Dawud Gholamasad

Die Lehren aus der Regierungskrise Frankreichs: Verfassungsimmanente Krisenpotenziale des Semipräsidialsystems

 

Frankreich hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2024 zwar mehrheitlich links gewählt, erhielt jedoch trotz massiver Proteste eine Mitte-Rechts-Regierung. Die Linke war zwar als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen, konnte jedoch keine eigene Mehrheit aufbauen, um einen Premierminister zu stellen. Daher sieht die Linke in Michel Barnier einen Regierungschef „von Le Pens Gnaden“ und wirft Präsident Macron einen „Staatsstreich“ vor. Denn auch die anderen politischen Lager konnten keine eigene Mehrheit erreichen.

Angesichts dieser Pattsituation und der fehlenden Koalitionskultur in Frankreich ernannte Präsident Macron den konservativen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister. Nachdem der rechtspopulistische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen auf ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premier verzichtete, entstand eine Mitte-Rechts-Regierung. Diese hielt jedoch nicht einmal drei Monate. Frankreich steckt nun wieder in einer Regierungskrise, sodass Präsident Macron erneut einen neuen Premierminister suchen muss.

Internationale Medien machen vor allem Emmanuel Macron für den Sturz der Regierung verantwortlich. Diese Personifizierung der Krise, die als Fehleinschätzung Macrons gedeutet wird, übersieht jedoch die verfassungsimmanenten Krisenpotenziale des semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs.

Ein ähnliches Krisenpotenzial war bereits im Verfassungsentwurf der „Islamischen Republik Iran“ angelegt, der in vielen Aspekten dem französischen System nachempfunden war. Dem Entwurf wurde jedoch nachträglich die „absolute Schriftgelehrtenherrschaft“ hinzugefügt. Der Konflikt zwischen dem damaligen Präsidenten Khamenei und Ministerpräsident Mussavi war ein Resultat dieser Krisenpotenziale, der durch die Entscheidung des „charismatischen Führers“ Khomeini zugunsten Mussavis beigelegt wurde.

Aus diesen Beispielen lassen sich Lehren für die zukünftige Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit des Iran nach dem Sturz der „Islamischen Republik“ ziehen.1 Diese Lehren betreffen insbesondere das semipräsidentielle Regierungssystem, das auch in Frankreich krisenanfällig ist:

Das semipräsidentielle System vereint Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Die Regierung hängt sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten ab als auch von der Mehrheit im Parlament. Daher kann man es auch als präsidial-parlamentarisches System bezeichnen.

1 Vergl. meine Diskussionsgrundlage der demokratischen Opposition: https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/die-diskussionsgrundlage-einer-aktionseinheit-der-demokratischen-opposition/

2

Es ist eine Mischung beider Systeme: Wie im Präsidialsystem wird der Staatspräsident vom Volk gewählt und kann die Regierung bilden ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen zu müssen. Dennoch muss er, wie in den USA, mit dem Parlament zusammenarbeiten, da dieses über die Gesetzgebung entscheidet. Im Gegensatz zum parlamentarischen System, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, hat der Präsident im semipräsidentiellen System nicht nur repräsentative Aufgaben. Er hat auch eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung. So wird der Premierminister in Frankreich vom Präsidenten ernannt, kann jedoch durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt werden. Die Regierung ist also vom Vertrauen beider Instanzen abhängig. Der Präsident hat dabei gegenüber der Regierung einen erheblichen Einfluss, da er an der Spitze der Exekutive steht.

Diese Kombination macht das semipräsidentielle System anfälliger für Krisen als die beiden anderen Systeme, da es nicht nur von der schriftlichen Verfassung abhängt, sondern auch von der Verfassungswirklichkeit und den politischen Gepflogenheiten. So schreibt die Verfassung in der Regel vor, dass der Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, diese jedoch vom Parlament bestätigt werden müssen. Auch kann das Parlament die Regierung stürzen. In einem semipräsidentiellen System kann es daher in der Praxis durchaus zu einer parlamentarischen Regierungspraxis kommen, da der Präsident in der Regel niemanden ernennt, der das Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Probleme entstehen jedoch, wenn keine Fraktion im Parlament über eine ausreichende Mehrheit verfügt und keine Koalitionsbereitschaft besteht.

Die Verfassungswirklichkeit hängt stark davon ab, ob der Präsident und die Parlamentsmehrheit dem gleichen politischen Lager angehören oder ob eine Koalition ihn unterstützt. In solchen Fällen ist der Präsident der klare politische Führer, der den Regierungschef auswählt. Dabei muss er jedoch auch die Wünsche der im Parlament unterstützenden Parteien berücksichtigen.

Im Extremfall kann der Präsident gezwungen sein, eine „Cohabitation“ – das schwierige Zusammenleben der beiden politischen Lager – zu akzeptieren, wenn er politisch realistisch ist. Ein solcher Fall trat erstmals 1986 ein, als der sozialistische Präsident François Mitterrand aufgrund einer Mehrheit der Liberalen und Konservativen im Parlament den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister ernannte. In der Außenpolitik konnte der Präsident jedoch weiterhin eigene Akzente setzen. Eine „Cohabitation“ gab es noch in den Jahren 1993-1995 und 1997-2002.

Gerade anhand der aktuellen Krise in Frankreich wird jedoch die systemimmanente Krisenanfälligkeit des semipräsidentiellen Systems deutlich. Es ermöglicht keine beständige und klar unterscheidbare Regierungspraxis zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System. Vielmehr wechseln sich Phasen einer präsidentiellen Regierungspraxis – bei politischer Übereinstimmung zwischen Präsidenten und Parlamentsmehrheit – und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis während der Cohabitation ab. Die zunehmende Polarisierung in Frankreich und die zunehmende Lagermentalität erschweren ein „Zusammenleben“ der politischen Lager zunehmend.

Hannover, 11.12.2024

Zur Soziogenese der "Islamischen Republik" im Iran

(Zu den wissenssoziologischen Aspekten des Entstehungszusammenhangs der "Islamischen Republik" als einer institutionellen Entdemokratisierung sozialer Kontrolle)

"Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden." (H. Hesse)

In der Regel wird die "Islamische Revolution" durch die Köpfe ihrer etablierten Ideologen erklärt, die selbst jeweils unterschiedliche Vorstellungen vom Islam repräsentieren. Man verwechselt die dem Aufstand zugrundeliegenden Motive mit einer ihrer Artikulationsformen und unterliegt damit genauso einer unangemessenen symbolischen Repräsentanz der Realität wie jene. Abgesehen davon, daß die Islam-Experten und Orientalisten anläßlich der "Islamischen Revolution" im Iran in der Regel die Öffentlichkeit über den "Islam" als Religion aufzuklären versuchten, wodurch die Literatur über den Islam als scheinbare Aufklärung über den Entstehungszusammenhang der Revolution anschwoll, hoben andere den instrumentellen Charakter des Islam hervor oder begriffen den Aufstand als "die Revolution der islamischen Massen im Iran" bzw. als "eine Revolution mit Hilfe des Islam" (Önder, Z., 1980, S. 227), als ob allein der islamische Bevölkerungsanteil bzw. die Geistlichen diesen Aufstand getragen hätten. Entsprechend ihrer Präferenzen gegenüber dem Islam werden dualistische Positionen aufgebaut zwischen islamfreundlichen und islamfeindlichen Positionen, zwischen denen, die dem "Islam als eine Offenbarungsreligion und ihrer großartigen Zivilisation" gegenüber dem "totalitären Fundamentalismus als Feind von Demokratie und Menschenrechte" (Tibi, 35) das Wort reden und denen, die diese Unterscheidung ablehnen und den Islam als "eine menschenverachtende Religion" (Barreau) verdammen. Letztere machen sich die fundamentalistischen Positionen der islamischen Geistlichkeit zueigen und erklären: "Der Islam ist mit den gewachsenen Werten und Tugenden der westlichen Demokratien unvereinbar". (Barreau) Eines der Probleme der gegenwärtigen Fundamentalismus- und Demokratisierungsdiskussion scheint daher darin zu bestehen, daß man über keinen gemeinsam kommunizierbaren, angemessenen Islam- und Demokratiebegriff verfügt. In der Regel wird der Islam nicht in seiner relativen Autonomie von den in Gruppen organisierten Menschen einer mehr oder weniger differenzierten Gesellschaft, sondern als eine von ihnen scheinbar getrennte "Sphäre" begriffen, die scheinbar unverändert bzw. identisch mit einer seiner etablierten Ausprägungen wäre. Betrachtete man die jeweiligen "Sphären" jedoch als menschliche Gruppen in unterschiedlichen sozialen Positionen (N.Elias, wissoz., 150) und den Islam als eine Art, die Welt zu erfahren, als eine Erfahrungswelt des Klerus, der die Produktion und Verteilung des Wissens von Millionen von unterschiedlichen Menschengruppen mit ihren eigenen Beziehungsschicksalen jahrhundertelang monopolisierte, begriffe man ihn als ein Wandlungskontinuum. In diesem Wandlungskontinuum würde man sowohl des scheinbar ewig Unwandelbaren als das Kontinuum eines nicht-wissenschaftlichen Typs des Wissens gewahr werden als auch der Wandlungen dieses mehr subjekt-orientierten Wissens als eines Kontinuums, dessen Grad der Autonomie abhängig ist von dem Grad der Autonomie der religiösen Funktionsträger. Er verändert sich mit dem größeren oder kleineren Einfluß, genauer gesagt, den größeren oder kleineren Machtchancen, welche menschliche Gruppen in unterschiedlichen sozialen Positionen einer mehr oder weniger differenzierten Gesellschaft, kraft ihrer Interdependenz, in ihrem Verhältnis zueinander haben, (vgl. Elias, 150)

 

In diesem Sinne erweist sich die "Re-Islamisierung" bzw. die Vergrößerung des Einflusses oder - um genauer zu sein - die Vergrößerung der Machtchancen der religiösen "Sphäre" als Vergrößerung der Macht der Geistlichkeit im Verhältnis zu anderen sozialen Gruppen in verschiedenen sozialen Positionen innerhalb einer sich differenzierenden iranischen Gesllschaft und als Folge ihrer funktionalen Interdependenz.

 

Als symbolischer Repräsentant ihrer Welt - vor allem ihrer sozialen Welt - ist der Islam demnach ein gemeinsam komunizierbares Orientierungs- und Kontrollmittel bestimmter Gruppen von Menschen, die neben einem aligemeinen Zuwachs an relativer Machtstärke eine relative Erhöhung ihres sozialen Ranges erfahren.

 

Als eine bestimmte Art zu denken, repräsentiert er (der Islam) ein Denkmuster, das seine fortgeschrittene Ausprägung in der Tradition der Theologen findet, die die Produktion und Verteilung dieses Wissens jahrhundertelang monopolisiert haben. Obwohl sich die Muslime kaum dieser Tatsache bewußt werden, ist der Islam aber aufgrund dieser Verflechtung tief in ihrer allgemeinen Sprache verankert. Infolgedessen produziert er einen stillschweigenden Hang, eine unbemerkbare Prädisposition zugunsten bestimmter Denkweisen. (Vgl. 27Ü) Als ein Reaktionsmuster weist der Islam die drei entsprechenden Komponenten einer Verhaltenssteuerung auf - die physiologische, die emotionale und die Verhaltenskomponente - die einen strukturierten Langzeitwandel in eine spezifische Richtung aufweisen - mit entsprechenden Gegenschüben wie komplementären Prozessen. Diese Komplementär- und Gegenprozesse weisen in der Regel jeweils unterschiedliche Geschwindigkeiten auf und lösen so entsprechende Begleit- und Folgeprozesse aus. Die "Re-Islamisierung" ist im Sinne dieser Ungleichzeitigkeit der Entwicklung eine Begleit- und Folgeerscheinung der "Modernisierung", die als ein "Nachhinkeffekt des Sozialen Habitus" (N. Elias, 1987a, S.285) zu einer institutionellen Entdemokratisierung sozialer Kontrolle führt.

 

Dieser Tatbestand kompliziert die aktuelle Demokratisierungsdiskussion, deren zentrales Problem ebenfalls darin zu bestehen scheint, daß man über keinen gemeinsam kommunizierbaren, angemessenen Demokratiebegriff verfügt. Zuweilen werden keine Unterschiede gemacht zwischen "latenter" bzw. "funktionaler" Demokratisierung und "manifester" bzw. "institutioneller" Demokratisierung, sowie den "normativen Zielfunktionen" der Demokratie. Daraus folgt in der Regel eine Gleichsetzung der Demokratie, die als statischer Zustandsbegriff verstanden wird, mit ihren symptomatischen Aspekten, um z. B. in einem Vergleich ihre Inkompatibilität mit "dem" Islam nachzuweisen (vergl. Rene Klaff, 1987).

