mehriran.de - Prof. Dawud Gholamasad bringt einige differenzierende Gedanken zu Demokratisierungsprozessen in Iran und zu seiner Forderung nach einer völkerrechtlich verankerten gewaltlosen Intervention der Völkergemeinschaft in einem islamistisch-revolutionär ausgerichteten Staat, der seine Bürger anstatt zu schützen, permanent ihrer Rechte beraubt.
In diesem Beitrag möchte ich drei Aspekte demokratischer Überlegungen in Bezug auf die Islamische Republik Iran thesenartig diskutieren. Der erste Aspekt nimmt Bezug auf die Fundamentalopposition iranischer Demokraten. Hier werde ich darauf eingehen, dass diese Fundamentalopposition der Realität angemessen ist. Im zweiten Aspekt werde ich die von manchen Autoren vorgebrachten Unterstellungen in Frage stellen, diese Opposition sei "islamophobisch" motiviert oder würde die "territoriale Integrität" Irans gefährden. Außerdem soll als dritter Aspekt gezeigt werden, warum eine institutionelle Demokratisierung die Abschaffung der „Islamischen Republik“ zur Voraussetzung hat.
Einleitung: warum Sie diese Gedanken berücksichtigen sollten
Es gibt verschiedene Varianten einer Rechtfertigung der klerikalen Herrschaft im Iran. Abgesehen von der Selbstverständlichkeit des Totalitarismus im Namen Gottes, dem die Fundamentalisten (Usulgerajan) zur Weltherrschaft verhelfen wollen - wofür sie Iran als ihr Sprungbrett betrachten - gibt es inzwischen etwas verschämtere Formen der Apologie. Für diese ist die Islamische Republik die „realexistierende Islamische Republik“ - anscheinend genauso wie der „realexistierende Sozialismus“ - die zwar vom Ideal abweicht, aber trotzdem gegen „Imperialismus“ verteidigt werden müsse. Entsprechend, bedeutet laut dieser Denkweise die Verteidigung der „Islamischen Republik“ gegen „hegemoniale Ansprüche der USA“ eine Verteidigung der „nationalen Integrität“ und „nationalen Souveränität“ Irans; diese gehöre zur patriotischen Aufgabe jedes Iraners. Eine interne Auseinandersetzung zwischen der Opposition und dem Regime sei demgemäß eine „familiäre Angelegenheit“.
Wer sich daher, wegen der bedauerlicherweise unübersehbaren massiven strukturellen Verletzungen der Menschenrechte und alltäglichen Barbarei im Namen Gottes, für den Einsatz der völkerrechtlich garantierten gewaltlosen Intervention der Völkergemeinschaft einsetzt, wird als Verräter der „nationalen Souveränität“ und „nationaler Unabhängigkeit“ Irans verurteil. Darüber hinaus, sei sein Kampf für Demokratie und Menschenrechte „machtpolitisch“ motiviert, islamophobisch und unrealistisch, weil demokratische Kultur im Iran unterentwickelt sei.
Ich werde hier nur auf einige Aspekte dieser Rechtfertigung eingehen. Dabei können folgende Fragen die zugrundeliegenden Glaubensaxiome und Werthaltungen hervorheben, ohne die die Logik der „anti-imperialistischen“ Rechtfertigung der „Islamischen Republik“ durch Teile der systemimmanenten Opposition nicht nachvollziehbar bleibt. Diese wurden in einem Pamphlet gegen mich veröffentlicht:
- Ist die „klerikale Herrschaft“ im Iran gleich „nationale Souveränität Irans“, die gegen hegemoniale Ansprüche der USA verteidigt werden muss? Existiert im Iran eine „Volkssouveränität“, obwohl es für die Islamisten keinen Souverän gibt außer Gott, in dessen Namen sie die Herrschaft beanspruchen?
- Ist tatsächlich die „klerikale Herrschaft“ der zu versteigende Garant der „territorialen Integrität Irans“, trotz Verschärfung regionaler Disparität der Entwicklung und der sich daraus ergebenden regionalen Benachteiligungen, die mit einer Furcht geleiteten, permanenten ethnischen und konfessionellen Unterdrückung einhergehen? Welche ethnische Gruppe im Iran gefährdet Irans nationale bzw. territoriale Integrität mehr als die klerikale Herrschaft, deren Existenz anscheinend nur durch selbst provozierte äußere und innere Feinde garantiert zu sein scheint?
- Ist tatsächlich der demokratische Kampf gegen Totalitarismus für Demokratie und Menschenrechte im Zeitalter der Globalisierung eine „interne Familienangelegenheit“ der Iraner? Was geschieht bei „häuslicher Gewalt“?
- Ist der Hinweis auf die Notwendigkeit der Anmahnung der völkerrechtlich garantierten „Schutzmaßnahme“ der Völkergemeinschaft eine Steilvorlage für den US-Interventionismus, oder nicht doch die permanenten außenpolitischen Provokationen der klerikalen Herrschaft mit ihrer Aspiration zur Weltherrschaft?
- Bedeutet eine Aufforderung zur völkerrechtlich garantierten „gewaltlose Intervention“ für den Schutz der Menschenrechte eine Einladung zur „militärischen Intervention“?
- Warum wird „gewaltlose Intervention“ gleichgesetzt mit oder übersetzt mit „Angriff“?
- Ist der Vorschlag der rechtzeitigen „gewaltlosen Intervention“ als Vorbeugung möglicher „gewaltsamen Intervention“ nicht geboten, angesichts der Erfahrungen in Syrien?
- Ist der Kampf gegen „Islamismus“ tatsächlich ein Kampf gegen „Islam“ oder aus Angst vor „dem“ Islam? Gibt es keinen Unterschied zwischen Islam und Islamismus? Wer profitiert von dieser Gleichsetzung?
- Sind die Iraner immer noch „Demokratie unmündig“? Kommt diese Unterstellung nicht bekannt vor? Wurde die Diktatur des Schah-Regimes nicht genauso Jahrzehnte lang gerechtfertigt?
