Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

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Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Zur institutionellen Entdemokratisierung weniger entwickelter Staatsgesellschaften als einem Habitusproblem

 

Zusammenfassung:

 

Jenseits des herkömmlichen Gebrauchs des Begriffs "Demokratie" als ein Spannungs- und Konfliktbegriff  soll der dynamisierende Begriff der "Demokratisierung" einen längerfristigen Prozeß der Verringerung der Machtdifferentiale zwischen Regierenden und Regierten, sowie die Institutionalisierung ihrer Machtproben symbolisieren. Diese sich gegenseitig bedingenden aber unterscheidbaren  Aspekte der Demokratisierung verweisen auf  Verschiebungen der funktionalen Interdependenzen (1) im Laufe der sozialen Differenzierungsprozesse innerhalb einer Gesellschaft, die sich nach mehr oder weniger langen und heftigen Pendelschlägen als eine spezifische Verlagerung der Machtgewichte zugunsten der früheren "Plebs" ausbalancieren.

 

Die Institutionen der Demokratie stellen, als Ausdruck solch einer funktionalen Demokratisierung ,  geregelte Wege und Mittel der Kommunikation und Koalition der machtschwächeren und machtstärkeren Gruppen in ihren ständigen Machtproben miteinander dar, die symptomatisch sind für einen Wandel im sozialen Habitus der betroffenen Menschen. Als entsprechende Reaktionsmuster sind institutionelle Entdemokratisierungsprozesse (wie die Re-Islamisierung) der weniger entwickelten Staatsgesellschaften Gegenschübe der funktionalen Demokratisierung und Folge eines entsprechenden Nachhinkeffekts des sozialen Habitus der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder.

 

Eines der Probleme der gegenwärtigen Diskussion über Demokratie besteht darin, daß kein gemeinsam kommunizierbarer, angemessener Demokratiebegriff zur Verfügung steht. Was jedoch der Demokratievorstellung der meisten Diskussionsbeteiligten zugrundeliegt, ist ein statischer Zustandsbegriff, der Demokratie mit ihren symptomatischen Aspekten gleichsetzt. Zuweilen werden auch keine Unterschiede gemacht zwischen "latenter" bzw. "funktionaler" Demokratisierung und "manifester" bzw. "institutioneller" Demokratisierung, sowie den "normativen Zielfunktionen" der Demokratie.

 

Berücksichtigt man jedoch die Soziogenese der "Demokratie", so wäre damit ein erster und entscheidender Schritt zum Verständnis der oft undurchsichtig erscheinenden Unterschiede im Verhalten verschiedener Nationen im Demokratisierungsprozeß -als einen Teilaspekt des Staatsbildungsprozesses-  vollzogen.

 

Zur Soziogenese des Demokratiebegriffes

 

Als Spannungs- und Konfliktbegriff weist die Demokratie Spuren Jahrhunderte alter Auseinandersetzungen zweier sich gegenseitig bedingender extremer Positionen von Etablierten und Außenseitern auf. In der griechischen Antike als symbolischer Repräsentant einer besonderen Form der staatlichen Herrschaft der Gesellschaft entstanden, verwandelte sich die "Demokratie" seit der Französischen Revolution und der allmählichen Nationalstaatenbildung in Europa zu einer Aufstiegsideologie der Außenseiter dieser Staatsgesellschaften. Als ihre Utopie erscheint sie wie ein inhaltlicher Auftrag, bzw. wie ein im Rahmen einer sozialen Bewegung einzulösender Staatszweck ("Normative Grundlagen der Demokratie"). Mit dem allmählichen Aufstieg der ehemaligen Außenseiter zu Etabliertenpositionen, der einherging mit der Besetzung von Regierungspositionen, d.h. der integrierenden und koordinierenden Kommandopositionen der europäischen, staatsgesellschaftlichen Integrationsebenen durch die Parteienvertreter des Berufsbürgertums und später auch der Arbeiterklasse, verwandelte sich die Demokratie zu einer Art Erhaltungsideologie der Herrschaft und zu einem bloßen Modus der Herrschaftsbildung ("Ordnungspolitische Grundlage der Demokratie").