 

Berücksichtigt man jedoch die Soziogenese der Demokratie, so wäre damit ein erster und entscheidender Schritt zum Verständnis der oft undurchsichtig erscheinenden Unterschiede im Verhalten verschiedener Nationen im Demokratisierungsprozeß vollzogen.

Als Spannungs- und Konfliktbegriff weist die Demokratie Spuren Jahrhunderter alter Auseinandersetzungen zweier sich gegenseitig bedingender extremer Positionen von Etablierten und Außenseitern als einen Teilaspekt des Staatsbildungsprozesses auf. In der griechischen Antike als symbolischer Repräsentant einer besonderen Form der staatlichen Herrschaft der Gesellschaft entstanden, verwandelte sich die Demokratie seit der Französischen Revolution und der allmählichen Nationalstaatenbildung in Europa zu einer Aufstiegsideologie der Außenseiter dieser Staatsgesellschaften. Als ihre Utopie erscheint sie wie ein inhaltlicher Auftrag, bzw. wie ein im Rahmen einer sozialen Bewegung einzulösender Staatszweck ("Normative Grundlagen der Demokratie"). Mit dem allmählichen Aufstieg der ehemaligen Außenseiter zu Etabliertenpositionen, der einherging mit der Besetzung von Regierungspositionen, d.h. der integrierenden und koordinierenden Kommandopositionen der europäischen staatsgesellschaftlichen Integrationsebenen durch die Parteienvertreter des Berufsbürgertums und später auch der Arbeiterklasse, verwandelte sich die Demokratie zu einer Art Erhaltungsideologie der Herrschaft und zu einem bloßen Modus der Herrschaftsbildung ("Ordnungspolitische Grundlage der Demokratie").

 

Zu einer Art Gruppencharisma der europäischen Staatsgesellschaften gegenüber den als demokratie-unfähig stigmatisierten Menschen der weniger entwickelten Gesellschaften erhoben, wurde diese Ordnungsform seit der Entstehung der bipolaren Hauptspannungsachse der zwischenstaatlichen Beziehungen mit dem "Kapitalismus" identifiziert, der gegen den "Kommunismus" verteidigt werden müsse. Als ein affektiv besetztes Glaubenssystem diente dieser zu einem Synonym für "Kapitalismus" entwickelte Demokratiebegriff bis zum Ende des kalten Krieges und der neuerlichen Entstehung einer multipolaren Spannungsachse der zwischenstaatlichen Beziehungen zur Legitimation der Unterstützung jeglicher Form undemokratischer Herrschaft und damit der Unterdrückung jeglicher demokratischen Bestrebungen und entsprechend sich herausbildenden Institutionen in den Ländern der "Dritten Welt" - im Namen eben dieser Demokratie!

Aus dieser Figurationsdynamik gingen jene Modernisierungsprozesse hervor, die, nach Überzeugung der Modernisierungstheoretiker, gleichzeitig eine Entwicklung zu einer Demokratisierung der "Dritten Welt" evozieren würden.

Als begrifflicher Ausdruck der Notwendigkeit des Aufstiegs der weniger entwickelten Gesellschaften zu der Stufe der entwickelteren Staatsgesellschaften impliziert diese "Modernisierung" einen Entwicklungsbegriff im Sinne eines technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts, was konkret die Einführung von Maschinen oder eine Änderung der ökonomischen Organisation beinhaltet, mit dem Ziel einer Erhöhung des Sozialprodukts. Weniger Beachtung findet in der Regel die Tatsache, daß sich im Zuge eines solchen Entwicklungsprozesses die gesamte Stellung des einzelnen Menschen in seiner Gesellschaft und somit auch die Persönlichkeitsstruktur der einzelnen Menschen und deren Verhältnis zueinander in spezifischer Weise ändert. Die Möglichkeit gleichzeitiger Gegenschübe, die unter Umständen dominant wenden können, findet kaum Berücksichtigung, weil man soziale Prozesse mit Naturprozessen gleichsetzt und sie als ebenso irreversibel begreift. Keinerlei Berücksichtigung findet also vor allem jenes als Ungleichzeitigkeit der Entwicklung bekannte Problem solcher "Modernisierung", das später von Norbert Elias dynamisierend als "Nachhinkeffekt des sozialen Habitus" (N.E., 1987 a, Seite 285) bezeichnet wurde.

Einer der zentralen Aspekte der "Modernisierung" ist eine soziale Differenzierung, die mit entsprechenden Desintegrationsprozessen und sozialen Auf- und Abstiegsprozessen einhergeht. Als Funktion der Kommerzialisierung (v.a. des Grund und Bodens im Zuge der Landreform), der Industrialisierung (und der damit einhergehenden zunächst formellen Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapital) sowie der Säkularisierung des Erziehungs- und Rechtswesens (als Teilaspekt der allgemeinen Produktionsbedingungen, die zur tendenziellen Entfunktionalisierung der Geistlichkeit als früherem Funktionsträger in diesen Bereichen führt) geht eine soziale Differenzierung einher, die mit der Desintegration des agrarischen und tribalischen Gemeinwesens nicht nur zu einem wahrnehmbaren Schub der Urbanisierung und einer Hypertrophie des tertiären Sektors führt (vergl. D. Gholamasad, 1985); sie führt mit der massenhaften Migration der entwurzelten Bauern in die Städte zur Erhöhung des sozialen Ranges der inzwischen relativ entfunktionalisierten und deswegen radikalisierten Geistlichkeit in den städtischen Ballungszentren.

Im Laufe dieser Gesellschaftsentwicklung in Richtung einer zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung der gesellschaftlichen Positionen und Funktionen verändert sich auch die Art und der Grad der Abhängigkeiten zwischen den Menschen. Durch die fortschreitende Funktionsteilung werden die Interdependenzketten, die Menschen aneinander binden, immer länger. Dadurch ist der einzelne aufgrund der Eigentümlichkeit seiner Funktion zur Befriedigung existentieller Bedürfnisse auf immer mehr Menschen angewiesen.

Die Veränderung der Abhängigkeiten in diese Richtung bedeutet eine Verringerung der Machtdifferentiale zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen der Gesellschaft, solange sie in den sich ständig wandelnden Funktionskreislauf dieser Gesellschaft miteinbezogen sind. Mit dieser spezifischen Verlagerung der Machtgewichte verändern sich nicht nur die Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen, verschiedenen ethnischen Gruppen, sowie sonstigen sozialen Formationen. Auch die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Regierten und Regierenden verändern sich.

Die Regierenden, jene Gruppe, die den Zugang zu den in der Gesellschaft vorhandenen Machtchancen und die Verfügung über diese besitzt, werden immer abhängiger von den Außenseitergruppen, die vom Zugang zu diesen Machtchancen ausgeschlossen sind. Diese Veränderung der Machtstrukturen bezeichnet Elias als funktionale, bzw. latente Demokratisierung (N. Elias, 1986, S.70/72). Dies bedeutet, daß sich zwar eine Verringerung der Machtdifferentiale real vollzieht, sie jedoch im Bewußtsein der Menschen noch nicht vorhanden sein muß und sich institutionell noch nicht niedergeschlagen haben muß.

Damit begegnen wir einer Konstellation, in der die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in Richtung auf eine andere treibt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf jener früheren Stufe verharren (N. Elias, 1987a, S.281).

Die Loyalitäts- sowie Generations- und geschlechtsspezifischen Konflikte sind als "Übergangs-" bzw. "Prozeßkonflikte“ ebenso Ausdruck solchen Nachhinkeffekts wie romantische bzw. fundamentalistische Bewegungen. Sie sind Folge eines "Doppelbinderprozesses" mit entsprechenden Abwehrmechanismen. Die gemeinsame gesellschaftliche Ausprägung des individuellen Verhaltens, der Sprache und der Denkweise, der Gefühlslage und vor allem der Gewissens- und Idealbildung - kurz: das Grundschema der Persönlichkeit - verändert sich im Vergleich zur relativ rapiden sozialen Differenzierung langsamer.

Dadurch entstehen jene Integrierungsspannungen und -konflikte, die eskalieren können, wenn nicht die bisherigen Außenseiter an der Verfügung über die vorhandenen Machtchancen beteiligt werden oder ihnen wenigstens entsprechende Konzessionen gemacht werden.

Geschieht diese Kompensation nicht, entwickelt sich eine soziale Bewegung von Menschen, die zwar die technischen und ökonomischen Vorteile der Modernisierung befürworten, aber die damit verbundenen notwendigen Veränderungen des sozialen Habitus nicht verkraften können. Diese Bewegung schöpft zwar ihre zunehmende Macht aus der sozialen Dynamik, die als zwingende Kraft einer Doppelbinderfiguration zu einer latenten Demokratisierung der Gesellschaft führt, sie sieht aber ihre "normative Zielfunktion" der sich entwickelnden Staatsgesellschaft in einer institutionellen Entdemokratisierung der sozialen Kontrolle. Statt "Pluralismus", als Vervielfältigung institutioneller Multipluralität der Kontrolle, strebt diese Bewegung einen "Ideen- und Gruppenmonismus" an, der die relativ geringe Konflikt- und Konsensfähigkeit der sie tragenden sozialen Gruppen manifestiert. Dieser "Ideen- und Gruppenmonismus" kann jedoch unterschiedliche chiliastische Artikulationsformen annehmen (Gholamasad, 559ff.). Was sie alle gemeinsam teilen, ist ihre Ablehnung einer "pluralistischen Gesellschaft", als eines bestimmten Arrangements der Institutionen, die sich gegenseitig oder die Regierung kontrollieren können. Als eine kollektive Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung eines paradiesischen Endzustandes der Menschheit bzw. als eine dadurch entfesselte Bewegung ist der Chiliasmus (Mühlmann, 1964) Ausdruck der gesamten Gegenschübe der funktionalen Demokratisierung, der eine islamische Artikulationsform ebenso annehmen kann, wie eine christliche, marxistisch-leninistische oder auch eine nationalsozialistische. Die Besonderheit ihrer Artikulationsformen, die ihren Nativismus (Mühlmann, 1964) als eine demonstrative Hervorhebung ihrer als eigen definierten Werte manifestiert, ist jedoch Funktion des Beziehungsschicksals ihres jeweiligen sozialen Trägers. Als ein idealisiertes Phantasiebild der eigenen Verdienste, der eigenen Sendung und der eigenen Überlegenheit über andere Nationen, für die es sich lohnt zu kämpfen und zu sterben, bekommt dieser vom Chiliasmus getragene Nativismus die Gestalt einer Glaubensvorstellung und verleiht jedem individuellen Mitglied solch einer Bewegung ein stolzes Wir-Gefühl. Der vom schi'itischen Chiliasmus getragene Fundamentalismus ist also eine der möglichen Artikulationsformen des Gruppen-Charismas der stigmatisierten sozialen Gruppen, die Träger einer "anti-imperialistischen" Bewegung werden.

 

 

 

Als eine solche Bewegung, die den Verhaltenskanon einer alten Führungsgruppe als "Kultur" und 'Tradition" idealisiert und zu Gottes unveränderbarem Gesetz (Schari'a) hypostasiert, dominiert sie über die komplementären sozialen Prozesse einer funktionalen Demokratisierung, weil sich die Balance zwischen Veränderung und Kontinuität der Verhaltens- und Empfindensmuster zugunsten der Kontinuität einer als "Islam" idealisierten und als habitualisierte Verhaltensvorschriften vertrauten Schicht des sozialen Habitus der sie tragenden Menschen verschiebt.

 

 

 

Als Folgeereignis der Modernisierung im Iran eskalierte diese Bewegung zu einer "islamischen Revolution", die zu einem Zeitpunkt ausbrach, als die Modernisierung scheinbar zur weitgehenden Säkularisierung des Alltagslebens und damit zu einem erheblichen Rückgang des Einflusses der institutionalisierten Religion in praktisch allen Bereichen des öffentlichen Lebens geführt hatte.