Diese Fragen sollte jede/r für sich beantworten, wer den vorgeworfenen Verrat an der „nationalen Souveränität und Integrität“ der Frontalopposition beurteilen mag; ich werde hier nur einige Aspekte davon kurz thematisieren.
Islamismus als Gewaltherrschaft versus Kompatibilität von Islam und Demokratie
1. Die Kompatibilität von Islam und Demokratie widerspricht nicht der Inkompatibilität von Islamismus als einer Form der Gewaltherrschaft. Diesen Standpunkt habe ich in mehreren Beiträgen behandelt, auf die ich hier nur verweisen möchte.[1]
Wer der Fundamentalopposition unterstellt "islamophob" gegenüber der „Islamischen Republik“ im Iran zu sein, impliziert die Gleichsetzung des "Islams" mit Islamismus; dies entspricht dem, was die iranischen „Fundamentalisten“ (Usulgarajan) mit Chomeini behaupteten, weswegen sie auch unmittelbar nach der Revolution mit der Verfolgung aller abweichenden islamischen Lesarten begonnen haben. Damit trugen sie bei zur Islamophobie in der ganzen Welt und bestätigten damit die angstgeleitete Behauptung einer Inkompatibilität von Islam und Demokratie. Mit derselben Logik wird auch schon seit Jahren jede Kritik an der Politik der rechtsgerichteten israelischen politischen Parteien als Anti-Semitisch stigmatisiert, was zum Antisemitismus in der Welt beiträgt.
Diese Annahme der Inkompatibilität von Islam und Demokratie geht von einem statischen Begriff des Islams aus und unterschlägt die Tatsache, dass der Islam ein erinnertes Wandlungskontinuum ist. Der Islamismus befindet sich gegenwärtig an einem der extremen Pole dieses Kontinuums im Gegensatz zu dem anderen Pol der liberaldemokratischen bzw. zivilisierten Lesarten des Islams, die selbst eines der Hauptopfer der Islamisten nicht nur im Iran sind. Natürlich gibt es genauso wie es christliche Demokraten im Unterschied zu christlichen Fundamentalisten auch demokratische Muslime, die nicht minder fundamental die „Islamische Republik“ als Verkörperung des Islamismus bekämpfen und sie durch eine säkular-demokratische Republik ersetzen wollen. Auch sie haben aus eigener Erfahrung lernen müssen, dass es keine demokratische islamische Republikgeben kann, weil sie per se alle Andersgläubigen als Bürger zweiter Klasse diskriminieren muss. Wer keine „Apartheid“ anstrebt, begreift, dass der „real existierende islamische Staat“ die einzig mögliche Form der Islamisierung der Staatsgesellschaft ist – das Ende der Sehnsucht!
Islamismus ist aber deswegen mit institutioneller Demokratisierung unvereinbar, weil er mit seinem „unmündigen Menschenbild“[2] der Gesamtheit der demokratischen Tugenden als „personaler Erfordernisse der Demokratie“ total widerspricht; Tugenden, die den sozialen Habitus[3] der sich in einem Übergang von Untertanen zum Bürger befindlichen Menschen mehr und mehr prägt. Zu diesen zivilisatorischen Aspekten der Demokratisierung[4] gehören:
1. Bürgertugenden
2. Rechtssinn und Zivilcourage
3.Gerechtigkeit und Toleranz
4. Staatsbürgersinn
5. Gemeinsinn
6. Besonnenheit, Gelassenheit und Klugheit.[5]
Das islamistische Bild von Menschen als „Unmündige“, die zur bedingungslosen Gefolgschaft der religiösen Autoritäten verpflichtet sind, widerspricht jedem demokratischen Selbstbild eines Menschen. Es entspringt einer „Hybris“ („Taghoot“) ja gar einem „Gotteskomplex“ der Islamisten, den sie projektiv in ihren zu „Feinden“ erklärten Menschen permanent bekämpfen wollen. Diese extreme Form der Selbstüberschätzung manifestiert ihren Realitätsverlust und die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Leistungen und Kompetenzen, die als Destruktivität ihrer Ideale ihre Innen- und Außenpolitik steuern. Ihre demonstrative Hervorhebung der als eigen definierten Werte und die rücksichtslosen Versuche, ihnen als „islamisch“ Geltung zu verschaffen, manifestiert die kollektive narzisstische Persönlichkeitsstörung dieser islamisch geprägten Menschen, die sich vor allem durch einen krankhaften Mangel an Empathie offenbart. Damit ist der Islamist vor allem nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren. Ihre Menschen verachtende Brutalität gegen „andere“ Menschen ist nicht nur darauf zurückzuführen. Sie entspringt auch ihrer Verschmelzungsphantasie mit einer idealisierten charismatischen „Wir-Gruppe“ bzw. einem kollektiven Charisma, das sie als islamisch definieren. Deswegen ist ein so geprägter „Islamischer Staat“ die praktische Negation aller Bürgertugenden, des Rechtssinns, der Gerechtigkeit und Toleranz, des Staatsbürgersinns, des Gemeinsinns und der Besonnenheit. Diese Negation wurde nicht nur durch Chomeini selbst betont, als er beim postrevolutionären Referendum sich vehement gegen eine „demokratische“ Titulierung der „islamischen Republik“ als „westlich“ aussprach. Denn für die Islamisten ist Demokratie „westlich“ und ist deshalb verboten („haram“). Deswegen auch „Boko-haram“ in Afrika, weil „westlich“ als Nicht-Islamisch gilt. Infolgedessen auch die alltäglichen „anti-imperialistischen“ Versuche, alles als „westlich“ definierte im Iran zu eliminieren. Auch Chomeini begründet schon die Notwendigkeit des „islamischen Staates“ als ein antikoloniales Projekt.[6]
Doch diese anti-imperialistische Abwehr der Fremdbestimmung und Assimilation der Muslime muss nicht unbedingt krankhaft sein, um islamisch zu sein. Denn es liegt in der Natur jedes Menschen nach „Selbst-Konsistenz“ zu streben, die sich aus der Dissonanz-Erfahrung der Menschen in Globalisierungsprozesse ergibt. Der Islamismus ist aber eine krankhafte Strategie der Herstellung der „Selbst-Konsistenz“, weil er alles Islamische auf die „Scharia“, als „Gottes Gesetze“ reduziert. Und die Wiedereinführung dieser als Garant der Wiederherstellung der glorreichen Vergangenheit der Muslime begreift. Diese unveränderbaren Gesetze scheinen dem Islamisten die Basis der glorreichen Vergangenheit der Muslime gewesen zu sein, mit der sie sich identifizieren und deren Vernachlässigung zum Untergang des islamischen Reich geführt hätte. Diese wahnhafte Vorstellung der Wiederherstellung einer glorreichen Vergangenheit wird potenziert, wenn sie über die monopolisierte Staatsgewalt verfügen. Als „Gottes Fügung“ glauben sie an eine selbstwertdienliche Sendung, deren Bewusstsein sie in ihrer Frömmelei im Alltag beweisen müssen. Dabei reduziert sich die Islamisierung in der „Wahrung des Islamischen Scheins“, dessen Verletzung tagtäglich und mit aller Gewalt sanktioniert wird.
