liberal orientierten Zeitschrift der religiösen Intellektuellen, Kiyan (1996, Nr. 33) organisiert und veröffentlicht wurde.
Mit der Wahl des neuen Staatspräsidenten Mohammad Khatamie am 23.Mai 1997, der „die Erweiterung der Zivilgesellschaft“ zur Aufgabe einer von ihm eventuelle geführten Regierung machte (Asr-e ma 12.04.1997, S 3.), bekommt dieser Diskus einen gesellschaftlichen Charakter und die „Zivilgesellschaft“ beginnt zum innerweltlichen Idealbild einer islamisch geprägten Bevölkerung zu werden, die sich anschickt neu zu formieren. Als ein scheinbar emotional tief verankertes Wunschbild einer künftigen Gesellschaft wurde die „Zivilgesellschaft“ zu einem Kampfbegriff der Islamischen Studenten, die während ihrer Demonstration am 4. Nov. 1997 aus Anlaß der Erinnerung an die Besetzung der amerikanischen Botschaft im Jahre 1979 die Errichtung der Zivilgesellschaft forderten[1].
Dem Wahl des neuen Staatspräsident folgte eine rege Kontroverse Debatte der Befürworter und Gegner der „Zivilgesellschaft“ im Iran, die man als Träger der Zivilisierungs- und De-Zivilisierungstendenzen gesellschaftlicher Entwicklung identifizieren kann. Dem Bedürfnis nach Zivilisierung der Gesellschaft, das durch den Wunsch nach „Zivilgesellschaft“ zum Ausdruck kommt, geht eine allgemeine Erfahrung eines nachrevolutionären De-Zivilisierungsschubes. Auf die Umkehr dieses Prozesses ist der zivilgesellschaftliche Diskurs gerichtet.
1. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschiede der auf „Zivilgesellschaft“ bezogenen Wünsch- und Furchtbilder der an dem Diskurs beteiligten Menschen?
Im Zentrum der „Zivilgesellschaft“ als ein gesellschaftliches Ideal der nachrevolutionären Iraner steht ihre Funktion als erwünschte und gefürchtete Vorstellung einer möglichen Lösung akuter gesellschaftlicher Probleme und akuter sozialer Spannungen. Selbst wenn immer noch keine gemeinsame Vorstellung darüber existiert, was konstitutiv für solch eine Gesellschaft ist, wird sie als ein mehr säkularisierter Utopietyp thematisiert, die in bestimmter Weise verschieden ist von der realen Gesellschaft der Iraner, die uns dieses Bild mitteilen. Sie zeigt an, wie deren Träger das Leben ihrer Gesellschaft umzugestalten wünschen oder was sie als mögliche Zukunft ihrer Gesellschaft befürchten. Sie scheint als eine verschriftlichte Utopie in Begriff zu sein, diejenige Gruppenutopien abzulösen, die unmittelbar in der bisherigen sozialen Praxis der Iraner und als Triebkraft jener sozialen Bewegungen eine Rolle spielte, die in ihre gemeinsame Gerichtetheit die „Islamische Republik“ hervorbrachten. Sie entsteht als Alternative gegenüber jenem Fragment breiter und umfassender Sozialutopien, die als gefühls- und handlungsbestimmende Orientierungsmittel im mündlichen Verkehr von Gruppen und im Bewußtsein ihrer Mitglieder die bedeutende Rolle spielte, ohne je einen schriftlichen Niederschlag gefunden zu haben. Die „Islamische Republik“ ist die Verkörperung dieser ungeschriebenen Gruppenutopie, die trotz ihrer unterschiedlichen Versprachlichung, die chiliastischen und nativistischen Triebkräfte der Revolution (vergl. Gholamasad, D. 1985) bereitstellte.