 

 

 

Als "Barometer" für diese Entwicklung galt die seit etwa 1964 vom Klerus verfolgte Tendenz, den offenen Kampf gegen Säkularisierung und Modernisierung aufzugeben. Die Theologieschulen leerten sich (vergl. Djomhuri-e Eslami, 14.1.1982), und viele angesehene Geistliche wie Ay. Mottaharie (21) und selbst Ay. Khomeini beurteilten ihre Zukunftsperspektiven so pessimistisch(22), daß angesehene Geistliche ebenso wie Laien mit theologischer Ausbildung es vorzogen, ihre Söhne, von denen einige wie Schariati, Al-e Ahmad und Banisadr später zu den ideologischen Vätern der "islamischen Revolution" werden sollten, in weltlichen Berufen ausbilden zu lassen; insbesondere in den Ober- und Mittelschichten verfestigte sich diese Tendenz zur säkularen Erziehung der Kinder. Von den Jugendlichen selbst - etwa der Hälfte der Bevölkerung - wurde der Islam weitgehend als irrelevant für ihre Ambitionen und den von ihnen angestrebten Lebensstil betrachtet. Diese Einstellung verstärkte sich unter dem Eindruck einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit der religiösen Institutionen innerhalb der Gesellschaft ebenso, wie durch ihre als inadäquat empfundenen Anschauungen. Häufig vertrat die jüngere Generation sogar die Ansicht, daß der schi'itische Islam seine innere Vitalität und die nötige Dynamik verloren hätte, so daß er weder in der Lage wäre, mit dem Modernismus zu konkurrieren, noch seine traditionellen, theologischen und ethischen Positionen dahingehend umzuformulieren und zu ändern, daß sie im modernen Kontext Sinn vermitteln könnten (23). Die weite Verbreitung dieser Einstellung zeigt sich an den größtenteils leeren Moscheen in den Großstädten sowie an der nachlassenden Massenwirksamkeit religiöser Rituale. Das religiöse Establishment versuchte in unterschiedlicher Weise, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Als ein typisches und maßgebendes Beispiel derartiger Bemühungen kann die Zeitschrift "matab-e Islam" (Islamische Schule) angesehen werden .Die Absicht dieser Zeitschrift, die "offiziellen" religiösen Positionen über moralische Prinzipien direkt oder durch Kommentierung der Tagesereignisse zu publizieren, verdeutlicht nicht nur das Wissen der Geistlichkeit um die aus der Modernisierung entstandenen Probleme, sondern ebenso den Beweggrund ihrer Anstrengungen: die wachsende Einflußlosigkeit der Religion. In der Begründung der Notwendigkeit solch einer Zeitschrift wird die Soziogenese der als "Re-Islamisierung" bekannten Bewegung und ihres "Fundamentalismus" in knappster Form dargestellt: Seit der "industriellen Revolution" habe eine "erstaunliche Transformation in allen Bereichen menschlichen Lebens stattgefunden", so daß seither "riesige Unterschiede in den Lebensbedingungen der Welt von heute und der der Vergangenheit "festzustellen seien...". Diese Situation hat natürlich ein Gefühl von Pessimismus und besonders eine Aversion gegen alle Aspekte des früheren Lebens erzeugt, gegen religiösen Glauben und moralische Prinzipien". Diese Ablehnung des Alten aufgrund der neuen "unverantwortliche(n) und unbegrenzte(n) Freiheit (...) hat eine schreckliche Flut von Atheismus und moralischer Verworfenheit freigesetzt und einige ermutigt, alle ethischen Prinzipien und geistigen Schätze, die das Ergebnis einiger tausend Jahre Bemühung der gottesfürchtigen Männer zum Schutze der Menschheit sind, völlig zu verwerfen". Das Ergebnis sei ein totaler "moralischer Umbruch". "... Um all diese Übel zu heilen und besonders den Geist des Materialismus zu beseitigen, der (...) all dieses Unglück hat entstehen lassen, ist es nötig, daß die Prinzipien des Glaubens und der Ethik in der Gesellschaft (wieder) zu leben beginnen und daß(...) die gepriesenen Gebote des Propheten des Islam (...) wirklich und wahrhaftig erfüllt werden (...), so daß die Menschen unter ihrem führenden Licht einen moralischen Charakter erwerben (...)"  Die Zeitschrift wolle daher Moslems mit den moralischen Aspekten "der islamischen Lehre bekannt machen, um die zurückzuholen, die abgetrieben sind", und gleichzeitig die "fundamentalen Prinzipien islamischer Gesetzgebung verteidigen" (24).

 

 

 

Zwar bestand die Mehrheit der Mitglieder dieses "Forums" aus Geistlichen teilweise hohen Ranges, sowie aus Laien mit theologischer Ausbildung; jedoch übte diese Zeitschrift, die in einer Auflage von ein- bis zweitausend Exemplaren verbreitet wurde, kaum eine Wirkung auf den moralischen Zustand der Gesellschaft aus.

 

 

 

Erst seit Anfang der 70er Jahre wurde "der Islam" zu einem affektiv besetzten Orientierungsmittel einer wachsenden Zahl der Menschen, zum Bezugsrahmen der Organisierung ihrer sinnlichen Wahrnehmung, zu ihrem Mittel der Wahrnehmung (d.h. der Diagnose und Prognose der Ereignisse) der Modernisierung und damit entsprechenden Mittel ihrer Verhaltenssteuerung (d.h. entsprechender Abstimmung des eigenen Verhaltens).

 

 

 

Die erweiterte Modernisierung verschiedener sozialer Bereiche entfesselte also einen islamischen Revivalismus, der jedoch weniger eine "Renaissance des Islams" als einer institutionalisierten Religion darstellte, als vielmehr die Renaissance eines aktivistischen schi'itischen Chiliamus, wie er in den Schriften Ay. Khomeinis, Schariatis und der Modjahedin zum Ausdruck kommt. Als spezifische Ausprägungen einer Art Aufstiegsideologie unterschiedlicher sozialen Formationen und Schichten markiert er den Höhepunkt einer massenhaften Abkehr vom schi'itischen Quietismus als staatstragender "Religion der breiten Masse" bzw. als Staatsreligion.

 

 

 

So disqualifizierte Khomeini die quietistische Geistlichkeit als "Hofmullahs" und "SAWAK-Agenten", die sich in den Theologiezentren ausschließlich mit unbedeutenden Problemen wie der Menstruation (25) beschäftigten, und somit auch den institutionalisierten Islam als eine Erhaltungsideologie der bestehenden Herrschaft, den er durch seinen Islam zu ersetzen trachtete: "der Islam ist die Religion der Kämpfer, die für Recht und Gerechtigkeit eintreten, die Religion derer, die nach Freiheit und Unabhängigkeit streben, die Schule der Kämpfer gegen den Kolonialismus." (Ay. Khomeini: Der islamische Staat, S. 16); Schariati bekämpfte den Quietismus als "Opium für das Volk" und stellte die "kämpferische alavitische Schi'a" der reaktionären safavidischen Schi'a" gegenüber (26); die Modjahedin lehnten ihn als "kleinbürgerliche Religion" (27) ab.

 

 

 

Zentral ist in dieser Erfahrungsweise, in dieser Art der symbolischen Verknüpfung der Modernisierung, wie sie in diesem chiliastischen Aktivismus zum Ausdruck kommt, die Einsicht in die Notwendigkeit der persönlichen, sozial verantwortlichen Aktivität jedes gläubigen Moslems und damit als ein integrales Bestandteils eines neuen Selbstbildes der Muslime. Dieser Umschwung des eigenen Selbstbewußtseins der Menschen und ihres Menschenbildes - als Begleiterscheinung der funktionalen Demokratisierung der Gesellschaft - kommt am prägnantesten in der von Ay. Khomeini thematisierten Möglichkeit des auf eine Ewigkeit hinausgeschobenen Wiederkehre von Mahdie, des Erlösers zum Ausdruck: "Seit Beginn der kleinen Verborgenheit sind hundert Jahre vergangen. Es besteht die Möglichkeit, daß noch hunderttausend Jahre vergehen und seine Heiligkeit noch nicht zurückkehrt. Sollen die Gesetze des Islam für so lange Zeit nicht angewendet werden?" (Khomeini, S.34). Angesichts der Auffassung der Zwölfer-Schi'iten, wonach der zwölfte Imam, Imam Mohammad Abul-Ghasem (geb. 872 in Bagdad), im Alter von acht Jahren der Erde entrückte und seit dem, den Menschen unsichtbar, im Verbogenen fortlebt, um am Ende der Zeiten als Imam Mahdi, als Welterlöser, zu erscheinen und die Welt von allem Unrecht zu befreien und ein Reich des Friedens und Gerechtigkeit aufzurichten, erscheint diese Äußerung nicht nur als eine Häresie, die unter anderen Machtverhältnissen unbarmherzig verfolgt worden wäre. Sie symbolisiert die Wir-Funktionen des Islam als einer Art Wissen, seiner Funktionen für die Wissensproduzenten selbst und für die Gesellschaft, in der sie leben (Wissoz, 56Ü), indem er gesellschaftliches Gestaltungsrecht und -pflicht der Muslime begründet.

 

 

 

Exkurs zur Soziogenese des Islam als Wandlungskontinuum

 

(Über die Wandlung des schi'itischen Religionsbegriffs)

 

 

 

Die Zwölfer-Schi'a, die Religion der Mehrheit der Iraner, gestaltete sich am Anfang als eine politische messianische Bewegung, die auf den Sturz der herrschenden Verhältnisse im frühen islamischen Reich hinarbeitete. Die weitere Entwicklung jedoch machte aus dieser politisch-messianischen Bewegung eine herrschaftserhaltende, quietistische Religion, die seit vierzehnhundert Jahren großen ideologischen Einfluß auf die Zivilisierung der menschlichen Gefühle im modernen iranischen Staat ausübt. In den 70er Jahren dieses Jahrhunderts jedoch gab es erneut eine Wendung zu einer politisch-messianischen Bewegung, allerdings unter ganz anderen Bedingungen als zu Beginn ihrer Entstehung nach dem Tod des Propheten Mohammad.

 

 

 

Damals sammelten sich um den Schi'a Alis (Partei Alis), dem Schwiegersohn und Vetter des Propheten Mohammad unzufriedende Araber, aber auch nicht-arabische Bevölkerungsgruppen, speziell in den militärischen Auffanglagern wie Kufa und Basra im heutigen Irak, und versuchten immer wieder den Aufstand gegen die etablierten Mächte. Diese Bewegungen, abgesehen von einer Spaltung in Alis Zeit, die sich Kharijiten nannte, wurden unter dem Sammelbegriff Schi'a bekannt. "Ein entscheidendes Charakteristikum fast aller dieser Bewegungen wurde jedoch auch der messianische Glaube an den Qa'em, der von Gott ernannte Führer, der zur Verteidigung der Unterdrückten gegen die Herrschaft der 'Usurpatoren' aufstehen werde." (Bayat 1981/79)

 

 

 

Nach Ali, der zwar Kalif geworden war, aber nur einen kleinen Bereich des großen islamischen Reiches regierte, hat sein älterer Sohn Hassan sich auf einen Kompromiß mit dem Omayyidenherrscher Mo'avie eingelassen, wonach er sich verpflichtete, seine Herrschaft anzuerkennen. Der jüngere Sohn von Ali, Hussein, der dritte schi'tische Imam übte ebenfalls zunächst eine politische Abstinenz, aber am Ende seines relativ langen Lebens kam es jedoch zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und seinen Kameraden und einer Truppe von Regierungssoldaten, wobei er den Tod fand. Nach seinem Tod hat sich die schi'tische Bewegung in zwei große Lager geteilt: eine quietistische, die später in die sogenannte Zwölfer-Schi'a mündete und eine militante, die Jahrhunderte nach der Gründung des Islam die sunnitischen Herrscher gewaltsam bekämpfte.

 

 

 

Die quietistische Richtung, die sich auf Kompromisse mit den Herrschenden Omayyiden und Abassiden zubewegte, begann eine radikale Revision der Idee der charismatischen Führer vorzunehmen: von ihnen wurde die Funktion des messianischen Imam nämlich auf religiöse Fragen reduziert, ohne allerdings je den Anspruch auf die politische aufzugeben. Besonders nach der Niederlage von Imam Hussein fand sich eine Gruppe von maßgeblichen Männern um Imam Zayn al-'abdin (gest.714), Mohammad Baqr (gest. 733) und Jafar as-Sadeq (gest.765) zusammen - den vierten, den fünften und den sechsten Imam der Zwölfer-Schia -, die es nicht nur vermieden, sich in politische Auseinandersetzungen ihrer Zeit einzumischen, sondern dieses auch theoretisch begründeten.

 

 

 

Imam Zayn al-'abdin stellte eine umfassende Theorie von Taqiyya auf, was man mit der Verheimlichung der eigenen Gesinnung übersetzen kann. Sie wurde sozusagen eine verständliche Folge der Verfolgung der Schi'iten durch die sunnitischen Herrscher: danach sollten die Schi'iten jede Provokation der etablierten Mächte vermeiden, bis günstige Bedingungen eintreten. Demzufolge konnte der Imam auch seinen Anspruch auf die göttliche Herrschaft nicht öffentlich kundtun. Später wurde Taqiyya, zu einem Glaubensgrundsatz der Schiiten. Die nach Imam Zayn al-'abdin kommenden Imame hielten sich an diesem Grundsatz und erhoben keinen Anspruch auf die Herrschaft.