Man braucht bloß das Alltagsverhalten der Islamisten im Iran mit dem aktuellen Klassifikationssystem der „American Psychiatric Association“ (DSM-5)[7] zu vergleichen, um die Demokratiefähigkeit solcher narzisstisch gestörten Persönlichkeiten zu überprüfen. Demnach müssen mindestens fünf der zehn Kriterien erfüllt sein, um als narzisstisch gestört zu gelten. Wir brauchen allein ihre Grandiositätsphantasie und mangelnde Empathie hier zugrunde zu legen um exemplarisch ihre Unverträglichkeit mit demokratischen Grundnormen zu bestätigen: Ist der Islamist nicht etwa getragen von einem grandiosen Gefühl der eigenen Wichtigkeit und Überlegenheit, artikuliert in seinem gruppen-charismatischen Anspruch, „Gottes auserwähltes Volk“ zu sein. Ist etwa dieser Anspruch verträglich mit dem demokratischen Ethos der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen im Sinne von Rechtsinn, Gerechtigkeit und Toleranz? Kann er mit seinem Mangel an Empathie, willens sein, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren. Wie ist es sonst möglich, die institutionalisierte Diskriminierung der Frauen sowie Andersdenkender und Andersgläubiger zu begreifen, wenn nicht krankhaft? Sind diese institutionalisierten Diskriminierungen vereinbar mit Bürgertugenden, dem Rechtssinn, der Gerechtigkeit und Toleranz, dem Staatsbürgersinn, oder dem Gemeinsinn? Dabei vernachlässigen wir ihre Identitätspolitik, die gekennzeichnet ist durch übermäßigen Vergleich mit anderen – dem „Westen“ - zur Selbst-definition und Selbstwertregulation; auch ignorieren wir ihre Selbst-steuerung und ihre persönliche Zielsetzung, die sich am Erlangen von Anerkennung durch andere orientiert ist – vor allem uneingestanden vom „Westen“ – gegen die sie sich permanent abgrenzen müssen.
Warum sind alle „Anderen“ bloß so „unrein“, die gemieden werden müssen, wenn sie nicht eliminierbar sind? Weswegen richtet sich auch ihre selbstwertdienende Außenpolitik nach den Kriterien: „Würde, Weisheit und Zweckmäßigkeit“. Wobei die Betonung auf Würde liegt, während sich die Weisheit und Zweckmäßigkeit auf ihre Selbsterhaltung als klerikale Herrschaft richtet. Nur, wer unter einem solch schwachem Selbstwertgefühl leidet, ist auf die Bestätigung anderer angewiesen. Es ist dieses plagende Minderwertigkeitsgefühl der Islamisten, das sie zur Einforderung der Anerkennung ihrer eigenen „Würde“ von den Mächtigen dieser Welt treibt. Und weil sie mehr Wert mit mehr Macht gleichsetzen, müssen sie nach mehr Macht streben. Wobei sie die Quelle aller Macht nur in Waffengewalt sehen. Den Beweis ihrer Machtstärke sehen sie in der Chance der Ausweitung ihres Herrschaftsbereichs. Die Unterwerfung anderer mit allen Mitteln ist ihr Lebenssinn, den sie als Gottes Auftrag begreifen. Ihre destruktive Innen- und Außenpolitik ist daher nichts Anderes als kompensatorische Handlungen der unter Minderwertigkeit leidenden Menschen. Wegen ihrer unstillbaren Leiden unter dem Minderwertigkeitsgefühl müssen „Andere“ leiden. Ihr scheinbar unstillbarer Sadismus im In- und Ausland ist darauf zurückzuführen. Warum mussten sonst so viele Menschen im Iran ihr Leben lassen und Millionen ins Exil getrieben werden? Weshalb mussten Millionen Syrer ihr Leben lassen und Millionen vertrieben werden? Was haben die „Revolutionsgarden“ der „Islamischen Republik“ dort verteidigt? Welcher Iraner identifiziert sich mit solcher Barbarei?
Vergessen wir für einen Moment diese außenpolitische Barbarei. Betrachten wir ihre Bindungsunfähigkeit als ein unübersehbares Symptom ihrer narzisstischen Persönlichkeits-störung. Ist ihre Unfähigkeit zu Nähe, nicht etwa durch die nachrevolutionäre Eliminierung all ihrer engsten Wegbegleiter ausreichend belegt worden? Sind ihre zwischenmenschlichen Beziehungen nicht etwa weitgehend oberflächlich, dienen sie nicht ausschließlich ihrer Selbstwertregulation; ist ihre Gegenseitigkeit nicht etwa eingeschränkt durch geringes echtes Interesse an den Erfahrungen anderer und durch das vorherrschende Bedürfnis nach persönlichem Gewinn?