Weit davon entfernt, sich gänzlich von diesen chiliastischen und nativistischen Motiven zu emanzipieren, entsteht die neue Orientierung zum Teil als Gruppenutopie und Resonanz einer durch die Erfahrung der „Islamischen Revolution“ aufgeklärterer Iraner, die ihrerseits die persistierende umfassendere Gruppenutopie zu verdrängen versuchen. Sie entstehen zwar als ein mehr säkularisierter Utopietyp. Aber auch bei diesem Idealbild der Gesellschaft spielt zumeist die spekulative Phantasie ihrer Urheber, der Charakter ihrer Zukunftsbilder als Wunsch- oder Furchtbilder, eine nicht unbedeutende Rolle. Sie berufen sich jedoch in weit höherem Maße als die ältere Utopien auf wissenschaftlich überprüfbare Belege; aber sie projizieren nicht desto weniger beobachtbare vergangene und gegenwärtige soziale Trends - vor allem der weiter entwickelten Gesellschaften als Modell[2] - in die Zukunft der iranischen Gesellschaft. Als quasi-naturale und daher als notwendige Folgeerscheinung eines langfristigen sozialen Prozesses, also als Projektion dieser vergangenen und gegenwärtigen Trends in die Zukunft, erscheit die im iranischen Diskurs thematisierte „Zivilgesellschaft“ als ein Stück der gesellschaftlichen Realität, sei es auch einer künftigen Realität.
Dawud Gholamasad
Zum Entstehungs- und Wirkungszusammenhang der „Zivilgesellschaft“ als eine Utopie im nachrevolutionären Iran
Seit den letzten Präsidentschaftswahlen ist die „Zivilgesellschaft“ zu einem zentralen Kampfbegriff der Mehrheit der iranischen Gesellschaft geworden, die Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, und verfassungsmäßig garantierte Freiheiten zu ihren Hauptforderungen dem „Staat“ gegenüber erhebt. Als ein gesellschaftliches Ideal sind die mit „Zivilgesellschaft“ assoziierten Vorstellungen symptomatisch für eine zunehmende Transformation der Selbsterfahrung der Menschen als Gesellschaft, deren Soziogenese in diesem Beitrag diskutiert werden soll.
1. Islamische Protagonisten der Zivilgesellschaft
Den mächtigsten Teil der Träger der „Zivilgesellschaft“ bildet die mitte-links-liberale Koalition der khomeinistischen Kerngruppen des Establishment. Sie ist zusammengesetzt aus den Technikraten („Die Diener des Aufbaus“), der linksgerichteten chomeinistischen Geistlichkeit („Gesellschaft der kämpfenden Geistliche“), der linksgerichteten zivilen Khomeinisten („Revolutionäre Organisation der Modjahedin der Islamischen Revolution“) sowie der Khatamie nahestehenden liberalen Khomeinisten. Für diese Kerngruppen der Macht der Islamischen Republik gehörte die Förderung der Zivilgesellschaft von Anfang an zu den vernachlässigten Aufgaben der Islamischen Revolution. Dies müßte, dem stellvertretenden Vorsitzenden der staatlichen Organisation für strategische Studien zufolge, daher nachgeholt werden. (Hajjariyan, S. 1996, S. 28). Damit erweist sich die „Zivilgesellschaft“ als eine nachholende Transformation der Selbsterfahrung der Menschen als Gesellschaft.
Auch im Zentrum ihrer „Zivilgesellschaft“ als Idealbild einer Gesellschaft steht ein Bild von in hohem Maße geordneten Gesellschaft, das zugleich Lösungsvorschläge für reale gesellschaftliche Probleme der Gegenwart der „Islamischen Republik“ enthalten - gesellschaftliche Probleme, deren sich ihre Träger als nachrevolutionäre Probleme des menschlichen Zusammenlebens, bewußt sind. Aus der eigenen nachrevolutionären Erfahrung dieser relativ deprivierten Formation des Establishment heraus entsteht ein Wunschbild einer „Zivilgesellschaft“, die dem Sefidi zufolge (Salam, 23.08.1997) u. a. Pluralismus, Toleranz und Partizipation, die Entwicklung der Öffentlichkeit und Sicherung der bürgerlichen Rechte, Entschärfung der sozialen Konflikte, Durchsetzung der Rechtstaatlichkeit, Normierung der Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe und Rationalisierung der Herrschaft fordern würde.[3] Neben der Hervorhebung dieser mit „Zivilgesellschaft“ identifizierten Wunschbilder einer künftigen Gesellschaft und Aufzählung weiterer „Vorteile“, wird sie in einer Erläuterung von Khatamis Regierungsprogramm, u. a. außerdem als Mittel der politischen Entwicklung der iranischen Gesellschaft hervorgehoben ( Asr-e ma, 1997,Nr. 74, S. 8). Zudem wird die Verstärkung des Staates im Sinne der Effektivität der staatlichen Kontrolle als eine der zentralen Funktionen der „Zivilgesellschaft“ hervorgehoben, die ihrerseits zivilgesellschaftliche Entwicklung fördern würde.