 

 

 

Speziell der sechste Imam Ja'far as-Sadeq, der erste umfassende Denker der Zwölfer-Schia - daher auch die Jafaridische Schia - begründete, daß der rechtsmäßige Imam ein Abkommen des Propheten über die Linie seines Schwiegersohns und seiner Tochter sein müsse, dieser Imam müsse seine Legitimität aus der religiösen Gelehrsamkeit und nicht aus politischen und militärischen Ansprüchen beziehen und darüber hinaus ausdrücklich von dem Vorgänger zu seinem Amt designiert worden sein. Er meinte: "die politische Funktion des Imam, den heiligen Krieg zur Herstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit auf Erden zu führen, sei nun auf unbestimmte Zeit verschoben." (Bayat 1983/80)

 

 

 

Als Imame konnten für kurze Zeit seiner Herrschaft der vierte islamische Kalif und der erste schi'itische Imam Ali die politische Macht ausüben. Die anderen Imame hatten kaum die Gelegenheit eine politische Herrschaft auszuüben, da sie als kleine Minderheiten, die sie repräsentierten, kaum die militärische Macht hatten, sich durchzusetzen. Die Einschätzung der Machtbalance, führte dazu, daß die Führer der Schi'iten es für die Stabilität des islamischen Reiches und der Sicherheit der Schi'iten zweckmäßiger fanden, nicht nur die Funktion des Imam auf religiöse Fragen zu begrenzen, sondern auch keinen "präsenten" Imam mehr unter sich zu haben.

 

 

 

So wurde die Reihe der Imame auf 12 begrenzt; der 12. Imam entrückte im Jahre 874 zunächst in die kleine und dann im Jahre 941 in die große Verborgenheit. Während der kleinen Verborgenheit soll der 12. Imam Mahdi durch Beauftragte den Kontakt mit den Schi'iten aufrechterhalten haben, denen er seine jeweiligen Anweisungen übermittelt hat. Nach der großen Verborgenheit, die bis heute andauert, ist kein direkter Kontakt mehr mit dem Imam möglich, der einen Beauftragten oder Stellvertreter des Imam hätte bestimmen können. Daher sollte die ganze schi'itsche Gemeinde bis zu seiner Rückkehr für die Erhaltung der Religion dem Imam gegenüber verantwortlich sein.

 

 

 

Nach der offiziellen Theorie ist mit der Verborgenheit des 12. Imam Mahdi die sakrale oder ideale Herrschaft bis zu seiner Rückkehr ausgesetzt. Da nun der 12. Imam nicht gestorben sei und keinen Nachfolger für sich benannt hätte, führte er weiterhin die Welt, und zwar aus der Verborgenheit. Sein Charisma ist nicht gelöscht und nicht übertragen, sondern in seiner Person aufbewahrt. Die Aufbewahrung des Charisma bedeutet allerdings, daß niemand im Namen der Schi'iten die Herrschaft ausüben darf solange dieser verborgen ist; darüber hinaus ist jede Herrschaft, sei sie weltlich oder geistig, illegitim, solange dieser "anwesende", aber "verborgene" Imam die Welt regiert. Die beiden Bestandteile dieser Aussage, daß nicht nur eine schi'itische, sondern auch jede irdische Ordnung illegitim ist, haben weitreichende Folgen für die Schi'a und ihre spätere Entwicklung.

 

 

 

Als die Schi'iten diese Theorie um die Wende des 10. Jahrhundert aufstellten, waren sie zu einer kleinen unbedeutenden Sekte zusammengeschrumpft, die innerhalb der großen sunnitischen Mehrheiten ihre Gesinnung verbergen mußte, um zu überleben. Die Theorie der Verborgenheit stand auch weniger im Zusammenhang mit der faktischen Unmöglichkeit der Schi'iten, zu regieren, da sie weder regierungsfähig waren noch diesbezügliche Ambitionen hegten. Die Realität des islamischen Reiches als eine Weltmacht zwang die Schi'iten genauso wie die anderen religiösen Minderheiten zur Einsicht in die Notwendigkeit der Akzeptanz dieser Macht und zur weitgehenden Identifizierung mit ihr. Man suchte also den Konsens mit der weltlichen Herrschaft und bewertete ihn mit der Zeit höher als die Durchsetzung sonstiger Ideale. Bereits zu dieser Zeit stellte die weltliche Autorität einen integralen Bestandteil der islamischen politischen Ordnung im Denken der schi'itischen Gelehrten dar, Sie gaben sich größte Mühe, die Theorie des Imamat, das heißt die Verborgenheit des Imam mit der temporalen Herrschaft in Einklang zu bringen.

 

 

 

Man war mit den sunnitischen Gelehrten darüber einig, daß als Alternative zum Chaos selbst ein Tyrann als Herrscher besser wäre. Das Bemühen der schi'itischen Gelehrten zielte darauf, die Theorie der Verborgenheit gegen jene rebellierende Gruppen abzusichern, die trotz der Theorie der Verborgenheit sich immer wieder auf die schi'itischen Imame beriefen und ständig für Unruhe sorgten; sie waren bemüht, die Position der Schi'iten und die mehr oder minder von den Abbasiden anerkannte Stellung ihrer Führer nicht zu gefährden; außerdem sahen sie keine Veranlassung, das herrschende System zu zerschlagen, bekleideten doch nun die schi'itischen Gelehrten hohe Ämter bei den abbasidischen Herrscher. Durch die Betonung, daß "jede" Herrschaft, selbst eine schi'itische in der Zeit der Verborgenheit illegitim sei, sollte eine Rebellion im Namen der Zwölfer- Schiiten bzw. des 12. Imam Mahdi unmöglich gemacht werden.

 

 

 

Gleichzeitig war man dabei, die Idee der Verborgenheit quietistisch zu verklären und ihr eine religiöse Dimension zu geben. Die Macht über die gläubigen Schi'iten wäre geteilt. Sie gehorchten den irdischen Herrschern, soweit ihnen dies als Untertanen abverlangt werden würde: "Die verheißende Wiederkunft des entrückten zwölften Imams wurde nicht als Möglichkeit des Hier und Heute empfunden. Gewiß, man hoffte auf den Verborgenen, doch eben nur in allgemeiner Form, wie es auch die Sunniten hielten, und die tatsächliche Ankunft des Entrückten wäre ein peinlicher Bruch des Alltäglichen gewesen." (Nagel 81/267)

 

 

 

Diese Entwicklung wurde mit dem Sieg der Safaviden und der damit verbundenen Thronbesteigung von Isma'it (1501) fortgesetzt. Es gelang ihm in Konkurrenz zu der Osmanischen Herrschaft erhebliche Gebiete des Iran unter seiner Herrschaft zu einigen. Während die Zwölfer-Schi'iten kaum bei diesen Kämpfen anwesend waren und auf die Wiederkehr des Imam warteten, erklärte der Safavidenkönig die völlig machtschwache Zwölfer-Schia aus Gründen der Staatsräson zur offiziellen Religion des Iran. Zu dieser Zeit waren die Mehrheit der Iraner Sunniten und es gab nicht ausreichende Geistliche im Iran, die in der Lage wären, die Aufgabe der Rechtsgelehrten zu übernehmen. Daher wurden sie aus dem heutigen Irak und Libanon importiert und mit Prestige und Reichtum überschüttet. Dem sozial aufgestiegenen Klerus blieb keine andere Alternative, als die Autorität Isma'ils anzuerkennen. Der führende Gelehrte der Safavidenzeit Majlesi stellte die Leistung von Schah Isma'il, die Schia als offizielle Religion einzuführen, mit den Taten des erwarteten Mahdi gleich (Sachedina 81/63). Damit billigte der Klerus Schah Isma'il den vollen Charisma des Imam zu und ordnete sich ihm und seinen Nachfolgern unter, während die reichhaltigen Ausdrucksmitteln der iranischen Dichtung herangezogen wurden, um den König neben dem Imam zu huldigen. (Handwörterbuch des Islam 207)

 

 

 

Gegen Ende der Safavidenherrschaft begann der Klerus, dessen Machtgewicht gegenüber dem König überproportional zunahm, dem König das Charisma abzusprechen. Die Geistlichen weigerten sich nicht nur den Schah als "Stellvertreter des Imam" zu akzeptierten; fortan beanspruchten sie für sich selbst, die einzige Quelle der Imamautorität zu sein. Seit der spätsafavidischen Zeit waren also die 'Olama der Meinung, sie seien als "Stellvertreter des Imam" und auch für eine einigermaßen richtige Funktionsweise der Gesellschaft verantwortlich und müssen sich für fast alles einsetzen, außer für die Fragen, die mit der dirketen Ausübung der politischen Macht zusammenhingen.

 

 

 

Die 'Olama zogen es vor, zumindest in diesem Punkt weiterhin Taqiyya zu üben, das heißt ihre Meinungen in bezug auf politische Herrschaft zu verbergen, damit keine Gefahr für sie selbst und für die Schi'iten entstehen sollte. Denn nach wie vor verfügte der König, zwar relativ geschwächt, über das militärische Machtmonopol und eine Provokation des Königs wäre in der Tat ein Spiel mit dem Feuer gewesen. Man fand einen Kompromiß in dieser Form, daß die 'Olama die irdische Herrschaft am Imamcharisma teilhaben ließen und ihr nun als "Gottes Schatten auf Erden" eine gewisse Legitimation zubilligten, soweit diese sich für die Erhaltung und Ausbreitung der Schi'a einsetzen würde. Die Nachfolger Isma'ils und die späteren Herrscher der Qajaren konnten sich mehr oder minder in dieser Form legitimieren. Danach wurde die Leistung eines Königs einfach daran gemessen, wie ergeben er gegenüber dem Klerus war bzw. ob und wie intensiv er sich für die religiösen Belange einsetzte.

 

 

 

Diese Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Geistlichkeit führte zu einer Aufteilung des Charismas des Imam Mahdi zwischen dem irdischen Herrscher und dem Klerus. Danach gingen die politischen Herrschaftsfunktionen des Imam auf den König und die geistigen bzw. religiösen Funktionen des Imam auf den Klerus über. In der Praxis gab es daher öfters Konflikte darüber, wo die Grenzen dieser Aufteilung liegen; indes erhielt sich diese Kompromißformel als Symptom der bestehenden Machtbalance bis zur islamischen Revolution. Als Folge solcher Partizipation der Geistlichen übernahm die Geistlichkeit immer mehr herrschaftsstabilisierende Funktionen, während der Islam als eine Aufstiegsideologie sich immer mehr zu einer Erhaltungsideologie der Herrschaft wandelte.

 

 

 

Trotzdem behielt sich der Klerus einige relativ wichtige Aufgaben des Imam selbst vor, so die Ausrufung des Heiligen Krieges, die Abhaltung von Freitagsgebeten und nicht zuletzt die Gründung einer perfekten islamischen Ordnung und damit verbunden die völlig lückenlose Interpretation und Anwendung des göttlichen Gesetzes. So gesehen entstand eine Dreiteilung des Charismas. Die politischen Herrschaftsfunktionen fielen - wenn auch vorbehaltlich - dem König zu, die religiösen dem Klerus, während die Chiliastischen, also die politisch-messianischen, dem verborgenen Imam selbst vorbehalten wurden. Für die Aufrecherhaltung der bestehenden Herrschaft entwickelte sich so eine Arbeitsteilung zwischen dem Klerus und der irdischen Herrschaft: für die praktische Absicherung des Gewaltmonopols wurden die Schahs und für die ideologische der Klerus verantwortlich. Dies war deswegen möglich, weil die Gläubigen seit der Verborgenheit des 12. schi’itischen Imam praktisch durch die Vorstellung geprägt wurden, den Gedanken jeglicher größerer Veränderungen im Sinne der gewaltsamen Errichtung der perfekten islamischen Ordnung zu vertagen. Die schi'itische Vorstellung über Mahdi geht davon aus, daß er zwar auf Zeit verschwunden ist, aber er werde dann kommen, wenn die Not am größten ist: Gott soll selbst den Zeitpunkt des Auftretens des Imam bestimmen. "Erst müssen sich die Vorzeichen des jüngsten Tages erfüllen, an ihnen wird man die bevorstehende Ankunft des Verborgengen Imam erkennen." (Nagel 1981/223)

 

 

 

Eine wichtige Konsequenz aus der Theorie der Verborgenheit war, daß der Gedanke an einen aktiven Kampf aus der Gemeinschaft der Schi'iten verbannt wurde. Nach der offiziellen Lehre ist der Kampf zur Reinigung der Gemeinschaft vom Bösen, d.h. der "Klassenkampf, bis zur Rückkehr des Imam aus der Verborgenheit vertagt.

 

 Die 12er Schia hat auch den heiligen Krieg, den Krieg gegen die Ungläubigen bis zur Rückkehr des Imam Mahdi ebenfalls suspendiert bzw. nur in Ausnahmefällen zum Zwecke der Verteidigung zugelassen. Das hat aber primär mit der Lage der Schi'iten innerhalb der großen sunnitischen Mehrheit zu tun.

 

Stattdessen trat ein individueller "innerer Kampf zwischen Gut und Böse ein: das moralisch Gute sollte gegen das moralisch Schlechte dominieren. Der Spruch "amr-e be maruf va nahyi as monker", also gutes befehlen und schlechtes vermeiden konnte nur als moralischer Zuspruch gewertet werden, während die Liebe unter den Gläubigen und Toleranz gegenüber den Ungläubigen im eigenen Land propagiert wurde.