Die „Islamische Republik“ ist daher geprägt und wird gesteuert durch diese unübersehbare kollektive narzisstische Persönlichkeitsstörung dieser islamisch geprägten Menschen, deren gruppencharismatischen Anspruch nicht von allen Muslimen geteilt wird. An eine Demokratisierung eines solchen totalitären Staates zu glauben, zeugt daher von einem anscheinend unverzichtbaren Selbstbetrug der durch Selbst-Inkonsistenz geplagten „Reformisten“.
Spannungsfelder der "Reformisten"
2. Die Legitimationsversuche der vergeblichen systemimmanenten demokratischen Partizipationsversuche sind daher als weniger bewusste Versuche der Kognitiven Dissonanz-Reduktion der „Reformisten“ zu begreifen. Mehr oder weniger demokratisch motiviert, haben sie an dem Sturz des Schah-Regimes mitgewirkt, weil sie u.a. die außer Kraft gesetzten verfassungsrechtlich garantierten demokratischen Rechte in Anspruch nehmen wollten. Mit der Entstehung der „Islamischen Republik“ vollzog sich jedoch eine institutionelle Ent-Demokratisierung, indem sogar die zuvor formell verbriefte aber seit Jahrzehnten praktisch suspendierte Volkssouveränität durch die Hierokratie ersetzt wurde. Durch die verfassungsmäßig garantierte absolute klerikale Herrschaft und Islamisierung des Alltagslebens wurde nicht nur die Volkssouveränität praktisch aufgehoben; auch alle zuvor gelebten Freiheitsrechte im Alltagsleben wurden abgeschafft. Diese institutionelle Ent-Demokratisierung, die unmittelbar nach der Revolution gewaltsam durchgesetzt wurde, rief auch unter den islamisch orientierten Oppositionsgruppen erheblichen Widerstand und Reformbestrebungen hervor. Diese wurden aber sukzessiv gewaltsam unterdrückt, zuletzt mit der blutigen Unterdrückung der „Grünen Bewegung“ 2009.[8]
Angesichts der dadurch verschärften Ambivalenz zur „Islamischen Republik“, dem ersten etablierten „Islamischen Staat“, wurden die weitgehend marginalisierten „islamischen Reformisten“ getrieben von einer mehr oder weniger schwer erträglichen inneren Spannung, die unwillkürlich aus ihrer „Kognitiven Dissonanz“ hervorgeht. Diese erzeugten inneren Spannungen, die aus dieser Doppelbindung entstehen, treiben zu einem Spannungsabbau. Als Dissonanz-Reduktionsstrategien sollen daher die Legitimierung ihrer weiteren vergeblichen systemimmanenten Reformversuche begriffen werden, die vor allem durch fünf Komponenten gekennzeichnet sind:
a) Durch ihre weiter bestehende ideologische Bindung an die „real existierende islamische Republik“, die sie gern reformiert erhalten wollen,
b) Durch ihre Abneigung gegen die „westliche Demokratie“, die sie als „Verwestlichung“ schon vor der Revolution ablehnten und
c) vor allem durch ihr Furchtbild eines künftigen Staates, in dem sie keine hegemoniale Rolle spielen könnten,
d) Durch die Betonung der Ungewissheit der bevorstehenden politischen Entwicklungsperspektive, die sie mit ihrer Angst vor möglichem „territorialen Zerfall“ des Landes hervorheben. Durch dieses Angstszenario wird allerdings ihr Sonderinteresse deutlicher als Allgemeininteresse ideologisiert.
e) Um ihre bisher vergeblichen Reformversuche weiter zu legitimieren, betonen sie schließlich die Funktion der für die „Demokratie“ notwendigen Lernprozesse in den systemimmanenten Kämpfen um die Alltagsprobleme. Denn die „Demokratie“ sei schließlich kompliziert und müsse gelernt werden. Und dazu bräuchten Menschen Zeit. Unterschlagen wird allerdings, dass sie bis jetzt - nach dem Motto „Mobilisierung von Unten und Verhandeln von Oben“ - die Menschen bloß als „formaldemokratische Staatsbürger“ im Sinne einer „Oligarchiesierten Demokratie“ der klerikalen Herrschaft begreifen, in der sie nur als „Stimmbürger“ funktionieren - ohne „partizipatorische Staatsbürgersinn“ - d.h. eine Bürgerschaft, die für sich keine institutionellen Mitwirkungsmöglichkeiten einfordert. Damit hoffen sie anscheinend weiterhin die „Demokratiemündigkeit“ der „formaldemokratischen Staatsbürger“ zu fordern.
Nationale Souveränität und Schutzverantwortung
3. Doch mit der Mobilisierung der Hoffnungen der leidenden Bevölkerung auf eine Besserung ihrer Lage instrumentalisieren sie diese „Wahlbürger“ nicht nur seit Jahrzehnten zur Stabilisierung der Klerikalen Herrschaft, die jede Wahlstimme als „Treuebezeugung“ zum Führer und Bestätigung der Legitimation der klerikalen Herrschaft propagiert. Damit dienen die „Reformisten“ weiterhin der Erhaltung eines Demokratie feindlichen Regimes, das sich nicht nur durch seine Inkompetenz, allgemeine Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft herzustellen und zu betreiben auszeichnet; sondern auch durch seine expansiven außenpolitischen Abenteuer - im Sinne des Exports der Revolution - zur Hauptquelle der Gefährdung der „nationalen Sicherheit“ und „territorialen Integrität des Landes“ geworden ist. Delikte, die in der Regel jedem Regimekritiker vor dem illegalen „Revolutionstribunal“ immer noch vorgeworfen werden.