 

Zu einer Art Gruppen-Charisma der europäischen Staatsgesellschaften -gegenüber den als demokratie-unfähig stigmatisierten Menschen der weniger entwickelten Gesellschaften-erhoben, wurde diese Ordnungsform seit der Entstehung der bipolaren Hauptspannungsachse auf der zwischenstaatlichen Ebene mit dem "Kapitalismus" identifiziert, der gegen den "Kommunismus" verteidigt werden müsse. Als ein affektiv bestztes Glaubenssystem diente dieser, zu einem Synonym für "Kapitalismus" entwickelte, Demokratiebegriff bis zum Ende des Kalten Krieges und der neuerlichen Entstehung einer multipolaren Spannungsachse auf der zwischenstaatlichen Ebene zur Legitimation der Unterstützung jeglicher Form undemokratischer Herrschaft und damit der Únterdrückung jeglicher demokratischer Bestrebungen und entsprechend sich herausbildenden Institutionen in den Ländern der "3.Welt"- im Namen eben dieser "Demokratie"!

 

Ein  unangemessener Modernisierungsbegriff als Funktion der Idealisierung der eigenen Ordnungsform

 

Nach dem II. Weltkrieg wurden in den entwickelteren Gesellschaften Modernisierungstheorien entworfen, die entsprechend der oben genannten Figurationsdynamik Idealisierungen der eigenen Ordnungsformen enthielten. Diese führten u.a. zur Initiierung jener Modernisierungsprozesse, die nach Überzeugung der Modernisierungstheoretiker, gleichzeitig eine Entwicklung zu einer Demokratisierung der "3. Welt" evozieren würden.

 

Als begrifflicher Ausdruck der Notwendigkeit des Aufstiegs der weniger entwickelten Gesellschaften zu der Stufe der entwickelteren Staatsgesellschaften implizert die "Modernisierung" einen Entwicklungsbegriff  im Sinne technischen oder wirtschaftlichen fortschritts, was konkret die Einführung von Maschinen oder eine Änderung der ökonomischen Organisation beinhaltet mit dem Ziel einer Erhöhung des Sozialprodukts. Weniger Beachtung findet in der Regel die Tatsache, daß sich im Zuge eines solchen Entwicklungsprozesses die gesamte Stellung des einzelen Menschen in seiner Gesellschaft und somit auch die Persönlichkeitsstruktur der einzelnen Menschen und deren Verhältnis zueinander in spezifischer Weise ändert. Die Möglichkeit gleichzeitiger Gegenschübe, die unter Umständen dominant werden können, findet kaum Berücksichtigung, weil man soziale Prozesse mit Naturprozesses gleichsetzt und sie als ebenso irreversibel begreift.Desweiteren wird kaum beachtet, daß sowohl Komplementärprozesse als auch Gegenprozesse mit jeweils unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen und so entsprechende Begleit- und Folgeprozesse auslösen. (2)evtl.Entwicklungsbegriff darlegen

 

Keinerlei Berücksichtigung findet also vor allem jenes als Ungleichzeitigkeit der Entwicklung bekannte Problem solcher Modernisierung, das später von Norbert Elias dynamisierend als "Nachhinkeffekt des sozialen Habitus" (N.Elias, 1987a, S. 285) bezeichnet wurde.

 

Funktionale Demokratisierung als Begleit- und Folgeprozeß der sozialen Differenzierung

 

 Einer der zentralen aspekte dessen, was man unter "Modernisierung" versteht, ist die soziale Differenzierung, deren Bedeutung und Konsequenz jedoch nicht mit bloßen Begriffen wie Kommerzialisierung, Industrialisierung und Urbanisierung zu erfassen sind. Im Laufe der Gesellschaftsentwicklung in Richtung einer zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung der gesellschaftlichen Positionen und Funktionen verändert sich auch Art und Grad der Abhängigkeiten zwischen den Menschen. Durch die fortschreitende Funktionsteilung werden die Interdependenzketten, die Menschen miteinander bilden, immer länger. Dadurch ist der Einzelne aufgrund der Eigentümlichkeit seiner Funktion zur Befriedigung existientieller Bedürfnisse auf immer mehr Menschen angewiesen

 