 

Zwar waren die religiösen Minderheiten immer sozial benachteiligte Außenseiter, aber als Träger der, für die Gemeinschaft notwendigen, Berufe konnten sie nicht überleben, wenn die bestehenden Aggressionen gegen sie nicht neutralisiert worden wären. Zur Wahrung des sozialen Friedens traten die hohen Geistlichen in der Regel einer immer virulenten Teilung der Gemeinschaft in "Gut" und "Böse" entgegen, solange die Dominanz der Schi'iten als Etablierte nicht bedroht schien.

 

 

 

Der sozialen Erfahrung der Ungerechtigkeit der Reproduktion sozialer Ungleichheit argumentierten sie entgegen, daß jeder Gläubige, ob arm oder reich, ein Mitglied der Gemeinschaft wäre und als solcher, ungeachtet seiner sozialen Stellung, vor Gott gleich; was zählte, wäre einzig die Frömmigkeit. Die Gläubigen gehörten zueinander und wären wie Brüder, die Gott ob reich oder arm gleichbehandeln würde; ja der Reichtum und die gehobene soziale Stellung wurden unverhohlen als eine gnädige Zuwendung Gottes zu den Menschen gewertet. Jedoch dürften die Reichen und Höhergestellten ihre Privilegien nicht strapazieren: der Reiche solle sich den Armen annehmen.

 

Neben der üblichen Verurteilung der moralischen Überschreitungen, die auch zum Teil gewaltsame Formen annahmen, trat die Geistlichkeit für die Großmut der Gläubigen untereinander ein: wenn der Gläubige das Recht habe, Böses mit Bösem zu vergelten, so solle man die Verzeihung nicht vergessen, Gott verzeihe dem, der selbst verzeihe. Zwar wird die in dieser Welt existierende Ungerechtigkeit nicht geleugnet; es wird jedoch auf Gottes Gerechtigkeit hingewiesen. Gottes Gerechtigkeit bekommt so für die Schi'iten eine spezifische Dimension, die dann auch zum Glaubensgrundsatz erhoben wird, Gott urteilt gerecht, heißt es vor allem; Gott werde die Guten belohnen und die Sündigen bestrafen. Gott sei gerecht bedeutet für die Schiiten vor allem Vertrauen in Gottes Urteil, ein Vertrauen darauf, daß er am jüngsten Tag jedem seinen gerechten Lohn zukomme lasse. So kann jeder Gläubige die irdische Ungerechtigkeit mit ruhigem Gewissen als "Prüfung" annehmen: wer leidet und trotzdem standhaft bleibt, an Gott und Propheten nicht zweifelt und vor allem selbst nicht richtet, dem ist die Erlösung im Reich der Gerechten sicher.

 

 

 

Die etablierte schi'itische Religion leistete so ihren sehr wichtigen Beitrag zur Sicherstellung der inneren Sicherheit und zum Aufbau des staatlichen Gewaltmonopols. Darüber hinaus konnte sie als eine soziale Kraft, die sich primär an die mittelständischen städtischen Schi'iten richtete, integrierend wirken. Diese Gruppen waren an einer Änderung der bestehenden Machtverhältnisse kaum interessiert, es fehlten ihnen auch die entsprechenden Machtquellen.

 

In den 60er Jahren gewannen allmählich die traditionellen Mittelschichten in Folge des sozialen Wandels und des gestiegenen Wohlstandes an sozialem Gewicht. Gleichzeitig wurden infolge der Landreform Millionen Menschen aus der traditionellen iranischen Landwirtschaft mit ihren mittelalterlichen sozialen Strukturen freigesetzt. Viele von ihnen wanderten in die Städte und verstärkten allein durch ihre Zahl das Heer der proletarischen und subproletarischen Kräfte. Das Leben in der Stadt hat sie, oder zumindest ihre Kinder, relativ schnell auf ihre wachsende Bedeutung aufmerksam gemacht: diese Bedeutung war so augenscheinlich, daß nicht alle bereit waren, jede Art von Arbeit anzunehmen. Demonstrationen für die Erhöhung der Löhne und der Verbesserung der Arbeitsbedingungen wurden allmählich zur Tagesordnung.

 

 

 

Nach den massiven Modernisierungsschüben, die in den 60er Jahren in Industrie, Handel und Dienstleistung einsetzten, wandelte sich das überlieferte Bild der iranischen Städte. Bis zu diesem Zeitpunkt bestimmten neben den zahlenmäßig zunehmenden modernen Ober- und Mittelschichten mit ihrer weitgehend westlichen Orientierung die traditionellen Mittelschichten mit ihrer islamischen Ausprägung die Städte. Die Massenmigration der entwurzelten bäuerlichen Bevölkerung trug erheblich zu einer Transformation der städtischen Erfahrungswelt der iranischen Stadtbewohner bei. Mit ihrer eigenen Vorstellung vom Islam begannen sie nicht nur den Städten ihr "westliches" Image streitig zu machen. Mehr noch, sie fingen an ihren "Islam" gegen den "Atheismus" der Oberschichten zu verteidigen und ihn klassenkämpferisch zu interpretieren. Innerhalb dieser mehr in sub-proletarische Schichten herabgesunkenen Gruppen zeichnete sich schon sehr früh eine Art religiöser "Geschmackswandel" ab. Besonders Jugendliche unter ihnen entwickelten die Vorstellung, daß der etablierte Klerus die gesellschaftlichen und die politischen Verhältnisse zu sehr legitimiere. Nach einer Beobachtung von Eric Hooglund (1980/8) entwickelten die Jugendlichen, die aus den Dörfern kamen und in den Städten arbeiteten, eine neue Einstellung zur Religion: sie lehnten die lustfeindliche Haltung des Klerus ab, sein Puritanismus gab ihnen Anlaß zu unterschwelligem Anti-Klerikalismus. Stattdessen interessierten sie sich für die Schriften von Schariati.

 

 

 

Der Prozeß, der in der Diskussion als "Re-Islamisierung" bekannt wurde, war also begleitet von einer Valenzverschiebung und einer damit einhergehenden "geistigen" Umorientierung, die immer mehr die etablierten islamischen Werte in Frage stellte. Besonders deutlich war diese Umorganisierung der Wahrnehmung in bezug auf die politischen Ereignisse zu beobachten. Hier entstand und verbreitete sich ein Islam, der sich in der Opposition zu den Etablierten als eine Aufstiegsideologie präsentierte. Als eine Folge der Verschiebung der gesamtgesellschaftlichen Machtbalance, die als Funktion der Veränderung der Bedürfnisformel der Gesellschaft und als wahrnehmbares Symptom der funktionalen Demokratisierung der Gesellschaft sich vollzieht, entstand eine "Re-Islamisierung", die als "Renaissance des Glaubens" erscheint.

 

Diese neue Orientierung umfaßt ein weites Spektrum von ideologischen Re-Formulierungen des schi'itischen Chiliasmus, an dessen einem Pol der Khomeinismus bzw. der Fundamentalismus als eine weitgehend konservativ orientierte und nativistisch geprägte Aufstiegsideologie der marginalisierten Massen steht, während mit Schariati und Bazargan die ideologischen Repräsentanten eines weiten Spektrums des islamisch geprägten liberal-konservativen Berufsbürgertums stehen. Diese Aufstiegsideologien sind symptomatisch für einen "sozialen Aufstieg" (Elias, Die Höfische Gesellschaft, S. 188), für eine Veränderung des sozialen Feldes, die für die Beteiligten, gemessen an ihrer Ausgangsposition, die Chance zur Erhöhung des sozialen Prestiges und des Selbstbewußtseins mit sich bringt.

 

 

 

Zu den überragendsten Köpfen, die den schi’itischen Quietismus massiv bekämpften und den Islam als eine Art Aufstiegsideologie des Berufsbürgertums reformulierten, gehörte mit Sicherheit Bazargan, den man im Iran "Ingenieur Bazargan“ nennt. Er, der sein Studium in Frankreich als Techniker abgeschlossen hatte und zur ersten Generation der iranischen Hochschullehrer gehörte, ist ein Exemplar der Angehörigen der modernen Mittel- und Oberschicht, die trotz ihrer erhöhten wissenschaftlichen Kompetenz im Bereich der Naturkontrolle, d.h. trotz ihrer Ausstattung mit relativ angemessenen symbolischen Repräsentanten der außermenschlichen Naturzusammenhänge, ihre religiösen Überzeugungen, d.h. ihre weitgehend religiös geprägten Orientierungs- und Kontrollmittel im sozialen Bereich, ihre islamisch geprägten Mittel der sozialen Kontrolle und der Selbstkomtrolle, nicht zur Disposition stellen konnten.

 

Er wurde als erster Premier der Islamischen Republik bekannt und hatte seine politische Heimat im Kreis der Liberaldemokraten, Dr. Mossadeq und der "Nationalen Front". Um die Wende der 60er Jahre versuchte dann Bazargan seine liberalen Ideen durch eine offensivere Auseinandersetzung mit dem schi'itschen Quietismus des etablierten Islam als einer Erhaltungsideologie der bestehenden Herrschaft, die als seine stärkere Hinwendung zu religiösen Themen erscheint, einem religiös geprägten, jedoch aufgeschlosseneren Kreis zu übertragen,

 

 

 

Bazargan hatte sein Anliegen im Sinne einer sozialen Verantwortlichkeit der Muslime bereits Anfang der 60er Jahre formuliert: Religion bedeutet nicht nur die Einhaltung der Rituale wie Beten und Fasten, sondern auch sich für das Leben der Menschen im Staat zu interessieren. Er macht die apokalyptische Weltabgeschiedenheit für den sozialen Abstieg der Muslime der Welt verantwortlich, wenn er feststellt, daß die moslemischen Staaten deshalb in der Welt herabgesunken seien, weil ihre geistige Elite sich von dem öffentlichen Leben und der Beschäftigung mit den sozialen und politischen Angelegenheiten zurückgezogen hätte: Der größte Schaden, den der Orient sich selbst zugefügt hat, besteht darin, daß seine geistige Elite sich von der Beschäftigung mit den Angelegenheiten der Bevölkerung zurückgezogen, diese den niedrigen Schichten überlassen habe.(marz-e bain-e din va siasat 8)

 

 

 

Er bemühte sich nachzuweisen, daß in der Schi'a keine Trennung zwischen Religion und Politik zulässig sei. Nach ihm müsse die Religion die Politik kontrollieren, denn wenn die Politik die Religion unter ihre Kontrolle bringt, dann wird sie die Religion zerstören; wenn die Religion die Politik nicht kontrolliere, werde die Politik die Religion vernichten; das sei ein Krieg, bei dem es nicht um Kompromisse gehe, sondern um Leben und Tod. Indes werde die Religion, wenn sie sich der Politik bemächtige, sie nicht zerstören, sondern sie nur verbessern, (b'esat va ideologi 41) Bazargan bestand mit seiner liberal-konservativen Vorstellung vom Verhältnis der Religion und Politik auf die relative Stärke der Religion gegenüber der Politik, weil er nur so die Politiker bekämpfen zu können glaubte, die seiner Meinung nach Verderbnis über das Volk brächten. Was er, trotz seines Liberalismus, mit dem Khomeinismus teilte, ist vor allem seine aktivistische Interpretation des schi'itischen Chiliasmus, jedoch mit einer gleichzeitigen Aufwertung der Menschen und ihrem sozial gestaltendem Engagement, unabhängig von ihrer sozialen Position. Während Ay. Khomeini den Quietismus der Geistlichkeit angriff, um sie an ihre sozial dominierende gestalterische Funktion der Geistlichkeit zu erinnern, die die Tradition des Propheten und der unfehlbaren Imame folgend, die absolute Führung der islamischen Gemeinde übernehmen soll, hob Bazargen zugleich die Notwendigkeit des sozialgestalterischen Engagements der Muslime hervor, wenn er gegen den Schi'itischen Quietismus hinsichtlich des Wartens auf den 12. Imam Mahdi als Heiland und Retter aus der politischen Not polemisierte: "Auf wen warten wir? Auf den verborgenen und aufstehenden Imam? Was heißt denn Aufstand und warum soll er aufstehen? Soll er aufstehen und die weltliche Regierung leiten, Gerechtigkeit und Gleichheit an die Stelle der Ungerechtigkeit und Unterdrückung setzen...Und was sollen wir scheinbar moslemisches und in Wahrheit faules und bequemes Volk tun?" (Marz-e bain-e ctin va siasat 24)

 