- Zur Islamischen Legitimation der „Zivilgesellschaft“
Für die etablierten Protagonisten der „Zivilgesellschaft“ widerspricht sie nicht dem Islam, weil sie, Kadivar, einem ihrer prominentesten urbanisierten Intellektuellen zufolge, außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Schari’a stünde und die von Schari’a unabhängige Sphäre der Gesetzgebung die sogenannte(mantaqat al-faraqe) betreffe. Außerdem würden die die Rechtsgelehrten und „die „Instanzen der Nahahmung“ der Gläubiger (Großajatollahs) ihre vom Staat unabhängige Autorität und Kontrollchance beibehalten und so die Funktion des Staats im Sinne der Zivilgesellschaft überwachen. (Kadivar, M. in: Resalat vom 9.09.1997)
Wie jedes Idealbild des menschlichen Zusammenlebens, hat die „Zivilgesellschaft“ eine Mitteilungsfunktion. Sie ist gerichtet an alle islamisch geprägten Menschen im weiteren soziale Feld der nachrevolutionären iranischen Gesellschaft, die gegen die konservativere Kerngruppen des Establishment mobilisiert werden sollen, die die republikanischen Komponenten der Verfassung praktisch ignorieren und letztlich abzuschaffen beabsichtigen. Sie ist gerichtet auf die Mobilisierung der Menschen für eine institutionelle Demokratisierung der Staatsgesellschaft. Das ist auch wohl der Grund dafür, daß Hajjarian, der den Begriff „religiöse Zivilgesellschaft“ nicht mag, in der islamischen Legitimation der „Zivilgesellschaft“ den Vorteil ihrer allgemeinen Akzeptanz sieht. Sie ist auch ohne weiteres möglich und zwar durch den Bezug auf die mantaqat alfaraq, und mit dem gleichen Argument, mit dem Aj. Khomeine die Notwendigkeit der „Islamischen Republik“ legitimierte. Hatte er die Gründung des Islamischen Staates damit legitimiert, daß ohne sie die islamischen Bestimmungen nicht sanktioniert werden können; kann man heute genauso argumentieren, daß ohne Zivilgesellschaft viele islamische Bestimmungen, wie die kritische Kontrolle des Staates unerfüllt blieben. (Hajjarian, 1996 S.42ff) . In diesem Zusammenhang wird die im § 8 der Verfassung verankerte Pflicht der Muslime hervorgehoben, staatliche Verfehlungen zu bekämpfen („amr-e be maruf wa nahy-e as moker“). Was aber dieses Idealbild der Gesellschaft der Muslime von ihren früheren umfassender Gruppenutopie unterscheidet ist ihre weitgehende Säkularisierung und Humanisierung, die weniger durch den Bruch mit der Tradition als vielmehr durch ihre Modernisierung entstehen kann. Diese nachrevolutionäre Wunsch- und Furchtbilder einer künftigen Gesellschaft scheinen eine zunehmend verbreitete unverzichtbare soziale Orientierungsfunktion zu bekommen, die für das Handeln von Menschen richtunggebend sein können. Der unerwartete Wahlsieg Präsident Khatamis mit 70% der abgegebenen Stimmen deutet auf diese allgemeine Umorientierung der Menschen. Er ist das erste wahrnehmbare Anzeichen zunehmender Zivilisierung der iranischen Gesellschaft.