Die Veränderung der Abhängigkeiten in diese Richtung bedeutet eine Verringerung der Machtdifferentiale zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen der Gesellschaft, solange sie in den sich ständig wandelnden Funktionskreislauf  dieser Gesellschaft miteinbezogen sind. Mit dieser spezifischen Verlagerung der Machtgewichte verändern sich nicht nur die Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen, verschiedenen ethnischen Gruppen, sowie sonstigen sozialen Formationen sondern auch die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Regierenden und Regierten verändern sich. Die Regierenden, jene Gruppe, die den Zugang zu den in der Gesellschhaft vorhandenen Machtchancen und die Verfügung über diese besitzen, werden immer abhängiger von den Außenseitergruppen, die vom Zugang zu diesen Machtchancen ausgeschlossen sind. Diese Veränderung der Machtstrukturen bezeichnet Elias als funktionale, bzw. latente Demokratisierung (N. Elias, 1986, S.70-72). Dies bedeutet, daß sich zwar eine Verringerung der Machtdifferentiale real vollzieht, sie jedoch im Bewußtsein der Menschen noch nicht vorhanden sein muß und sich institutionell noch nicht niedergeschlagen hat.

 

Der Nachhinkeffekt des sozialen Habitus als Begleit- und Folgeerscheinung der sozialen Differenzierung und der daraus entstehende Chiliasmus als Ausdruck der gesamten Gegenschübe der funktionalen Demokratisierung

 

(Bsp.: Der Fundamentalismus als eine Artikulationsform des schi'itischen Chiliasmus)

 

 Jedoch bedeutet dieser Prozeß der sozialen Differenzierung mit den ihr entsprechenden Desintegrations- und Auf- und Abstiegsprozessen für den Einzelnen auch, daß er ständig in seinem Alltag neuen Anforderungen und Situationen ausgesetzt ist, denen er nicht immer gerecht werden kann. Die gemeinsame gesellschaftliche Ausprägung des individuellen Verhaltens, der Sprache und Denkweise, der Gefühlslage und vor allem der Gewissens- und Idealbildung -kurz:: das Grundschema der Persönlichkeit- verändert sich im Vergleich zur relativ rapiden sozialen Differenzierung langsamer. Die Desintegration aus dem alten Funktionszusammenhang bedeutet oft den Verlust eines Sinnzusammenhanges und eine Bedrohung der eigenen Existenz, denn die bisherigen Orientierungsmuster  reichen nicht mehr aus, um die neuen Situationen zu bewältigen.

 

Hier begegnet man also einer Konstellation, in der die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in Richtung auf eine andere treibt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf jener früheren Stufe verharren (N. Elias, 1987a, S. 281).Loyalitäts-, Generations- und geschlechtsspezifische Konflikte sind als "Übergangs-" bzw. "Prozeßkonflikte", ebenso Ausdruck solchen Nachhinkeffekts wie romantische bzw. fundamentalistische Bewegungen.

 