Bei Bazargans demokratischen Interpretationen des Islam fällt also auf, daß er das dualistische Verhältnis der Bestandteile der klassischen iranisch-islamischen politischen Theorie, also das des allmächtigen charismatischen Führers und des unmündigen Volkes geradezu verkehrte. Ausgehend von der geradezu quietistischen Position der Schi'a, die keine direkte Verbindung mehr zwischen Gott und seinen Geschöpfen nach der Verborgenheit annimmt, zog er den Schluß, daß in dieser Zeit "die Bevölkerung selbst für die Führung der Gesellschaft verantwortlich ist." (b'esat va ideologi 108) Die Führung des Volkes sieht dann bei Bazargan so aus, daß das Volk aus seinen Reihen einige geeignete Vertreter für die Leitung der Gesellschaft wählt. "Im Gegensatz zu dem, was leider bisher unter uns üblich war", bewertet, nach ihm, der Islam die Partizipation und die Kontrolle der Bevölkerung viel höher als Beten und Fasten.(b'esat va ideologi 115)

 

 Nach ihm bedeutet dann der Ausdruck "Welayat" nicht mehr die "Einsetzung eines Vormundes für das unmündige Volk", sondern so ziemlich das Gegenteil davon, d. h. die Überlassung aller Angelegenheiten der Staatsführung dem Volk. Allerdings habe das Volk wie die Regierung kein Recht Kardinalgesetze zu erfassen. Sie können nur im Auftrage des Volkes und unter seiner Aufsicht und "freilich nach Gottes Befehl und in Verantwortung vor ihm" beschlossen werden, (b'esat va ideologi 117)

 

Bazargans Versuch einer fundierteren Übertragung der religiösen Begriffe des Islam in eine Sprache der modernen Politik und Soziologie ist das erste Exemplar einer intellektuellen Ungleichzeitigkeit. Seine Syntheseleistung, die vielmehr eine Assimilation der modernen Orientierungsmitte! an die ihm vertraute symbolische Welt ist, ist symptomatisch für die Erfahrungswelt der islamisch geprägten Intellektuellen, deren älteste Generation Bazargan repräsentiert. Als solcher hat er auch eine Vorbildfunktion für die jüngere Generation der Intellektuellen, die einen Zugang zu den, inzwischen auch im Iran gewissermaßen verbreiteten, modernen wissenschaftlichen Begriffen und Methoden fanden, um soziale Probleme zu thematisieren. Die Macht der überlieferten symbolischen Welt als sozialer A'priori zwang jedoch diese Menschen öfter zu einer Rezeptionsweise dieser modernen Orientierungsmittel, die als eine Verpackung der alten "Inhalte" in einem neuen Gewand erscheint. Aber selbst diese scheinbare Identität weist auf ein Wandlungskontinuum hin, deren Übergänge diese Versuche markieren. Selbst Bazargan benutzte nicht diese, auf seiner Weise rezipierten Orientierungsmittel, um bloß den etablierten Islam mit seinen alten "Inhalten" zu präsentieren, sondern er stellte mit Abstand einen der konsequentesten Vertreter einer Richtung dar, die sich bemühte, den überlieferten Islam von vielen seinen hergebrachten Momenten zu befreien.

 

Diese Selbstbefreiungsversuche, diese Umorganisierung der eigenen Wahrnehmung, diese Denkweise wird von den nächsten islamisch-geprägten Intellektuellen weitergeführt.

 

 

 

Als Vertreter der nächsten Generation war speziell Schariati in der Lage, eine ganze Generation von Jugendlichen zu begeistern. Ihm gelang es, einen aktivistischen links-orientierten Islam nach einem sozialistischen Muster zu entwerfen, indem er den "mostasafan", eben den Schwachen, den Marginalisierten und Stigmatisierten, eine historische Mission zur Befreiung der Welt von den "mostakberan", eben den Mächtigen, also den Machtstärkeren erteilte.

 

Als Laien-Theologe der Befreiung stammte Schariati aus einer stark religiös geprägten und verbundenen Familie; gemäß der allgemeinen Entwicklung, strebte er jedoch die Karriere eines Sozialwissenschaftlers an, anstatt Kleriker zu werden. Von Anfang an interessierte er sich für religiös verpflichtete sozialistische Vorstellungen und arbeitete als Jugendlicher in einer Gruppe, mit einem bezeichnenden Namen "gottgläubige Sozialisten" (sosialisthay-e khodaschenas). In einem ständigen Kontakt zu den sonst marxistisch orientierten Linken und in seinen geistig durchaus einflußreichen Intellektuellenkreisen, legte er nach einem Aufenthalt in Frankreich, wo er sein Studium abschloß, eine sozialistische Interpretation des Islam vor, die augenblicklich populär wurde. In den 70er Jahren genoß er hohe Anerkennung unter jenen Jugendlichen, die immer noch eine scheinbar ungebrochene Beziehung zur Religion pflegten.

 

 

 

Schariati wurde zum Sprecher einer Generation im Iran, der es nicht mehr möglich war, sich mit der etablierten Religion (din/mashab) zu identifizieren, einer Generation mit ambivalenten Bindungen zur Religion, was deutlich wird, wenn er stellvertretend für sie zwei Arten von Religion entgegensetzt und freimütig gesteht: "Niemand hegt so viel Haß gegen die Religion und niemand verbindet so viel Hoffnung mit der Religion wie ich." (eslam shenasi 193). Diese Haß-Liebe, die er dem Islam entgegenbringt, treibt ihn zur Unterscheidung der Aufstiegs- und Erhaltungsfunktion der Religion, indem er immer wieder die zwei Religionen gegeneinander stellt: die eine, die - nach ihm - den Status quo rechtfertige; diese gäbe nur die Tradition der Gesellschaft wieder; sie sei die Verkörperung des Gruppengeistes. Es gäbe zum Beispiel arme Menschen, die all ihre Hoffnungen auf die Teilnahme an den Trauerprozessionen für Imam Hussein richten und dafür sogar das wenige Geld ausgeben, das sie besitzen: diese Religion betrüge diese Menschen und sei Opium für sie. Es gäbe eine andere Religion, eine Religion als Ideologie, die man bewußt wähle, um gegen die Mißstände vorzugehen, um mit ihrer Hilfe die ideale Gesellschaft aufzubauen. Die Religion als Religion könne man allerdings nicht wählen, man werde darin geboren, (eslam shenasi 214)

 

Die traditionelle Religion verbaue den Menschen die Möglichkeit, sich der "Vorhersehung" entgegenzustellen und rate ihnen, Geduld zu üben und auf die Gerechtigkeit Gottes im Jenseits zu warten.(haj 191) Der größte Betrug der traditionellen Religion bestehe in der Teilung der Welt in zwei Etappen und der Vertröstung der Menschen für erlittenes Unrecht auf das Jenseits. Die Vorstellung über Gott, Gottes Gericht, über heilige, unsichtbare Kräfte etc. seien nichts als Betrügereien der etablierten Geistlichkeit, (mazhab 'alehe mazhab 18)

 

 

 

Öfter widerholte er den Vorwurf: "Religion sei Opium für das Volk" (eslam shenasi 181). Religion sei die Summe von traditionellen Ideen, eingeflößten Gefühlen, Nachahmungen von den Tagesmoden, sagte er. Hingegen sei die Ideologie eine bewußte Meinung über die Unzulänglichkeiten der herrschenden Verhältnisse und eine Vorstellung über Alternativen, (eslam shenasi 152/163) Jede Religion sei zu ihrer Entstehungszeit eine "Ideologie", aber dann degradiert sie zur sozialen Institution, eben zur Religion, denn aus den ursprünglichen revolutionären Ideen werden "einheimische oder völkische Traditionen als Ausdruck von Gruppen- und Gemeinschaftsgeist." Im Gegensatz dazu sei die "Ideologie" die optimale Waffe, die herrschenden Zustände zu verändern, genauso wie die Ideologen des 19. Jahrhunderts dazu in der Lage waren.

 

 

 

Schariati setzte so die "Ideologie", die im Wesentlichen eine sozialistische Ausrichtung hatte, an Stelle des geheimen göttlichen Wissens bzw. er bemühte sich, das letztere im Sinne der ersteren zu interpretieren. Seine Kritik der Religion war nicht gegen ihr Wesen gerichtet, ihm ging es darum, ihre alte und nicht mehr zeitgemäße politische Theorie und entsprechende Vorstellungen über die "Politik" durch zeitgemäßere Inhalte zu ersetzen . So wird der "Imam" nicht mehr der traditionelle Imam, sondern ein revolutionärer Führer a la Lenin. Die Strukturähnlichkeiten der beiden Theorien gaben ihm auch die Chance, diese Umstülpung relativ problemlos vorzunehmen. In diesem Sinne unterscheidet er sich nicht von Bazargan, doch Schariati ist ein radikalerer Aufstiegsideologe. Als ein revolutionär orientierter Intellektueller kritisierte er die etablierte Religion, weil sie zur einer der wichtigsten Säulen der Herrschaft geworden wäre, weil sie die Menschen geistig dafür vorbereitete, "friedlich" miteinander zu leben.

 

Zwar hatte die etablierte Religion in der iranischen Gesellschaft von mehreren anderen Seiten Konkurrenz bekommen, die ihr vorwarfen, sie sei die "Ideologie der herrschenden Zustände" und legitimiere die Ausbeutung der Menschen. Doch diese Konkurrenten waren in der Regel kommunistische Gruppen, mit denen sich die meisten jüngeren und religiösen Menschen wegen ihrer "Gottlosigkeit" nicht identifizieren konnten. Für die, die nicht kommunistisch werden konnten und dennoch angesichts der Verschiebung der Machtbalance zu ihren Gunsten nicht mehr bereit waren ihre tradierten inferioren Rollen zu akzeptieren, hatte die Religion ihre historische Rolle längst nicht eingebüßt. Es gab noch sehr viele Menschen, die mythisch dachten und nur durch die religiösen Metaphern klassenkämpferisch mobilisiert werden konnten. Zudem reizte der betont demonstrative Bruch der etablierten Modernisten im Alltagsleben, der als Religionslosigkeit erschien, zusätzlich zu einem Klassenkampf unter der Fahne des" Islam ".

 

Schariati war wie viele seiner jugendlichen Anhänger Gegner der etablierten Herrschaft, Sie sehnten sich nach einer Religion, deren chiliastischer Gehalt einerseits wieder reaktiviert und andererseits modernistisch, oder wie sie es selbst sagten "wissenschaftlich", interpretiert werden würde. Sie wollten aber von einer "wertfreien", einer mehr objekt-orientierten Wissenschaft nichts wissen; eine Wissenschaft, deren Hauptaufgabe nicht darin bestünde, die etablierte Herrschaft zu zerstören, verdiente es nach Schariati nicht "Wissenschaft" genannt zu werden. Nach ihm grenzt sich die Ideologie von der Wissenschaft ab, weil Wissenschaft nur Informationen über die Einzelheiten der äußeren Welt liefere. Ideologie unterscheide sich aber auch von der Philosophie, die mehr allgemeine Überlegungen über die Menschen und die Welt anstelle. Doch beide können ohne Ideologie nicht sehr viel erreichen: "Sie, die sie die Augen für die Geheimnisse der Welt öffnen, sind nicht in der Lage, die Menschen vor Ausbeutung und Unterdrückung zu bewahren." (ideologi 192)

 

 

 

Er forderte die Philosophie, Kunst Literatur und Wissenschaft auf, nicht länger "unparteiisch" zu bleiben, denn die sogenannte Freiheit der Lehre und Forschung sei die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. (ideologi 211) Ideologie habe nach seiner Einschätzung drei Bereiche: die Weltanschauung, die kritische Einschätzung des Status quo und Alternativvorschläge für den Aufbau einer neuen Ordnung, (ideologi 191) Nach ihm verwandelt sich die Religion zu einer Ideologie, deren Aufgabe es sein wird, den Zustand der Welt festzustellen: "wie es ist", "wie es nicht sein soll" und "wie es werden soll".

 

 

 

Schariati gelang eine weitere entscheidende Umstülpung der Religion: verstand Bazargan unter dem Volk, das er zum Handeln aufgefordert hatte, das eigene Schicksal zu bestimmen, die Gläubigen, begreift nun Schariati das Volk als Klassenkämpfer. Schariati übertrug die religiösen Begriffe "Gut" und "Böse" auf soziale Gruppen und identifizierte mit "gut" die Armen und Entrechteten und mit "böse" die Reichen und Mächtigen. Er benutzte das koranische Begriffspaar mostazafan und mostakbaren, die Schwachen und die Starken, für diese soziale Gruppen, anstatt der im Iran mehr gebräuchlichen Begriffe mazlum (unterjocht, unterdrückt; eingeschüchtert; bescheiden; demütig) und zalem (grausam, tyrannisch, ungerecht, Unterdrücker, Bedrücker, Tyrann), und rief die mostazafan auf, nicht auf das jüngste Gericht zu warten, sondern selbst die Welt zu ändern. Denn "Gott ändert nichts am Zustand der Welt, wenn die Menschen nicht selbst tätig werden." Sie sollten aufstehen und das versprochene Gottesreich errichten, indem sie die Weit erst von den Reichen und Mächtigen, also von den Unterdrückern, befreien, weil Gott ihnen, also den Armen und Entrechteten, versprochen habe, sie zu Herren über die Erde zu machen.(haj 198)

 

 

 

Schariati betonte, daß die Menschen zu dieser historischen Mission durch ihre Erschaffung berufen worden wären. Gott schuf die Menschen aus Schlamm und blies seinen Geist in sie hinein. Doch nur die guten Menschen steigen zu ihm hinauf und die schlechten sinken wieder zum Schlamm herunter. Gut oder göttlich werden die Menschen dann, wenn sie die Partei der Armen und Entrechteten ergreifen und sich für die Wiedererrichtung der göttlichen Ordnung einsetzen, dann ergreifen sie die Partei Gottes. (Hezb al-Atah) Handeln sie im Sinne der Reichen und Mächtigen bzw. Imperialisten und Kapitalisten, die einst die göttliche Ordnung zerstört haben, so ergreifen sie die Partei des Bösen, des Teufels.