Diese nachrevolutionären mehr säkularisierte bzw. humanisierte Vorstellungen, die die Menschen von einer möglichen Zukunft machen, entstanden als ein zentraler Aspekt der Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft. Als ein Bild der Gesellschaft von Menschen, die Funktionszusammenhänge miteinander bilden, der eine relative Autonomie gegenüber den Absichten und Ziele der sie bildenden Menschen besitzt, entstand als nachrevolutionäre Erfahrung der relativen Autonomie sozialer Prozesse gegenüber den höchsten Autoritäten. Solange man glaubte, daß Ereignisse das Ergebnis von mehr oder weniger willkürlichen Absichten und Plänen bestimmter übernatürlicher Wesen oder hochgestellter menschlicher Wesen sind, orientierte man sich sowohl freundlich als auch feindlich an diese Autoritäten, die die geheimen Absichten und Pläne kennen könnten. Die „Islamische Revolution“ wäre nicht möglich ohne solch eine von mächtigen höheren Wesen und Lebewesen gesteuerte soziale Einheit.
Im Sinne einer Transformation der Selbsterfahrung der Menschen als einer relativ wenig durchschaubaren Gesellschaft, entstand die Zivilgesellschaft mit steigender Bewußtheit ihrer Undurchschaubarkeit und Kontrollierbarkeit selbst durch den mächtigsten charismatischen „Führer“. Nicht nur das Versagen des charismatischen Führers, sondern auch und vor allem die nachrevolutionäre Erfahrung der zunehmenden Willkür, Intoleranz, Korruption usw. selbst der frommsten und revolutionärsten Mitgliedern der Kerngruppen der Herrschaft und aller nur dem Schahregime zugetrauten Mißstände sowie ihrer Unkontrollierbarkeit, trugen erheblich bei zu dieser gesellschaftlichen Umorientierung der Menschen. Zivilgesellschaft als ein gesellschaftliches Ideal ist Folge der Einsicht in der Tatsache, daß all diese Mißstände, nicht durch die individuelle Ersetzung der Positionsinhaber zu beheben sind, so lange gesellschaftliche Kontrolleinrichtungen der Macht und Mächtigen fehlen. Und die „Zivilgesellschaft“ ist der symbolischer Repräsentanz für diese institutionalisierte Kontrollchance der machtschwächeren Menschen: „Die Zivilgesellschaft ist die beste Form der Partizipation und der Erfüllung der aufgeschobenen Aufgaben der Revolution.“ (Hajjarian, 1996). Sie wird außerdem legitimiert als Form der Verwirklichung des in der Verfassung verankerten Bekenntnisses zur Volkssouveränität. ( Asr-e ma, Nr. 73, 1997, S. 6)
Der Schwerpunkt bei diesem Phantasienbild einer zukünftigen Gesellschaft liegt in höherem maße auf Belege, die systematischer Überprüfung zugänglich sind, als in mehr außerweltlicher Utopie der islamisch geprägten Menschen.
I. Wenn man die Wünsch- und Furchtfunktionen der “Zivilgesellschaft“ als Gemeinsamkeiten aller gegenwärtig im Iran kommunizierten Vorstellungen begreift, stellt sich die Frage:
1. Worin bestehen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der auf „Zivilgesellschaft“ bezogenen Wünsch- und Furchtbilder der an dem Diskurs beteiligten Menschen?
- Im Zentrum der „Zivilgesellschaft“ steht ihre Funktion als erwünschte und gefürchtete Phantasievorstellung einer möglichen Lösung akuter gesellschaftlicher Probleme und akuter sozialer Spannungen.
2. In welcher Weise unterscheiden sich diese Phantasiebilder einer Gesellschaft, von der realen Gesellschaft derer, die uns dieses Phantasiebild mitteilen.