Von daher ist die patriotische Pflicht aller Demokraten, sich für die Abwendung dieser Gefahren durch die Demokratisierung Irans einzusetzen. Dazu die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren, ist eine unverzichtbare Maßnahme, die auch völkerrechtlich durch die „Schutzverantwortung“ [9] garantiert ist[10]. Davon sollte sich niemand aufhalten lassen, selbst wenn man als „Verräter“ stigmatisiert werden sollte.
Man erinnere sich an die deutschen Antifaschisten, die sogar lange in der BRD als „Vaterlandslose Gesellen“ beschimpft wurden. In dieser Tradition zu stehen, ist eine Ehre, denn dadurch wird erst die nationale Souveränität der Iraner verteidigt. Denn die „Schutzverantwortung“ trifft zunächst den Einzelstaat und umfasst seine Pflicht, das Wohlergehen der ihm kraft seiner Personal- oder Gebietshoheit unterstellten Bürger zu gewährleisten. Bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung wird er von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt, der eine subsidiäre [11] Schutzverantwortung zukommt. Ist jedoch die politische Führung eines Staates nicht fähig oder willens, seine Bürger vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, darf die internationale Staatengemeinschaft zum Schutz der bedrohten Bevölkerung eingreifen. Dazu stehen ihr nach Maßgabe der Charta der Vereinten Nationen zivile und militärische Mittel zur Verfügung, über deren Einsatz der Sicherheitsrat entscheidet. Die Aufforderung zur gewaltlosen Intervention als Vorbeugung möglicher notwendiger militärischer Intervention, wie wir es in Syrien erlebten, bezieht sich auf diese mögliche „zivile Intervention“.
Die theoretische Grundlage dafür ist die Definition von Souveränität als Verantwortung (sovereignty as responsibility), wonach ein Staat Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung übernehmen muss, um als souverän zu gelten. Die R2P hilft damit, universale Moralvorstellungen zum Schutz des Menscheninternational zu verwirklichen. Als schwere Menschenrechts-verletzungen, zu deren Unterbindung die subsidiäre Schutzverantwortung der R2P zum Tragen kommen kann, werden Völkermord, Kriegs-verbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen identifiziert.
Die demokratischen Staaten der Weltgemeinschaft an diese völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erinnern und sie dazu aufzufordern, ihren Rechtspflichten nachzugehen, ist eine patriotische Pflichtjedes Iraners unter der totalitären klerikalen Herrschaft. Die Wirkungsmächtigkeit dieser Mobilisierung der Weltöffentlichkeit hat sogar das Regime kürzlich – durch den „Menschenrechtsbeauftragten des Justizministeriums“ - dazu gezwungen, sich als „das demokratischste Land der Welt“ zu rechtfertigen. Dies, obwohl sie seit der Revolution die „Demokratie“ als „westlich“ ablehnen.
Die völkerrechtlich garantierte Schutzmaßnahme ist kein Angriff!
4. Anscheinend ruft der Hinweis auf diese völkerrechtlich garantierte „Schutzmaßnahme“ eine unbegründete Sorge hervor, dem US-Interventionismus eine Steilvorlage zu bieten. Als ob die USA auf dieser Aufforderung gewartet hätten, oder die iranische Opposition gar für die außenpolitischen Motive der USA mitverantwortlich gemacht werden kann.
Nicht diese Anmahnung der völkerrechtlichen Pflicht der Völkergemeinsaft ist ein Verrat der „nationalen Souveränität“, sondern die Duldung des „Exports der Islamischen Revolution“ durch die „Islamische Republik“, die nicht nur regionale Abwehr der Feindseligkeiten mobilisiert. Und zwar von einem Regime, das nur die „Gemeinschaft der Muslime“ („Islamische Ummah“) kennt und einen nationalstaatlichen Bezugsrahmen der Selbsterfahrung – schon seit Chomeini - als Verrat an der Revolution verurteilt. Selbst der gegenwärtige „Führer“ wird nicht müde immer wieder hervorzuheben, er sei ein Revolutionär, kein Politiker oder Diplomat. Damit unterscheidet er selbst betont zwischen seiner Mission als Islamistischer Revolutionsführer und dem Staatsoberhaupt Irans. Er hat aber trotzdem qua Verfassung zugleich die Richtlinienkompetenz eines Staatsoberhauptes, der nach einem persischen Sprichwort „weder fliegen noch Lasten tragen kann, wenn es darauf ankommt“ - ohne je Verantwortung für seine Entscheidungen übernehmen zu müssen. Seine opportunistische Mobilisierung des nationalen „Wir-Gefühls“ in „Krisensituationen“ ist bloß eine politische Instrumentalisierung des „Gemeinschaftsgeistes“ der Iraner, die die Kerngruppe der Macht in der „Islamischen Republik“ als ihren eigenen Schutzschild benutzt. Die iranische Nation, als eine „Solidargemeinschaft“, ist für sie nur ein menschlicher Schutzschild, genauso wie die Islamisten in Irak und Syrien die Menschen als ihren Schutzschild benutzten.