 

 

 

Schariati interpretiert die göttliche Mission und die Entscheidungsfreiheit der Menschen nicht im Sinne der Verhaltensmoral, sondern im Sinne des Wiedererreichens eines klassenlosen sozialen Endzustandes, wofür sich die Menschen einzusetzen haben, wollen sie ihrem Menschsein gerecht werden. So gelten die Menschenrechte nur für die Armen und Entrechteten, für mostazafan, die Reichen und Mächtigen hätten keine "Rechte", denn sie werden aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. So werde jeder Schritt, der die Menschen von den Reichen entfernt, ein Schritt zu Gott; jeder Schritt wiederum, der sie von den Armen entfernt, wäre ein Schritt zum Teufel. Jeder Unterdrücker wird so in seiner Vorstellung ein Abgott, jeder Unterdrückte bzw. jeder, der die Partei der Unterdrückten ergreift, ein Gott, jemand, der sich bemüht, das Göttliche in sich zur Geltung zu bringen, (eslam shenasi 93)

 

Im Zentrum dieser Religion, die nun Schariati in den 70er Jahren im Iran mit Erfolg propagierte, stand nicht mehr der Klerus als die eigentliche Figur. Diese wird bei ihm ein "roshanfekr" (hell-Denker), ein Mensch, den man am besten als "revolutionären Intellektuellen" bezeichnen kann, wenn man Schariatis Intention korrekt wiedergeben will. In diesem Sinne gab Schariati auch der ganzen Diskussion über die Wissenden bzw. Intellektuellen eine neue Dimension, denn er erklärte jeden, der sich im politischen Kampf aktiv engagierte, zum Revolutionär (roshanfekr). Für ihn besteht zwischen der historischen Verantwortung der Imame und des Propheten, die sich zu ihrer Zeit als "Revolutionäre" betätigt haben, und den heutigen Aufklärern kein Unterschied, gingen doch der Prophet und die Imame zum Volk und entfachten eine revolutionäre Bewegung gegen ihre korrupte Umwelt: "Roshanfekrs größte Verantwortung für die Gesellschaft ist, die wahren Ursachen der sozialen Misere zu finden. Die schlafende Gesellschaft über ihr historisches Schicksal aufzuklären und ihr eine Lösung vorzuschlagen," (roshanfekr 63f)

 

 

 

Unbestritten ist, daß er auch den Klerus durch die modernen Träger der chiliastischen Ideologie ersetzen und ihnen die Pflicht erteilen wollte, ihr "Wissen" im Sinne des Volkes einzusetzen. Doch auch der Klerus konnte zu dieser Kategorie gehören, sobald er sich vom adventistischen Chiliasmus loslöste. Er wendet sich gegen die seiner Meinung nach unkorrekt begiffene Vorstellung vom Intellektuellen als "Kopfarbeiter"; nur diejenigen, die eine "Ideologie" besitzen und sie einsetzen, dürfen als 'Intellektuelle" bezeichnet werden. Denn wer sich als intellektuell bezeichnet, muß also eine Lebensphilosophie haben und sich ihr verpflichtet fühlen. Diesen Typus von Intellektuellen kann man nicht überall finden. Für ihn gehörten Aristoteles und Plato nicht dazu, weil sie konsumiert hätten und nicht tätig geworden wären. Aber solche Propheten wie Mohammad hätten deutliche Schritte in diese Richtung unternommen, (roshanfekr 18)

 

 

 

Was Schariati theoretisch entwickelte, versuchte die zu Beginn der 70er Jahre mit Terrorakten an die Öffentlichkeit getretene Gruppe "mojahedin-e khalq" gewaltsam durchzuestzen. Sie erhob seine Grundsätze zur Maxime ihres Kampfes und fügte die Notwendigkeit eines bewaffneten Kampfes für die Befreiung aus dem Joch der Herrschenden als unverzichtbar zusätzlich hinzu. Zu diesem militanten links-revolutionären Islam entwickelten allmählich die traditionell links eingestellten iranischen Intellektuellen eine sehr gute Beziehung. Exemplarisch für solche Einstellungen steht der marxistisch orientierte Dichter Gol-e Sorkhi, der bei seiner Verteidigung vor dem Gericht, das ihn zum Tode verurteilte, betonte, daß er zwischen dem wahren Islam und dem Marxismus nicht zu unterscheiden vermag: "ich bin ein Marxist-Leninist und habe die soziale Gerechtigkeit zum ersten Mal in der Schule des Islam gefunden." (nazm-e navin Nr.7/59)

 

 

 

Mit dieser Neuorientierung des Berufsbürgertums als Funktion der Veränderung der Machtbalance als Folge des sozialen Wandels und des Zuzugs von Millionen Menschen aus den ländlichen Regionen in die Städte ging auch eine Veränderung der sozialen Basis des Klerus einher; die Orientierung der aus den Dörfern in die Städte eingewanderten Menschen war zwar islamisch, sie galten aber bis dahin keineswegs als "Reservearmee" des Klerus; auf keinen Fall standen sie unter seinem politischen Einfluß.

 

Der Klerus hatte seine politische Basis im Iran wie in den meisten islamischen Ländern in den mittelständischen städtischen Schichten, in den Kreisen um die Bazare, bei Gewerbetreibenden und Handwerkern. Die Geistlichkeit hatte sicherlich eine große religiöse Autorität auch in den ländlichen Regionen, aber wenig politischen Einfluß: hier waren gewöhnlich Großgrundbesitzer und Regierungsbeamte sozusagen "Herr im Haus" und ließen nach Möglichkeit dem Klerus keine Chance, seine Zelte dort aufzuschlagen. In den Dörfern fungierten in der Regel verarmte Prediger, die sich hüteten gegen den Arbab (Herr) etwas zu sagen.

 

 

 

Die Enteignung der Großgrundbesitzer in den 60er Jahren reduzierte ihren Einfluß in den ländlichen Regionen; ihren Platz konnten nicht selten die Geistlichen ausfüllen. Gleichzeitig suchte die in die Städte gewanderte bäuerische Bevölkerung Schutz und Geborgenheiten in der Umgebung des Klerus. Aber zum Ansprechpartner dieser Menschen wurden in der Regel jüngere Kleriker, die selbst unter dem Einfluß von Schariati und Mojahedin standen. Sehr viele von diesen jungen Theologen fanden keine angemessene Bestätigung in den Zielen und Vorstellungen der etablierten Geistlichkeit und konnten sich mit dem etablierten Islam nicht mehr identifizieren.

 

In einer Zeit, in der die Geistlichkeit ihr Jahrhunderte altes Monopol an Produktion und Verteilung von Wissen mit neu entstandenen Wissensproduzenten und -verwaltern zu teilen gezwungen wurde, büßte sie ständig an Macht und Prestige. Mit dem Vertust des Interpretationsmonopols der Realität ging aber auch eine Spaltung des Klerus einher – in einer sich mit dem Status quo arrangierenden und einer gegen den Status quo agierenden Fraktion.

 

Die sich mit dem Status quo arrangierenden Geistlichen tendierten dahin, neueres, moderneres Wissen aufzunehmen und den Islam einer sich verändernden Realität und den gewandelten Bedürfnissen ihres Klientels anzupassen. Es gab aber auch eine zunehmende Zahl von Geistlichen, die den Status quo ablehnten und sich anschickten, den schi'itischen Islam im Sinne einer massenwirksamen revolutionären Ideologie umzuinterpretieren. Doch hier merkten meistens jüngere Theologen, daß es nicht so leicht ist, über den eigenen Schatten zu springen und sich wie Schariati so weit von den islamischen Überleiferungen zu distanzieren .

 

Diese Gruppe wurde eher von der, den Status quo kompromißlos ablehnenden, aber sich doch sehr stark an bestimmten überlieferten islamischen Grundannahmen anlehnenden Haltung von Ayatollah Khomeini als revolutionäre Ideologie affiziert. Sie begannen seit Mitte der 60er Jahre mit revolutionären Aktivitäten, riskierten Auseinandersetzungen mit der Sicherheitspolizei und wanderten ins Gefängnis. Ein Aufenthalt im Gefängnis bedeutete dann eine weitere Berechtigung für einen intensiveren Einsatz, der vielen von ihnen den Weg nach Ausbildungslagern im Libanon öffnete, wo sie sich schließlich als Freischärler ausbilden ließen. Daraus entwickelte sich eine fundamentalistische Wendung des Islam, die mit dem Namen von Ayatollah Khomeini verwoben wurde, lange Zeit bevor die Revolution im Iran stattfand.

 

Der Islam, den diese Theologen vertraten, war ein ganz anderer Islam, als er in den Theologiezentren gelehrt wurde: er war nicht nur politisch, er war sozialrevolutionär; vor allem als "Befreiungsideologie" systematisiert, wurde er von den "Gesinnungsbrüdern" in Ägypten, Libanon und Irak übernommen. Dieser Islam wendete sich vor allem gegen die etablierten Herrschenden im Iran unter dem Schah, die sich westlich orientierten und die iranische, insbesondere den für die unteren sozialen Schichten noch weitgehend gültigen Kanon der Verhaltenmuster verspotteten.

 

Ay. Khomeini, der die Erfahrung der Stigmatisierung dieser Außenseitergruppen teilte, richtete mit seiner aktivistischen Re-Formulierung der chiliastischen Gehalte des (schi'itischen) Islam gegen diese modernisierte iranische Elite als Usurpatoren des nur der Geistlichkeit zustehenden absoluten Machtmonopols und des entsprechenden sozialen Prestiges. Zentral ist daher in seiner Islaminterpretation die Behauptung der Notwendigkeit der aktiven Wiederherstellung der einstigen Stellung der Geistlichkeit in der Gesellschaft an der Spitze der sozialen Hierarchie. Jedoch waren die 'Olama, die er sozial erhöhen wollte, keineswegs die Gruppe von Geistlichen, die sich politisch abstinent verhielten sondern die "kämpferische 'Olama", immerhin eine kleine Minderheit im Iran. Diese bekämen dann, neben ihrer "sozialrevolutionären" Funktion, die Aufgabe, den künftigen islamischen Herrschaftsverband zu leiten, da nur sie allein in der Lage seien, das Gesetz Gottes richtig zu verstehen und anzuwenden. Er beanspruchte allerdings weniger die Führung des Klerus als die des Islam in einem einzigen Land der Erde, als vielmehr ihre Herrschaft über die ganze Welt. In diesem Sinne stellte er die führende Rolle der modernen Technik und Wissenschaft in der heutigen Welt in Frage. Er stellte zwar die Notwendigkeit und Berechtigung der modernen Naturwissenschaften nicht gänzlich in Frage, die selbst in den Dienst des Islam gestellt werden sollten. Den Sozialwissenschaften sprach er jedoch jede Berechtigung ab, begriff er doch die Beschäftigung mit der sozialen Dimension der Realität als ein Monopol der Religionen und insbesondere des Islam. Indes seien sie nicht in der Lage, ihre eigenen Probleme zu bewältigen, denn es fehle ihnen an Glaube und Moral, und zwar an denen des Islam: "Denn die Überwindung der gesellschaftlichen Schwierigkeiten und des Unglücks erfordert geistige und ethische Lösungen. Materielle Macht, Reichtum, Eroberung des Weltalls bieten keine Lösungen. Reichtum, materielle Macht und Eroberung des Weltalls bedürfen des Glaubens, der Überzeugung und Ethik des Islam, um sich zu vervollkommnen, Ausgeglichenheit zu finden und den Menschen zu dienen, anstatt ihnen Unglück zu bringen." (1983/26, hervorgehoben von mir-D.G.)

