mehriran.de - Hier geht Prof. Gholamasad in einer Replik auf ihm gegenüber vorgebrachte Bedenken zu einem Demokratisierungsprozess im Zusammenhang mit Iran ein. Demokratie ist ein Wandlungskontinuum mit ungewissem Ausgang...
Eine der Rechtsfertigungen der „Reformisten“ für ihre bisher erfolglose Demokratisierungsstrategie ist die Annahme einer Ungewissheit der „Demokratie“ nach dem Sturz der klerikalen Herrschaft im Iran. Wenn sie die Überwindung der bestehenden klerikalen Herrschaft als unabdingbare Voraussetzung der institutionellen Demokratisierung anstreben, fragen sie nach der „Gewissheit“ der Ergebnisse dieses Vorhabens: „Welche Gewissheit besteht, dass ein Sturz des Regimes im Iran zur Entwicklung von Demokratie, wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit führen wird?“ Dabei verwechseln sie eine Prognose als notwendige handlungssteuerendes Orientierungsmittel mit „Prophezeiung“ einer Entwicklung. Sie unterstellen der Fundamentalopposition zudem einen gewaltsamen „Sturz der Regimes“ als eine gewaltsame revolutionäre Transformation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. So verwechseln sie einen „Umsturz“ mit Revolution im Sinne einer strukturellen Transformation bestehender Herrschaftsverhältnisse, die anscheinend nach Meinung der "Reformisten" notwendigerweise gewaltsam verlaufen muss. Als ob die Demokraten verantwortliche wären für die Gewalttätigkeit der Herrschenden in der Unterdrückung des Demokratiebegehrens, selbst wenn sie der Gewalt als „Geburtshelfer“ ausweichen können. Hier möchte ich daher einige problematische impliziten und expliziten Wunsch- und Furchtgeleiteten Annahmen dieser Position diskutieren.
Demokratisierung ist ein Wandlungskontinuum
Eine der problematischen Annahmen dieser Position ist ihr statischer Begriffsapparat, als ob es so etwas wie „Demokratie“ gebe, die sich entwickelt. Sie reduzieren Demokratisierungsprozesse in einen Zustand, der sich entwickelt. Demokratisierung ist ein Wandlungskontinuum. Sie bezieht sich auf eine permanente Wandlung der Figurationen, die interdependente Menschen miteinander bilden. Ihre Interdependenzgeflechte entstehen aus ihren gegenseitigen Angewiesenheiten und Abhängigkeiten, die einer Machtbalance entspricht. Die Demokratisierung bezieht sich auf die Verschiebung dieser Machtbalance zugunsten der Machtschwächeren. Diese Reduzierung der Machtdifferenziale ergibt sich aus der Veränderung der funktionalen Abhängigkeiten der Machschwächeren von den Machtstärkeren. Dabei ist Macht eine Struktureigentümlichkeit jeder menschlichen Beziehung. Sie bezieht sich auf die Chance, das Verhalten anderer Menschen auch gegen deren Willen zu bestimmen. Die Machtquellen sind vielfältig: Macht entspringt ebenso aus emotionalen Abhängigkeiten, ohne die kein Mensch existiert, bis hin zur nackten physischen Gewalt. Die affektiven Bindungen sind nicht weniger zwingend als nackte Gewalt. Entscheidend sind jedoch die funktionalen Abhängigkeiten, in denen sie qua ihrer sozialen Funktionen geraten. Aus der Verschiebung dieser unentrinnbaren funktionalen Interdependenzen zugunsten der mehr Abhängigen, ergibt sich eine funktionale Demokratisierung, unabhängig von dem Bewusstsein der interdependenten Menschen. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die zur Verlängerung der Kette der Abhängigkeiten im Sinne der sozialen Differenzierung führt, ist ein Gradmesser funktionaler Demokratisierung.
Erst das veränderte Bewusstsein über die veränderten Interdependenzen und das veränderte Selbstbewusstsein der eigenen sozialen Position in den Figurationen, die Menschen miteinander bilden, drängen auf normativen Strukturwandel, zur institutionellen Demokratisierung. Die Etablierung demokratischer „Spielregeln“, die als Regulationsprinzip der sozialen Beziehungen verinnerlicht werden, prägt den sozialen Habitus der Menschen, die als kontextabhängige Verhaltens- und Erlebensbereitschaft sozial vererbt werden. Zur Stabilisierung demokratischer Verhältnisse bedarf es daher permanenter Reproduktionsprozesse der entsprechend geprägten Persönlichkeitsstruktur der interpendenten Menschen.