- Wie jedes Idealbild des menschlichen Zusammenlebens, hat die „Zivilgesellschaft“ eine Mitteilungsfunktion. Sie ist an bestimmte Menschen gerichtet, auf die deren Urheber durch Ausdenken und durch deren Mitteilung einzuwirken suchen. Eine der möglichen Unterschiede der im Iran diskutierten Idealbilder der Gesellschaft besteht darin, daß sie an unterschiedliche Menschengruppen gerichtet sein mögen, auf die deren Urheber durch Ausdenken dieser Bilder und deren Mitteilung einzuwirken suchen. Diese Menschen unterscheiden sich durch ihre soziale Lage und als deren Aspekt ihre Erlebnislage. Sie mögen daher gerichtet sein mehr oder weniger an
1. die Kerngruppen der Herrschaft oder aber
2. das weitere soziale Feld als ihre Adressaten haben.
- Ein wesentlicher Struktureigentümlichkeit der „Zivilgesellschaft“ als eine Utopie besteht in ihrer Funktion als eine Handlungsanweisung. (106), wodurch sie sich voneinander unterscheiden mögen. ( z. B. Shorushs Zivilisation und Nacktheit)
II. Als eine Utopie ist „Zivilgesellschaft“ ein Phantasiebild einer Gesellschaft, das Lösungsvorschlägen für ganz bestimmte ungelöste Probleme der gegenwärtigen iranischen Gesellschaft enthält, und zwar Lösungsvorschläge, die entweder anzeigen, welche Änderungen der bestehenden Gesellschaft die Träger einer solchen Utopie herbeiwünschen oder welche Änderungen sie fürchten und vielleicht manchmal beide zugleich.
1- Welche Lösungsvorschlägen für welche ungelöste Probleme der gegenwärtigen iranischen Gesellschaft enthält die Utopie der „Zivilgesellschaft“?
2- Welche Änderungen der bestehenden Gesellschaft wünschen die Träger einer solchen Utopie herbei oder welche Änderungen fürchten sie.
III. Als Wunsch- und Furchgebilde bezieht sich die „Zivilgesellschaft“ auf aktuelle Spannungen und Konflikte der iranischen Staatsgesellschaft. Sie orientiert sich darüber, welche Konfliktbewältigungen ihre Protagonisten als erwünscht oder als unerwünscht vor sich sehen. Das ist eine der zentralen Aspekte des gesellschaftlichen Topos der „Zivilgesellschaft“, den es zu bestimmen gilt und bei dessen Nichtbestimmung es ihrer Untersuchung als einer Utopie an einem festen halt, an einer klaren Struktur fehlt:
1- Auf welche aktuelle Spannungen und Konflikte der iranischen Staatsgesellschaft bezieht sich die „Zivilgesellschaft als ein Wunsch- und Furchtbild?
2- Welche Konfliktbewältigungen sehen ihre Protagonisten als erwünscht oder als unerwünscht vor sich?
3- Warum befürworten die Protagonisten der „Zivilgesellschaft“ gerade diese Lösung zeitgenössischer Probleme, also gerade diese spezifische Art einer Konfliktbewältigung
IV - Bei diesem Phantasiebild von Gesellschaft handelt sich um soziogenetisches Phantasiebild einer staatlich organisierten Gesellschaft. Ihre Bedeutung und ihre Struktur lassen sich bei der wissenschenschaftlichen Erforschung nur dann mit Gewißheit und Klarheit bestimmen, wenn man zugleich die Struktur der realen Gesellschaft kennt, aus der dieses Phantasiebild der Staatsgesellschaft hervorgeht. Bei dieser gesellschaftlichen Verortung der „Zivilgesellschaft“ handelt es sich um ihre soziologische Diagnose. Nur mit einem möglichst wirklichkeitsgetreuem Bild der menschlichen Situation, aus der heraus und in die hinein diese Utopie geschaffen wurde, ist sie zu verstehen und zu erklären.
Jede menschliche Situation hat zwei untrennbare Aspekte. Sie kann als Erlebnislage aus der Perspektive eines Menschen und seiner Gruppe selbst gesehen und rekonstruiert werden, also aus der Perspektive der ersten Person Singular und Plural, aus der Ich- und Wir-Perspektive. Das ist es, was in diesem Zusammenhang „Verstehen“ heißt.