Wie jeder Staat eine Schutzgemeinschaft ist, ist die „Islamische Republik“ eine Verteidigungs- und Angriffseinheit. Die Balance zwischen ihrem Verteidigungs- und Angriffscharakter ist entscheidend für die Gestaltung der Innen- und Außenpolitik des Landes, sowie die Strukturierung des Militärapparates und ihrer Ausrüstung. Im Falle der „Islamischen Republik“ neigt die Balance zwischen Angriffs- und Verteidigungscharakter des Staates zugunsten seiner Angriffstendenzen wie bei jedem totalitären Staat. Deswegen verfügt auch die „Islamische Republik“ über zwei militärische Organisationen. Während der iranischen Armee die nationale Verteidigungsaufgabe zukommt, soll die „Revolutionsgarde“ die „Revolution“ schützend exportieren; sie ist daher eine Angriffseinheit der „Islamischen Revolution“, die eine permanente ist – bis die Weltherrschaft der Islamisten hergestellt ist! Deswegen beginnt der Patriotismus der Iraner mit der Aufgabe des Selbstbetrugs. Sonst folgt ein erwartungsgemäßer Pawlowscher „bedingter Reflex“ auf eine als Angriff gegen die nationale Souveränität empfundene außenpolitische Maßnahme anderer Länder, wie wir sie nach der US-Erklärung der „Revolutionsgarden“ zu einer „terroristischen Organisation“ erlebten. Auf einmal identifizieren sie sich alle mit den „Revolutionsgarden“ als Teil der „nationalen Armee“ anstatt sich an den unbeabsichtigten Folgen dieser Erklärung für die mögliche Forderung der Demokratisierung zu orientieren, wie man von verantwortungs-bewussten Menschen erwarten würde. Auch die „Reformisten“ reagierten beleidigt und verteidigten die „Revolutionsgarden“ „gesinnungsethisch“ motiviert, anstatt ihrer „Verantwortungsethik“ gemäß überlegt zu handeln. Dies würde aber ihrer „kritischen“ Erhaltungsstrategie widersprechen. Demnach hätten sie die Gelegenheit wahrgenommen, um der allgegenwärtigen Herrschaft der „Revolutionsgarden“ auf allen Ebenen Schranken zu setzen, wenn sie sie nicht gänzlich aufheben können.
Wäre damit nicht die Gelegenheit gegeben, wenigsten die „Revolutionsgarde“ in der regulären Armee zu integrieren? Oder die sanktionierten Bereiche zumindest der Kontrolle der „Revolutionsgarden“ zu entziehen und der gewählten Regierung zu unterstellen, die diese unkontrollierbare Dominanz ständig beklagt? Hat nicht zuletzt Präsident Rohani selbst dies öfter beklagt? Die „Reformisten“ sind anscheinend nicht einmal in der Lage, ihrer „kritischen“ System-erhaltungsstrategie gerecht zu werden, geschweige denn demokratisch motiviert zu handeln.
Wie kann eine Demokratisierung in Iran gelingen?
5. Doch die angstbesetzte Erhaltungsstrategie der „Reformisten“, die niemals konkret sagen, was und wie sie reformieren wollen, beruht auf bestimmte fragwürdigen theoretischen Annahmen über Demokratisierungsprozesse im Allgemeinen und die unter einer totalitären Herrschaft insbesondere.
Im Unterschied zu einigen oppositionellen Gruppen, die „die Demokratie“ als einen Kampfbegriff kommunizieren, ohne klare gemeinsame Vorstellung darüber, wie sie aussehen soll und wie sie etabliert werden soll, haben die Reformisten einen statischen Begriff von „institutioneller Demokratie“, die ohne „Kultur der Demokratie“ nicht möglich wäre. Deswegen werfen sie der Fundamental-opposition eine Verantwortungslosigkeit für die Folgen eines Sturzes des Regimes vor, weil die „kulturellen Voraussetzungen“ der Etablierung der „Demokratie“ fehlen. Abgesehen davon, dass hiermit auch die Diktatur des Schah-Regimes Jahrzehnte lang gerechtfertigt wurde, vergessen sie, dass immer noch die herrschende Kultur die Kultur der Herrschenden ist (Marx). Diese Tatsache belegt auch die jüngste empirische Untersuchung der Entwicklung effektiver Teamarbeit unter Universitätsstudenten, die solche Demokratie dienliche „kulturellen Lernprozesse“ unter dem Totalitarismus fragwürdig erscheinen lassen.[12] Diese Untersuchung ist auch davon ausgegangen, dass die Entwicklung effektiver Teamarbeit einer der wichtigsten Faktoren für eine nachhaltige Entwicklung sei. Wenn die Interessen der Vielen über die individuellen Interessen gestellt werden, kann der Annahme nach, die Bildung einer kollektiven Identität und die Optimierung der Gruppen-aktivitäten ermöglicht werden. Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten könnten daher ideale Orte sein, um die Prinzipien der Teamarbeit zu erlernen. Demnach scheint es zwar, dass das Erlernen dieser Prinzipien eine der wichtigsten Bildungsleistungen, insbesondere an Universitäten zu sein. In dem veröffentlichten kurzen Beitrag wird aber das Ergebnis dieser Untersuchung der Entwicklung der Teamarbeit an der „iranischen Universität“ als Beispiel für eine „Universität im Umbruch“ kritisch enttäuschend diskutiert. Demzufolge wurde diese Studie unter Verwendung von Daten aus einer nationalen Erhebung und der Erfahrung der Leitung von zwei Fällen von Teamarbeit in zwei Universitätsklassen durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie zeigen aber, dass Faktoren wie mangelndes Vertrauen in die Fähigkeiten anderer Teammitglieder, selbstsüchtiger Individualismus und vorherbestimmte autoritative Arbeitsteilung zu den Haupthindernissen für die Verwirklichung effektiver Teamarbeit in der iranischen Universitätsklasse gehören - so die Zusammenfassung.[13]
Mit dieser Miniuntersuchung kann nachgewiesen werden, wie die totalitäre Herrschaft auf allen Ebenen den sozialen Habitus der Menschen prägt, obwohl die „Reformisten“ uns eine mögliche Kultivierung der Demokratie im Alltagsleben in Aussicht stellen. Eine „Kultur der Demokratie“ entsteht aber durch die praktische Kultivierung der Demokratie im Sinne der partizipatorischen Demokratisierung und der dadurch entstehende Gemeinsinn, der einer institutionellen Trennung von Staat und Gesellschaft entgegenwirkt. Sie entwickelt sich durch die Vergesellschaftung des Staates nicht durch die totale Verstaatlichung der Gesellschaft wie in der „Islamischen Republik“ – wo jeder zivilgesellschaftliche Ansatz als „Sicherheit gefährdend“ verfolgt wird.