Der Kampf um „Demokratie“ bezieht sich letztlich auf die Institutionalisierung der demokratisch geregelten Machtkämpfe bzw. Kämpfe um die knappen Ressourcen, die als Machtchancen wirkungsmächtig werden können. Die Entstehung eines Rechtsstaates manifestiert diese demokratisch geregelten Machtkämpfe. Hier herrscht das Recht, was zuweilen mit der Herrschaft durch Recht verwechselt wird.
Die drei Dimensionen der Demokratisierungsprozesse sind gerichtet aber nicht zielgerichtet und umkehrbar
Die Demokratisierung bezieht sich also auf funktionale, institutionelle und habituelle bzw. personale Aspekte der Reduzierung der Machtdifferentiale zwischen Etablierten und Außenseitern einer Gesellschaft. Diese drei Dimensionen der Demokratisierung sind komplementäre soziale Prozesse. Sie bedingen sich gegenseitig. Wie alle sozialen Prozesse sind sie auch gerichtet nicht aber zielgerichtet, obwohl sie sich aus den Zielkonflikten der involvierten Menschen ergibt. Sie sind vor allem auch daher rückkehrbar, weil sie ungleichzeitig verlaufen. Bei Erfolg oder Misserfolg der Demokratisierung kommt es also auf die entsprechende Gerichtetheit und Richtungsbeständigkeit der funktionalen, institutionellen und personalen bzw. habituellen Aspekte der Demokratisierung an.
Die funktionale Demokratisierung vollzieht sich als zunehmende Soziale Differenzierung, die von entsprechenden Integrationsprozessen begleitet sein muss, damit ihre Richtungsbeständigkeit gewährleistet ist. Die Ungleichzeitigkeit dieser komplementären Differenzierungs- und Integrierungsprozesse führt in der Regel zu sozialen Desintegrationsprozessen und De-Differenzierungsprozessen.
Die institutionelle Demokratisierung vollzieht sich als Institutionalisierung normativer Strukturen einer funktionalen Demokratisierung im Sinne der Etablierung und Verinnerlichung demokratischer Werte als Orientierungsstandards der involvierten Menschen als deren demokratischer sozialer Habitus. Auch diese komplementären Prozesse müssen nicht immer gleichzeitig und gleichgerichtet verlaufen. Die institutionelle Ent-Demokratisierung, wie im nach-revolutionären Iran, ist ein Nachhinkeffekt des demokratisierten sozialen Habitus der involvierten Menschen hinter vollzogener funktionaler Demokratisierung. Von daher ist Demokratisierung ein permanenter Lernprozess im Sinne der Zivilisierung der Verhaltens- und Erlebensmuster der involvierten Menschen.
Zu den zivilisatorischen Aspekten der Demokratisierung gehören u.a. die Entwicklung von Bürgertugenden, Rechtssinn und Zivilcourage, Gerechtigkeit und Toleranz, Staatsbürgersinn, Gemeinsinn, sowie Besonnenheit, Gelassenheit und Klugheit, wie sie sich ergeben aus der „Rationalisierung“ des Erlebens und Verhaltens im Sinne der „Distanzierungsfähigkeit“ im Wahrnehmung der inneren und äußeren Ereignisse.
Zur Notwendigkeit oder Zwangsläufigkeit der Entwicklung
Mit der Gerichtetheit und der ungewissen Richtungsbeständigkeit der Demokratisierungsprozesse erübrigt sich die Zwangsläufigkeit der Entwicklungsprozesse, wie sie durch die Übertragung der unumkehrbaren evolutionären Prozesse auf soziale Wandlungsprozesse übertragen würde. Man kann zwar evolutionstheoretisch die Entstehung der Menschen aus ihrer subhumanen Stufe annehmen. Die Annahme der evolutionären Rückehrbarkeit der Menschen zu ihren subhumanen Vorfahren wäre absurd, selbst wenn die Menschen sich in der Tat äffisch benehmen. Auch die genetisch fixierten animalischen Verhaltensmuster kann man mit Gewissheit voraussagen, nicht aber das auf Lernen angewiesene menschliche Verhalten. Aus den interdependenten Verflechtungsprozessen der Involvierten ergeben sich daher jene Figurationen, die sie miteinander bilden. Sie unterscheiden sich von den Konfigurationen der Naturprozesse. Sie sind relativ unabhängig von bestimmten Menschen, nie aber unabhängig von Menschen, in den sie hinein geboren werden. Alles was wir als Familien, Stämme, Städte, Staaten, Nachbarschaften, Freundschaften oder Feindschaften usw. kennen, sind Figurationen, die Menschen als Verflechtungszusammenhänge ihres eigenen Lebens miteinander bilden. Da sie handlungsfähige Lebewesen sind, verläuft ihr Leben mehr oder weniger bewusst. Die Umkehrbarkeit sozialer Prozesse ist somit Funktion dieser Verflechtungsprozesse der involvierten Menschen mit ihrer jeweiligen Art zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten. Demokratisierungsprozesse sind genauso wie alle anderen sozialen Prozesse, machen deshalb keine Ausnahme. Von daher kann man mit Gewissheit sagen, dass weniger soziale Differenzierung und Integrierung einer mehr differenzierten sozialen Differenzierung im Sinne der zunehmenden funktionalen Demokratisierung mit Notwendigkeit vorausgegangen sein muss. Daraus ergibt sich aber keine Notwendigkeit ja gar Gewissheit, dass die letztere dem ersteren folgen muss. Was wir aber diagnostizieren können, ist die Möglichkeit ja unter Umständen sogar die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung, weil sie das Ergebnis der Auseinandersetzungen der involvierten Menschen im Demokratisierungsprozess sind.