Entscheidend für die weitere Richtung der Entwicklung ist u.a., inwiefern der neue entstandene Funktionszusammenhang als eine Integrationseinheit fungieren kann, inwiefern sie die materiellen und emotionalen Bedürfnisse der betroffenen Menschen befriedigen und somit als neues Identifizierungsobjekt dienen kann.Wenn also die bisherigen Außenseiter nicht an der Verfügung über die vorhandenen Machtchancen beteiligt werden oder ihnen zumindest entsprechende Konzessionen gemacht werden, können jene Integrierungsspannungen und -konflikte entstehen, die eskalieren können. Aus einer derartigen Konstellation kann eine soziale Bewegung von Menschen entstehen, die zwar die technischen und ökonomischen Vorteile der Modernisierung befürworten, aber die damit verbundenen notwendigen Veränderungen des sozialen Habitus nicht verkraften können. Diese Bewegung schöpft zwar ihre zunehmende Macht aus der sozialen Dynamik, die zu einer latenten Demokratisierung der  Gesellschaft führt, sie sieht aber "normative Zielfunktion" der sich entwickelnden Staatsgesellschaft in einer institutionellen Entdemokratisierung der sozialen Kontrolle. Statt "Pluralismus", als Vervielfältigung institutioneller Multipolarität der Kontrolle, strebt diese Bewegung einen "Ideen- und Gruppenmonismus" an, der die relativ geringe Konflikt- und Konsensfähigkeit der sie tragenden sozialen Gruppen manifestiert. Dieser "Ideen- und Gruppenmonismus" kann jedoch unterschiedliche chiliastische Artikulationsformen annehmen (Gholamasad, S.559ff). Was die unterschiedlichen Artikulationsformen dieser Bewegung gemeinsam teilen, ist ihre Ablehnung einer "pluralistischen Gesellschaft", als eines bestimmten Arrangements der Institutionen, die sich gegenseitig oder die Regierung kontrollieren können. Als eine kollektive Aufbruchsbereitschaft ist der Chiliasmus (Mühlmann, 1964) Ausdruck der gesamten Gegenschübe der funktionalen Demokratisierung, der eine islamische Artikulationsform ebenso annehmen kann, wie eine christliche, marxistisch-leninistische oder nationalsozialistische. Die Besonderheit der jeweiligen chiliastischen Artikulationsformen, die ihren Nativismus (Mühlmann, 1964) als eine demonstrative Hervorhebung ihrer als eigen definierten Werte manifestiert, ist jedoch Funktion des Beziehungsschicksals ihres jeweiligen Trägers. Dieser vom Chiliasmus getragene Nativismus, der ein idealisiertes Phantasiebild der eigenen Verdienste, der eigenen Sendung und der eigenen Überlegenheit über andere Nationen, für die es sich lohnt zu kämpfen und zu sterben, darstellt, bekommt die Gestalt einer Glaubensvorstellung und verleiht jedem Mitglied der Bewegung ein stolzes Wir-Gefühl. So ist also z.B. der vom schi'itischen Chiliasmus getragene Fundamentalismus eine der möglichen Artikulationsformen des Gruppen-Charismas der stigmatisierten sozialen Gruppen, die Träger einer "anti-imperialistischen" Bewegung werden.

 

Die chiliastische Bewegung idealisiert den Verhaltenskanon einer alten Führungsgruppe als "Kultur" und "Tradition und hypostasiert diesen zu Gottes unveränderbarem Gesetz ( im Falle der fundamentalistischen Artikulationsform ist das die "Schari'a"). Sie dominiert über die komplementären sozialen Prozesse einer funktionalen Demokratisierung, weil sich die Balance zwischen Veränderung und Kontinuität der Verhaltens- und Empfindungsmuster zugunsten der Kontinuität einer als "Islam" idealisierten und als habitualisierte Verhaltensvorschriften vertrauten Schicht des sozialen Habitus der sie tragenden Menschen verschiebt.

 

Als ein spezifischer Typus einer selbstauferlegten Regulierung menschlichen Verhaltens und menschlicher Beziehungen ersetzt diese "Moral" das Ich-Ideal dieser Menschen, indem sie durch ein ihnen vermitteltes tugendhaftes Geborgenheitsgefühl, sowie durch ein Gefühl der Freude und Selbstzufriedenheit ihre als Funktion ihrer Außenseiterposition entstandenen "Minderwetigkeitsgefühle" scheinbar zu überwinden hilft und ihnen ein persönliches Ideal einer individuellen Sinnerfüllung verleiht. Für diese Menschen übernimmt eine solchermaßen idealisierte Moral -die ins Zentrum ihres Selbst-Bildes, ihrer sozialen Glaubensdoktrin und ihrer Wertskala tritt und als Objekt ihrer gemeinsamen Identifizierung  zu ihrer Gruppenkohäsion führt und damit zu einer zusätzlichen Machtquelle wird- die gesamte Gewissensfunktion, weil ihre Selbstzwangsinstanzen für die sich aus der sozialen Dynamik resultierende Veränderung der Art und Weise, wie die Menschengruppen aneinander gebunden sind, relativ triebdurchlässig, gebrechlich, labil und weniger autonom sind. Ihre nachhinkenden Selbstzwänge bedürfen in dieser Lage einer ständigen Unterstützung und Verstärkung durch Fremdzwänge.