Wo keine Kooperation möglich ist, ist auch keine Kultivierung der Demokratie möglich; und wo keine Kommunikation möglich ist, ist auch keine Kooperation möglich. Seit wann wird eine (öffentliche) Kommunikation und Kooperation in der „Islamischen Republik“ geduldet? Heutzutage darf man nicht einmal die sonst traditionell vorgeschriebenen Trauerfeierlichkeiten abhalten. Nicht einmal kollektives Trauern ist zugelassen, geschweige denn zivilgesellschaftliche Kooperation als Formen der Kultivierung der Demokratie oder Demokratisierung der „Kultur“! Gerade hier, wo Vermassung der Individuen reproduziert werden soll, sollen wir eine Kultivierung der Demokratie als eines Lebensstils erwarten!?
Mit ihrem statischen Demokratiebegriff schaffen die „Reformisten“ jedoch ein unlösbares - „Ei oder Huhn“- Problem, weil sie noch nicht bereit sind, sich selbst die Wahrheit zuzugestehen: unter einer totalitären Herrschaft ist keine systemimmanente Demokratisierung der Kultur oder Kultivierung der Demokratie möglich. Die demokratische Kultur selbst entsteht im alltäglichen Kampf für Demokratie und umgekehrt. Dies sind Rückkopplungsprozesse, wenn man begreift, dass weder Demokratie noch Kultur statische Zustände sind. Sie sind interdependente Wandlungskontinuen, die sich aus menschlichen Verfechtungsprozessen ergeben. Dieser Zusammenhang ist nur einsichtig, wenn man begreift, dass Macht eine Struktureigentümlichkeit jeder menschlichen Beziehung ist und damit auch Machtkampf. Demokratisierung ist nichts anderes als die Verschiebung der Machtbalance zugunsten der zuvor Machtschwächeren, und zwar funktional, institutionell und sozial- habituell. Die Demokratisierung des Sozialen Habitus der involvierten Menschen in diesen Machtkämpfen ist, was man als Demokratisierung der Kultur und Kultivierung der Demokratie begreifen kann – ein permanenter Rückkopplungsprozess! Diese Zivilisierung der Beziehungssteuerung der Menschen ist wie jeder soziale Prozess auch reversibel, wie wir es in der iranischen Revolution erlebt haben; denn eine islamische „Konterevolution“ ist auch eine Revolution. Sie entstand als ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Mehrheit der involvierten Menschen, wie sie sich aus der wachstumsorientierten Modernisierung Irans ergab.[14]
Selbstbetrug der Reformisten
Die statischen Begriffe der „Kultur“ und „Demokratie“ ermöglichen aber einen selbstwertdienlichen Selbstbetrug der „Reformisten“. Dadurch bleiben nicht nur sie selbst gefangen in den Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, die das Regime ihnen vorgibt; sie helfen auch zur Reproduktion des Totalitarismus, der sich ihrer Ängste vor sozialen Abstiegsmöglichkeiten in einem genuin demokratischen Transformationsprozess bedient. Zumal die klerikale Herrschaft, die mit Chomeini die Demokratie als „westlich“ ablehnte, nun unter internationalem Legitimationsdruck, sich - mit den schein-demokratischen „Wahlen“ der zuvor selektierten systemloyalen Kandidaten - sogar als eine der „demokratischsten Länder der Welt“ rühmt. Zu dieser Legitimierung des Totalitarismus tragen nicht minder die „Reformisten“ durch ihre possenhafte „Wahlbeteiligung“ bei.
Die durch das Regime vorgegebenen engen Handlungsspielräume der „Demokratie-Übung“ in den Alltagskämpfen untermauern die Bedeutung des institutionellen Bezugsrahmens sozialer Auseinandersetzungen. Abgesehen davon, dass das Regime die Bedeutung des institutionalisierten Interessenkonflikts als einen Ordnungsfaktor übersieht. Es entgeht auch der systemimmanenten Opposition, wie entscheidend die Funktion demokratischer Institutionen als notwendige Fremdzwänge bei den Demokratisierungsprozessen ist. Vor allem lassen sie außer Acht, dass ihnen eine Entlastungs-funktion zukommt, solange die Verinnerlichung demokratischer Normen als „zweiter Natur“ der Menschen noch weitgehend fragil ist. Diese Entlastungsfunktion demokratischer Institutionen fehlt in einer totalitären Herrschaft, die durch die Dominanz der Staatsgewalt gekennzeichnet ist und nur fremdgesteuerte Verhaltensmuster kultiviert. Die Habitualisierung demokratischer Normenbedürfen aber einer regelmäßigen Übung, bis sie als Sozialer Habitus bzw. „personaler Aspekt“ der Demokratisierung quasi wie ein „Instinktersatz“ funktioniert. Dieser Prozess impliziert einen mit ungeheurer Angst verbundenen Individualisierungsprozess der Menschen, die selbst-verantwortlich entscheiden und handeln lernen müssen. Der Spracherwerb eines Menschen ist ein gutes Beispiel dafür. Genauso wie man eine Sprache lernt, indem man sie spricht, lernen Menschen sich demokratisch zu verhalten, indem sie gezwungen sind, sich demokratisch zu verhalten. Dies wird klarer, wenn man sich ein Kind vorstellt, das anscheinend sprechen lernt. In Wirklichkeit lernt das Kind eine bestimmte Sprache zu sprechen, ohne die es überhaupt nicht sprechen kann. Die Grammatik demokratischer Beziehungsgestaltungen lernt man beim Praktizieren, „learning by doing“ ist die Devise.