Ohne eine solche Diagnose könnte kein Mensch irgendetwas planen; nicht einmal ein General wäre in der Lage, einen strategischen Plan zu entwerfen und entsprechende taktische Züge zu planen. Es gäbe nicht einmal die Möglichkeit eines Schachspiels, wenn das Spielergebnis mit Gewissheit voraussehbar wäre. Nicht einmal ein Schachspieler kann alle gegnerischen Züge voraussehen, um mit Gewissheit das Spiel gewinnen zu können. Denn seine erfolgreichen Schachzüge hängen von seiner korrekten Annahme der Wahrscheinlichkeit der gegnerischen Züge ab. Von daher ist es absurd von dem in ihrem existenten Kampf um die Demokratisierung der Lebenschance verwickelten Menschen zu erwarten, dass sie mit Gewissheit den Sieg ihres demokratischen Kampfes vorwegnehmen können. Nur selbst bei angemessener Einschätzung der Kräfteverhältnisse und gegenseitig vorhanden Handlungsspielräume, kann man höchstens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den Ausgang eines Kampfes um die Demokratisierung sozialer Verhältnisse voraussagen und entsprechend in die Kampfarena steigen. Bei demokratischen Kämpfen geht es nicht anders als bei einem Schauspiel, selbst wenn der erstere lebensgefährlich sein sollte. Es geht immer um einen Machtkampf mit einem mehr oder weniger offenen Ausgang. Deswegen wurde das Schachspiel auch als königliches Spiel im Sinne des Probehandels der Mächtigen entwickelt. Auch Kinder müssen spielerisch die Regeln ihres Lebenskampfes lernen. Hindert man sie daran, werden sie nicht angemessen auf ihren bevorstehenden Lebenskampf vorbereitet. Unsere alltäglichen Auseinandersetzungen geben uns auch als Erwachsene die Chance zu lernen, wie wir uns für unsere Rechte einsetzen müssen. Dazu ist allerdings ein Rechtsbewusstsein vorausgesetzt. Trotzdem mangelt es nicht an gescheiterten Existenzen, die in ihrem Lebenskampf nicht erfolgreich waren.
Ja der Ausgang der demokratischen Kämpfe ist nie gewiss; dem, der nach Gewissheit fragt, habe ich nichts zu sagen als auf „Das Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus" von B. Brecht hinzuweisen:
„Neulich sah ich ein Haus. Es brannte. Am Dache
Leckte die Flamme. Ich ging hinzu und bemerkte
Dass noch Menschen drin waren. Ich trat in die Tür und rief ihnen
Zu, dass Feuer im Dach sei, sie also auffordernd
Schnell hinauszugehen. Aber die Leute
Schienen nicht eilig. Einer fragte mich
Während ihm schon die Hitze die Braue versengte
Wie es draußen denn sei, ob es auch nicht regne
Ob nicht doch Wind ginge, ob da ein anderes Haus sei
Und so noch einiges. Ohne zu antworten
Ging ich wieder hinaus. Diese, dachte ich
Müssen verbrennen, bevor sie zu fragen aufhören. Wirklich, Freunde
Wem der Boden noch nicht so heiß ist, dass er ihn lieber
Mit jedem andern vertauschte, als dass er da bliebe, dem
Habe ich nichts zu sagen. So Gothama, der Buddha. [...]“
Hannover, 23.06.2019
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