 

Überfordert durch die realen Zwänge sowohl der eigenen und nicht-menschlichen Gewalten als auch der anderer Gesellschaftsmitglieder und als feindlich empfundenen Gruppen flüchten sie indie "Zwänge der eigenen Phantasie", um den Abbau ihrer eigenen, unerträglich erscheinenden Spannungen, d.h. den Konflikt zwischen den, als Selbstzwänge angezüchteten, gesellschaftlichen Geboten und Verboten und den zurückgehaltenen spontanen Handlungsimpulsen (N. Elias, 1987a, S.168), im Sinne einer "Heilssicherung" zur "normativen Zielfunktion" ihres Staates zu machen. Getrieben von diesem Phantasiebezug erstürmen sie die Staatsmacht und stellen sie nach der Eroberung - wie es z.B. im Falle der fundamentalistischen Bewegung im Iran der Fall war- einer religiösen Elite zur Verfügung, die sie selbst ausdrücklich für unmündigt erklärt (Aj. Chomeini, 1983) und die im Namen Gottes auszuübende Macht ausschließlich als ihr Monopol beansprucht.

 

Die Grundlage der Akzeptanz, die Volkssouveränität durch die Souveränität Gottes zu ersetzen, dessen Gebote "weise und gerechte Rechtsgelehrte" als geltendes recht auslegen und sanktionieren, wie es im Iran der Fall war, ist die indirekte Anerkennung der Gebrechlichkeit der eigenen Selbstregulierung und Ausdruck der damit einhergehenden Angst vor "individueller Freiheit. Diese Entwicklung beinhaltet sozusagen eine Verschiebung der Balance zwischen Fremd- und Selbstbestimmung zugunsten der ersteren. Weil diese Menschen nicht über relativ angemessene starke und gleichmäßige Selbssteuerungsmittel verfügen, soll die "Islamisierung" des Alltagslebens, z.B. der weiblichen Kleiderordnung, die scheinbaren Reiz- und Spannungsquellen verschleiern. Desgleichen soll der Ideen- und Gruppenmonismus ihre durch relativ unangemessene Distanzierungsfähigkeit ausgelöste Verunsicherung durch den sich anbahnenden Pluralismus verhindern. Die entstehenden und sich immer wieder reproduzierenden Institutionen spiegeln somit die gesellschaftliche Bedürfnisstruktur wieder, die selbst wiederum gesellschaftlich produziert wird. Die relative Macht dieser neuen Institutionen besteht mit anderen Worten darin die Bedürfnisse der  Mehrheit der Bevölkerung zu befriedigen, z.B. durch die Schaffung einer neuen Integrationseinheit über die Identifizierung mit einem gemeindsamen Objekt.

 

Weil diese Menschen keinen Zugang zu einer Erfahrungsform und einer Vorstellung haben, die es ihnen möglich macht, sich ihrer selbst, als einer der eigenen Gruppe gewissermaßen gegenüberstehenden Person, bewußt zu werden, werden sie nicht nur durch jeden institutionellen Ausdruck einer Verringerung der Machtdifferentiale  zwischen allen Gruppen und allen einzelnen Individuen, die sich im Zuge der wachsenden Spezialisierung und Differenzierung aller gesellschaftlichen Betätigungen vollzieht, verunsichert. Die geringe Selbstdistanzierungsfähigkeit, dieses Ausmaß und Muster der Individualisierung, manifestiert sich zudem als eine relativ wenig entwickelte Konflikt- und Konsensfähigkeit zu einer Vorstellung vom Wesen der Politik, die anstatt eines "täglichen Streites um das jeweils Richtige, orientiert an Partikularinteressen" den "Vollzug göttlichen Willens, orientiert an der Durchsetzung der Schari'a" (R. Klaff, 1987, S.47) zur Handlungsmaxime macht.