Man könnte sich außerdem vergegenwärtigen, dass „die Kultur“ eines Landes - als ein erinnertes Wandlungskontinuum- keine monolithische Einheit ist. Sie besteht wie ein Fluss aus unterschiedlichen Strömungen, deren Konfiguration sich im Flussverlauf verändert. Deswegen ist es auch problematisch von einem statischen Fluss-Begriff zu sprechen, der fließt, als ob es einen nicht fließenden Flussgeben kann. Auch die demokratische Kultur hat es schon vor der „Islamischen Revolution“ gegeben, ohne dominant zu sein. Man könnte sich an die relativen Anfänge der demokratischen Kultur im Iran mit der „konstitutionellen Revolution“ erinnern, ohne die keine solche Revolution möglich gewesen wäre. Sie verkümmerte allerdings, weil die konstitutionelle Verfassung außer Kraft gesetzt wurde, die den Bezugsrahmen der Kultivierung der demokratischen Kultur gegeben hätte. Mit der Unterdrückung der demokratischen Kulturpraxis verschob sich auch mit der Zeit die Verfassungswirklichkeit unter dem Schah-Regime zugunsten religiös geprägter undemokratischer Strömungen der Kultur. Dadurch entstandene kulturelle Hegemonie undemokratischer sozialen Gruppen ermöglichte der Geistlichkeit die hegemoniale Führung im revolutionären Prozess. Diese hat sich seitdem nachdrücklich die Unterdrückung jeder demokratischen Kultur im Iran zu ihrer Hauptaufgabe gemacht. Auf eine Kultivierung der Demokratie oder Demokratisierung der Kultur unter religiös geprägter totalitärer Herrschaft zu hoffen, zeugt daher von einer gewissen Realitätsuntüchtigkeit.
Altes verlernen, um Neues zu lernen
Gerade diese Unterentwicklung eines demokratischen sozialen Habitus der Menschen macht auch die gegenwärtige desolate Lage der säkularen Opposition möglich: ihre mangelnde Kooperationsfähigkeit, ihre ungenügende Bereitschaft sich auf einen gemeinsamen demokratischen Nenner zu einigen, ist auch darauf zurückzuführen. Allerdings muss man dabei einiges verlernen, bevor man etwas Neues lernen kann. Dazu gehören solche sprichwörtlichen Glaubensaxiome und Werthaltungen wie: „wenn eine Partnerschaft geboten wäre, hätte auch Gott einen Partner“. Solche überlieferten Muster von Denken, Fühlen und Handeln sind sehr schwer aufzugeben. Sie wirken als Fleisch gewordene Gewohnheiten so nachhaltig, wie jede Sucht. Deswegen heißt es ja im Persischen sprichwörtlich, „das Aufgaben einer Gewohnheit verursacht eine Krankheit“. Die Widerstandsfähigkeit überlieferter weniger demokratischen Denk- und Empfindungsmuster scheint daher noch stärker zu sein als der Leidensdruck unter der totalitären Herrschaft der Geistlichkeit, die sich in einem unaufhaltbaren Zerfallsprozess befindet, ohne dass jemand sie von ihren Todesqualen zu befreien in der Lage wäre. Sie scheint wie eine überreife Frucht am „Baum der Erkenntnis“, der zu verfaulen beginnt, weil sie nicht rechtszeitig gepflückt wird. Darin liegt eine der größten Herausforderungen Irans als einer nationalstaatlich organisierten Einheit der Iraner, die bereit sind, in einer friedlichen Koexistenz mit den Nachbarn produktiv zum Zusammenzuleben und zur Entwicklung regionaler Kooperationsmöglichkeiten der Völker aktiv beizutragen.
Hannover, 29.04.2019
[1] Vergl. Dawud Gholamasad:Zur Kompatibilität und Inkompatibilität vom Islam und Demokratie oder Demokratisierungsprobleme der islamisch geprägten Gesellschaften (https://gholamasad.jimdo.com/artikel/zur-kompatibilit%C3%A4t-und-inkompatibilit%C3%A4t-vom-islam-und-demokratie/)
[2]Vergl. Ajatollah Chomeini, Der islamische Staat, Berlin 1983, S. 61ff.
[3]Vergl. https://gholamasad.jimdo.com/artikel/einige-thesen-zu-islamismus-und-islamophobie-als-de-zivilisierenden-aspekte-der-demokratisierung-als-nachhinkeffekt-des-sozialen-habitus-der-involvierten-menschen/
[4]Vergl. https://gholamasad.jimdo.com/vortr%C3%A4ge/zu-zivilisatorischen-aspekten-des-interreligi%C3%B6sen-dialoges-der-monotheistischen-religionen/
[5]Vergl. Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S.190ff.
[6]Vergl. Ajatollah Chomeini, Der Islamische Staat, Berlin 1983, s. 15ff.
[7]https://de.m.wikipedia.org/wiki/Narzisstische_Pers%C3%B6nlichkeitsst%C3%B6rung
[8]Vergl. https://gholamasad.jimdo.com/artikel/irans-neuer-umbruch-von-der-liebe-zum-toten-zur-liebe-zum-leben/
[9]https://de.m.wikipedia.org/wiki/Schutzverantwortung
[10]Vergl. https://gholamasad.jimdo.com/vortr%C3%A4ge/die-konsequenzen-aus-den-syrischen-erfahrungen-f%C3%BCr-die-iranische-entwicklungsperspektive/
[11]https://de.m.wikipedia.org/wiki/Subsidiarit%C3%A4t
[12]Reza Samim: THE IMPOSSIBILITY OF TEAMWORK IN IRANIAN UNIVERSITY CLASSES: A STUDY OF ONE OF THE OBSTACLES TO THE REALIZATION OF SUSTAINABLE DEVELOPMENT IN A COUNTRY IN TRANSITION, ISBN: 978-989-8533-73-9 © 2017
[13]Die zitierten umstrittenen Komponenten iranischer Persönlichkeitsmerkmale aus Sicht der Fakultätsmitglieder der Universität, beziehen sich auf: Farasatkhah, M., Iranian Traits.Ney Publisher, Tehran, Iran, 2015: S. 21
[14]Vergl.: https://gholamasad.jimdo.com/iran-die-entstehung-der-islamischen-revolution/