Die Rekonstruktion kann aus der Perspektive des relativ distanzierten Betrachters unternommen werden, der einen anderen Menschen und dessen Gruppe, im weiten Zusammenhang eines sich wandelnden Gesellschaftsgefüge sieht, also aus der Perspektive der dritten Person, aus der EWR- und Sie-Perspektive. Diese Rekonstruktion aus der Perspektive der dritten Person ist es, die in diesem Zusammenhang gewöhnlich „Erklären“ heißt.
Wenn es um Menschen, ihre Werke und Taten geht, bedarf es begreiflicherweise immer beider Sichten, der Sicht aus der ersten und der aus der dritten Person. Es bedarf des Verstehens und des Erklärens, die sich auf vielfältige Weise verschlingen und ergänzen. ( Elias, N., Thomas Morus’ Staatskritik, in: Voßka..., Wilhelm (herg.), Utopieforschung, Stuttgart 1982, S. 100ff)
Um die Soziogenese dieses Wünsch- und Furchtbildes der Gesellschaft und damit auch die Position ihrer Träger im Spannungsgefüge der Gesellschaft zu untersuchen, muß man also fragen:
1. aus welcher sozialen Lage, auch welcher erlebten sozialen Lage, heraus sprechen die Urheben dieses Phantasiebildes?
Die Erfahrung des nachrevolutionären De-Zivilisierungsschubes steht bei der Entstehung des Bedürfnisses nach einer „Zivilgesellschaft“ Pate.
2. in welche Lage, auch welche Erlebnislage, hinein, sprechen diese Menschen, die für eine spezifische, staatlich organisierte Gesellschaft und innerhalb ihrer für ein bestimmtes Publikum, eine bestimmte Schicht von Menschen charakteristisch ist. : Für welche?
Bibliographie.
Arian, S.: Molahezati dar bare-ye enqelab (Überlegungen über die Revolution), in: Iran va Jahan, Nr. 1, USA, 1995, S. 5-40
Asr-e ma 12.04.1997, Nr. 73, 1997
Darbandari und Mohajer: „Naqdi mabani-ye andishe-ye sossialdemokrasi-ye irani“ (Kritik des iranische sozialdemokratischen gedankes); in: Aghazi Nou, Nr. 3/4, Paris 1986, S. 63-77 und Nr. 5/6, S. 43-54.
Gholamasad, D. Iran -die Entstehung der „Islamischen Revolution“, Hamburg 1985)
Hajjarian, S.: Ettela’at-e siayasi-Eqtesai (runder Tischr), Teheran 1996, S. 28; erneut abgedruck in: Djame-eye madani wa Iran-e emruz (Zivilgesellschaft und der heutige Iran), Teheran, 1377 (1999), S. 307f.
Hekmat, B.: Naqd-e molahezati bar enqelab (Kritik der „Überlegungen über die Revolution), in: Akhtar, Nr. 2, Paris 1985, S. 84-98
Kiyan, Nr. 33, Teheran, Vov. - Dez. 1996 (Zeitschrift)
Rahim, A.: Mas’ale-ye masa-el-e demokrasi ( Problem der Probleme der Demokratie), in: Zaman-e Nou, Sonderheft, Patris 1984, S. 8-19
Resalat, Teheran, 9.09.1997 (Tageszeitung)
Salam, Teheran, 5.11.1997, 26.06..97, 23.08.1997, (Tageszeitung)
Tiva, M.: Mavane’ wa chshmandaz-e jame’e-ye madani wa ma’arefat-e orfi dar iran (Hindernisse und Perspektiven der Zivilgesellschaft und der säkularen Bildung im Iran); in: Kankash, Nr. 8, USA 1992, S. 13-44.
[2] Bei der Diskussion der mit der „Zivilgesellschaft“ identifizierten Vorstellungen und Entwicklungen, wird in der Regel auf ihre europäischen Urheber und Entwicklungen zurückgegriffen. Farhadpur, verweist z.B. auf den positiven Beitrag der Reformation auf die Bildung der Zivilgesellschaft in Europa und glaubt, daraus einen für das Verhältnis zwischen Islam und Zivilgesellschaft ebenso geltenden Schluß ziehen zu können. (vgl. Kiyan, Nr. 33, Teheran, Vov. - Dez. 1996, S. 15)