 

(Der soziale Habitus und die institutionelle Entdemokratisierung als ein Habitus-Problem)

 

Diese institutionelle Entdemokratisierung ist nur verständlich, wenn man berücksichtigt, daß jedes menschliche Verhalten gegenüber sich selbst, gegenüber anderen Menschen und gegenüber den nicht-menschlichen Naturprozessen nur steuerbar ist durch die sozial vermittelten und als solche emotional verankerten Vorstellungen von sich selbst, von anderen Menschen und nicht-menschlichen Naturprozessen. Diese symbolischen Repräsentanten der Realität als "soziale a'priorien" (N.Elias, 1989) sind mit entsprechenden Denkweisen, als gemeinsam kommunizierbare Orientierungs- und Kontrollmittel, zwar einer ständigen Veränderung unterworfen, weisen aber auch eine gewisse Kontinuität auf. Gemessen an individuellen Zeitdimensionen erscheinen sie den Menschen entweder als unveränderbare natürliche oder göttliche Konstante, weil und solange sie von ihnen einverleibt und zu ihrer "zweiten Natur" geworden sind. Als "soziale a'priorien" prägen sie das individuelle Verhalten durch die verschiedenen Sozialisationsinstanzen. Dieser Sozialisierungsprozeß ist aber nur möglich durch die Individualisierung dieser Verhaltens- und Erlebensmuster: als Bedingung der Möglichkeit bzw. als Grundmechanismus der relativen Stabilisierung der menschlichen Gesellschaft.

 

Der Überlebenswert dieser gesellschaftlichen Prägung individuellen Verhaltens und Erlebens liegt jedoch in einer Balance zwischen Veränderung und Kontinuität der Verhaltens- und Erlebensmuster. Die Kontinuität dieser Muster verliert als ein rigider "Wiederholungszwang" ihre sich aus der natürlichen Konstitutionsbedingung der menschlichen Gesellschaft erworbene lebenserhaltende Funktion, wenn sie der unbeabsichtigten Dynamik der sozialen Entwicklung zu sehr nachhinkt und so zu Verhaltens- und Empfindungsfehlsteuerungen führt. Als unangemessenes Reaktionsmuster ist der soziale Habitus verantwortlich für eine unkontrollierbare Dynamik sozialer Prozesse und damit für die Erhöhung der menschlichen Unsicherheit gegenüber der "Natur", gegenüber sich selbst und gegenüber anderen Menschen.

 

Mit dieser Verunsicherung steigt erneut der Grad des Engagements, der mit einem erhöhten Grad der affekt- und triebgesteuerten Wahrnehmung zu einer Eskalation des Doppelbinderprozesses, des "Teufelskreises" mit entsprechenden Wunsch- und Furchtbildern beiträgt.

 

Die institutionelle Entdemokratisierung (wie z.B. die "Re-Islamisierung") ist in diesem Sinne Symptom für eine solche, aus dieser Doppelbinderfiguration resultierende Mentalität. Als eine Art Revivalismus ist diese Persönlichkeitsstruktur, diese Glaubens- und Werthaltung und Affektlage u.s.w., Funktion einer "Modernisierung", die als eine wachstumsorientierte ökonomische Entwicklung zur Desintegration früherer Integrationseinheiten, z.B. Stämme, Sippen, Großfamilien, Dörfer u.s.w., und damit einhergehenden traumatischen sozialen Auf- und Abstiegsprozessen führt, ohne daß die, aus diesen Zusammenhängen entrissenen, Menschen in eine nächste Integrationsstufe angemessen integriert werden können. Die mit dieser Vereinzelung der Menschen einhergehende "Entwurzelung" führt nicht notwendig und gleichzeitig zu weiteren Individualisierungsschüben, d.h. zu einer stärkeren Betonung der Ich-Identoität des einzelnen Menschen und dessen emotionaler Loslösung von den traditionellen Verbänden und einer damit einhergehenden Verschiebing ihrer Ich-Wir-Balance. Eine wesentliche Rolle dabei könnten geregelte Mittel und Wege der Artikulation und eine entsprechende Vermittlung der innergesellschaftlichen Unabgestimmtheiten spielen. Sie könnten möglicherweise das Mißverhältnis zwischeen der gesellschaftlichen Ausrichtung des individuellen Strebens und den geellschaftlichen Möglichkeiten seiner erfüllung reduzieren und die wahrgenommene Trennung von "Individuum" und "Gesellschaft" bzw. vom Einzelnen und einer sich verstaatlichenden sozialen Großeinheit versöhnen und verbinden helfen.

 

Die sich selbst zusätzlich aus dem Ost-West-Konflikt speisenden Integrierungsspannungen und -konflikte, die neben "ökonomischen" vor allem Habitusprobleme waren, führten -statt zu einer Herausbildung entsprechender Mittel und Wege der gesellschaftlichen Kommunikation und Koordination- zur massiven Unterdrückung solchermaßen sich herausbildender demokratischer Institutionen, die als partikulare interessenvertretende und koordinierende Organe nicht nur soziale Aufstiegsfunktionen für die beteiligten Menschen, sondern auch gesamtgesellschaftliche Erhaltungsfunktionen hätten übernehmen können.

 

Ihre Erhaltungsfunktion bestünde vor allem in einer sozial angemesseneren Sozialisierung der "entwurzelten" Menschen, indem sie ihre Desorientierung durch angemessenere Repräsentanten der Realität ersetzt und sie sozial angemessener integriert.

 

Ohne solche institutionellen Formen der Partizipation werden die für die neuen Beziehungen erforderlichen Einstellungen bzw. Verhaltens- und Erlebensmuster entweder überhaupt nicht angeeignet, oder sie bleiben oberflächlich, bilden eine emotional nicht tief genug verankerte Schicht des sozialen Habitus bzw. der Persönlichkeit.

 

Ohne eine stärkere und stabilere Differenzierung des Seelenhaushalts, durch die die unmittelbar nach außen gerichteten psychischen Funktionen den Charakter eines relativ trieb- und affektfreieren, eines "rationaler" funktionierenden Bewußtseins annehmen können (Elias, 1976), handelt der "entwurzelte" Mensch, dem nur frühere Schichten seines sozialen Habitus als Repräsentanten früherer Integrationsstufen bzw. früherer Führungsschichten zur Verfügung stehen, relativ orientierungslos. Verunsichert durch die sozialen Wandlungsprozesse, die ihn vor immer neue Herausforderungen stellen, ist er für sein Überleben in seiner neuen sozialen Funktion und Position unbedingt  auf die zuverlässige, unlustvermeidende Übernahme und Wiederholung bestimmter sozialer Verhaltensnormen angewiesen, die sich ihm in Gestalt der ihm vertrauten und seit Ewigkeiten als gültig erscheinenden Verhaltensvorschriften und Glaubenssysteme und/oder in Gestalt "charismatischer Persönlichkeiten" als lebendiges Vorbild idealisiert anbieten.

 

Durch die narzißtischen Verschmelzungsphantasien solchermaßen "entwurzelter" Menschen erhalten Glaubenssysteme (z.B. "der" Islam) und charismatische Führerpersönlichkeiten (z.B. Aj. Chomeini) ihre Macht, d.h. ihre gesellschaftliche Chancen der Verhaltenssteuerung.

 

So kann die (etwa als "der" Islam) idealisierte frühere Schicht des sozialen Habitus der weniger individualisierten Menschen zum "Zentrum und Kernstück des Staates" (R. Klaff, S.23) erhoben werden, während deren Personifizierung zum uneingeschränkten bzw. absoluten Herrscher aufsteigt.

 

Die charismatischen Führerpersönlichkeiten solcher sozialen Bewegungen rekrutieren sich in der Regel aus dem Kreis jener Menschen, die neben plagenden Habitusproblemen außerdem, aufgrund ihrer schmerzhaften Erfahrung der sozialen Entfunktionalisierung und Entwertung und damit einhergehendem relativen Macht- und Prestigeverlust, der realen Entwicklung der Gesellschaft masiven Widerstand entgegensetzen. Die Kerntruppe solcher Führer teilt trotz einer möglichen ökonomischen Partizipation an der Modernisierung ähnliche Erfahrungen und Ideale, die durch massenhafte Identifizierung einen Massencharakter erhalten.

 

Die massenhafte Identifizierung konstituiert einen charismatischen Typ von Herrschaft, der sich als ein Aufstiegstyp der Herrschaft in der Regel aus der sich aus dem Nachhinkeffekt ergebenden Krise speist.

 

Aus diesem Grund trachtet solcher, jeglicher demokratischer Institution gegenüber feindlich eingestellte Typ der Herrschaft nicht nur danach, das staatliche Regelnetz, sondern auch das gesamte Alltagsleben zu kontrollieren (bzw. zu Islamisieren).