 

Doch was für ihn schon "Religion" ist, ist keine Religion mehr im etablierten Sinne des Wortes. Ungeachtet der schi'itischen Tradition, die eine Teilung zwischen Religion und Politik, als soziale Funktionsteilung zwischen zwei unterscheidbaren Gruppen von Menschen, verwirklicht hatte, betonte er, daß die Vorstellung einer Trennung zwischen Religion und Politik und somit der Nicht-Einmischung der 'Olama in politische Angelegenheiten eine reine Erfindung der Ungläubigen bzw. Kolonialisten und ihrer politischen Handlanger sei: "War zur Zeit des hochedlen Propheten -G- die Politik von der Religion getrennt? Gab es zu jener Zeit eine Gruppe von Geistlichen und eine Gruppe von Politikern und Administratoren? War unter den legitimen und illegitimen Khalifen und während des Khalifats Seiner Heiligkeit, des Fürsten -F-, die Politik von der Religion getrennt? Gab es zwei Institutionen?" (1983/29) Die fundamentalistische Begründung der Einheit von Religion und Politik unter der absoluten Führung der Geistlichkeit als Fortsetzer der Tradition des Propheten und der Khalifen stellt die Legitimation der späteren Trennung der Politik von der Religion in der Schi'a in Frage und stigmatisiert sie in diesem Sinne als eine Abweichung von der grundsätzlichen islamischen Position, die daher rückgängig gemacht werden muß.

 

Für ihn sind religiöse und politische Herrschaft, die als Personalunion der Herrschaft der Geistlichkeit, als Erbin des Propheten und der Khalifen und daher als ihre einzig legitime Nachfolgerin als absoluter Herrscher in der Zeit der Abwesenheit des 12. entrückten Imam gelten, unzertrennlich. Der Islam war für ihn keine Heiligenverehrung, keine mystische Zuwendung zu Gott und keine seelsorgerische Beschäftigung mit den Lasten des Lebens allein, sondern eine theokratische Herrschaft. Auch wenn man feststellt, daß für ihn Religion und Politik unzertrennbar wären, hat man immer noch nicht den Kerngehalt seiner Vorstellung getroffen; denn die meisten schi'itischen Geistlichen sind genauso "politisch" wie ihre sunnitischen oder auch ihre christlichen Kollegen. Was jedoch Ayatollah Khomeini von diesen unterscheidet ist sein Politikbegriff. Seit den Ereignissen des 4.Juni 1963, die zu seiner Verbannung in den Irak führten, begreift er die Politik nicht mehr als eine systemimmanente oder gar systemerhaltende Tätigkeit. Er hat sich seit dieser Zeit, die für alle iranischen revolutionären Organisationen als "Wendepunkt" der eigenen Handlungsorientierung begriffen wird, als einen "Sozialrevolutionär" verstanden, bei dem nur die Bildung einer neuen islamischen Ordnung als Inbegriff der Politik die psychologische Richtung seiner Handlungen bestimmte.

 

Diesem Politikbegriff liegt eine Vorstellung vom Islam als Inbegriff der absoluten sozialen Kontrolle zugrunde, wonach die Religion die Herstellung jener politischen Ordnung bedeutet, die Lebens- und Verhaltensweisen der Menschen entsprechend der durch die Geistlichkeit als islamisch definierten Verhaltensmuster steuert. Die Religion erziehe die Menschen, sorge für ihre materiellen und seelischen Bedürfnisse; aber das Ziel solch einer Erziehung sei nicht allein das irdische Glück, sondern ebenso sehr das himmlische: "Das Ziel ist, den Menschen zu erziehen, einen vollkommenen und gebildeten Menschen, der die lebendige Verkörperung des Gesetzes ist und die Gesetze freiwillig und selbstständig verwirklicht. Der Islam legt außerordentlich viel Wert darauf, durch die Bildung einer islamischen Regierung und die Regelung der politischen und ökonomischen Angelegenheiten der Gesellschaft alle Voraussetzungen für die Erziehung eines ehrenhaften und gebildeten Menschen zu schaffen."(1983/36f-Hervorhebung von mir -D.G.)

 

Mit diesem Islambegriff, als symbolischem Repräsentanten einer zugunsten der Fremdbestimmung verschobenen Balance zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und damit im Sinne einer Formalisierung des Verhaltens aller Menschen, wird zwar auch für Ay. Khomeini Gottes Gesetz zum Inhalt der Religion wie es auch für die quietistisch orientierten Geistlichen der Fall war, habe doch der Islam für alle Angelegenheiten Gesetze und Vorschriften: "Er hat für den Menschen Gesetze verkündet, die sein ganzes Leben, vom Embryonalzustand bis zum Begräbnis, umfassen"(Khomeini,1983,18). Doch das als ewig geltende Gesetz, das ihm vorschwebt, ist keine private Angelegenheit jedes einzelnen Menschen, der von Natur aus unmündig sei und deshalb eines Vormunds bedürfe; dieses Gesetz ist die einzige normative legale Struktur der Gesellschaft, die einzige Basis jeder ethischen Praxis und moralischen Verhaltens, die weil und solange von Menschen mißachtet, öffentlich sanktioniert werden muß.

 

Aus dieser Position heraus wandte er sich gegen seine adventistisch orientierten Kollegen: "Seit Beginn der kleinen Verborgenheit sind tausend und einige hundert Jahre vergangen. Es besteht die Möglichkeit, daß noch hunderttausend Jahre vergehen und seine Heiligkeit noch nicht zurückkehrt. Sollen die Gesetze des Islam für so lange Zeit nicht angewendet werden? Darf jeder tun, was er will? Darf ein Chaos entstehen? Waren die Gesetze, deren Darlegung, Propagierung, Verbreitung und Durchsetzung den Propheten dreiundzwanzig Jahre harte Arbeit kosteten, nur für eine begrenzte Zeit gedacht? Hatte Gott die Zeit der Anwendung seiner Gesetze auf dreiundzwanzig Jahre beschränkt? und hat der Islam nach dem Beginn der kleinen Verborgenheit auf alle seine Prinzipien verzichtet? Das zu glauben oder zu verbreiten ist schlimmer als zu glauben oder zu verbreiten, daß der Islam überholt sei." (1983/34). Als moralischer Imperativ bedürfen sie also unterstützender Sanktionen in Gestalt der absoluten Herrschaft des weisen und gerechten Schriftgelehrten als Statthalter Gottes. Das bedeutet aber nicht, daß der absolut herrschende Schriftgelehrte nach eigenem Gutdünken entscheidet; selbst dem Propheten stand es nicht zu, selbstherrlich zu entscheiden. Danach muß sich jeder Herrscher ebenfalls dem göttlichen Gesetz unterwerfen: "Das göttliche Gesetz ist für den Führer wie die Geführten in gleicher weise bindend. Das einzige Gesetz, das für alle Menschen bindend ist, ist das göttliche Gesetz. Der Gehorsam gegenüber dem hochedlen Propheten -G- beruht ebenfalls auf Gottes Befehl. Gott sagt: 'Gehorsam dem Gesandten!" Der Gehorsam gegenüber den Regierenden wird auf Befehl Gottes geleistet, der sagt: 'Gehorchet...denen, die Befehl unter euch haben!' Die Meinung einzelner Personen, selbst die des hochedlen Propheten sind dem Willen Gottes unterworfen. "(1983/53)

 

Wird der Herrscher dem Gesetz unterstellt, dann werden auch keine charismatischen Qualitäten benötigt, um die Herrschaft ausüben zu können. Deswegen sind auch aus dem politischen Herrschaftskonzept von Ayatollah Khomeini die charismatischen Qualitäten des Imam als seine "geistigen Eigenschaften" suspendiert, weil sie mit dem Amt der politischen Führung nichts zu tun hätten: auch die Prophetentochter habe solche Qualitäten besessen, ohne jemals für das Amt der politischen Führung in Frage gekommen zu sein.(1983/64) Somit sind die Kriterien der Regierungsfähigkeit ganz normale und profane Fähigkeiten, die jeder, der die Kenntnisse über das Gesetz erworben hätte, zur Ausübung dieses Amtes berechtigte. "Kenntnis des Gesetzes und Gerechtigkeitssinn bilden nach Meinung der Moslems die grundlegenden Voraussetzungen für ein Staatsoberhaupt. Andere Fragen sind nicht wichtig, z. B. hat Kenntnis der Natur der Engel oder Eigenschaften Gottes keine Bedeutung für die Führung.“ ( 1983/53)

 

Wenn nun das vom kämpferischen Klerus sanktionierte Gesetz der einzige Schutzwall gegen die Pervertierung der Herrschaft und Verderbnis der Moral ist, dann schaltet sich derImam als göttlicher Alleinherrscher aus, der seine Legitimation aus seinem Charisma bekommt und weiterhin mit Gott durch Inspiration (elham) in Kontakt steht und deshalb als einziger in der Lage ist, nicht nur das Gesetz zu verstehen, sondern es auch richtig anzuwenden. Damit nahm Ayatollah Khomeini die Person des Charismatikers gänzlich aus der Diskussion um die Bildung einer islamischen Herrschaft heraus, was das Haupthindernis für Rebellionen gegen die irdische Herrschaft darstellte.

 

Diese Säkularisierung einer theokratischen Herrschaftsberechtigung, die mit einer Hierokratisierung der Herrschaft einhergeht, impliziert eine institutionelle Demokratisierung der hierarchischen Struktur der zur Herrschaft Berechtigten. Die eigentliche Konsequenz, die aus Ayatollah Khomeinis Argumentationen gezogen werden kann, besteht also nicht allein in der Übertragung der politischen Funktionen des Imam auf einen und mehreren "gelehrten und gerechten" Geistlichen: sie besteht genauer gesehen - und das ist ihre logische Voraussetzung - in der Aneignung der in Imam Mahdi aufbewahrten "chiliastischen" Funktionen durch wirkliche Menschen: diese chiliastischen Qualitäten, die bisher aus dem Bereich der Wirklichkeit in den der Unwirklichkeit verbannt worden waren, kehren zurück. Der nächste mögliche Schritt wäre in Richtung einer institutionellen Demokratisierung der Hierokratie: nun kann sich fast jeder Mensch, der sich selbst für mündig hält, sich auch gegen Ayatollah Khomeinis Herrschaft bzw. die seiner Erben. Denn die Kritik der Religion ist der Anfang aller Kritik, und zwar im doppelten Sinne - als "Waffe der Kritik" und "Kritik der Waffe", der theoretischen und praktischen Kritik.

 

Schuf die Modernisierung die Voraussetzungen einer religiösen Kritik der Gesellschaft der Menschen, so schuf die theoretische und praktische religiöse Kritik die Voraussetzungen einer Kritik der Religion in Gestalt der Kritik der "Islamischen Republik".

 

Im Sinne eines islamisch begründeten demokratischen Auftrages erscheint der islamische Revivalismus als eine Konfessionalisierung sozialer Konflikte und damit als ein Richtungswandel der Zivilisierungs- und Staatsbildungsprozesse, als ein Schub in Richtung einer größeren Subjektzentriertheit, der größeren Konfessionszentriertheit der Wahrnehmung der Menschen (vgl. Wissoz, 45Ü), weil der Islam die überlieferten Reaktionsmuster von Menschen symbolisiert, deren verinnerlichten moralischen Kontrollinstanzen als Funktion der Modernisierung zusammenzubrechen drohten, ohne durch angemessenere ersetzt werden zu können.

 

Als Erlebnismuster der von der Modernisierung in traumatischer Art erfaßten Menschen wurde dieser sich wandelnde Islam nicht nur von den Etablierten ignoriert; dieses den betroffenen Menschen als selbstverständlich erscheinende Gedankengerüst ihrer Beobachtung, dieses Grundschema des Selbsterlebens und des Menschenbildes der immer zahlreicher werdenden Außenseiter wurde als reaktionär und/oder bäuerlich stigmatisiert und gehänselt, ohne nachempfinden zu können, welches Leid diese Menschen erfahren. Davon überzeugt, daß mit der Veränderung der ökonomischen Verhältnisse und mit der von oben eingeführten Säkularisierung der Erziehung und des Rechtswesens früher oder später der Religion die materielle Grundlage entzogen wird, verwechselte man den relativen Prestigeverlust der Geistlichkeit mit ihrem Machtverlust. Diese Fehleinschätzung teilten auch die moderneren Teile der Opposition, die nicht den Machtzuwachs der Geistlichkeit als eine unbeabsichtigte Folge der Modernisierung und die damit verbundene Leidenserfahrung der Menschen voraussehen konnten.

 

Zum besseren Verständnis der Leidenserfahrung dieser Menschen und der veränderten Bedürfnisformel der Gesellschaft sollen hier einige Hinweise auf einige Aspekte der Ungleichzeitigkeit genügen.

 

 

 

Seitdem die kapitalistische Entwicklung der Wirtschaft und der Industrie offiziell die höchste Priorität für die iranische Regierung erlangt hatte, wurde wenigstens einigen ausländischen Experten zunehmend klarer, daß die Realisierung eines derart hochgesteckten Zieles weitaus mehr erfordere als nur den Import von Technik und der entsprechenden Organisationsformen; als eine der wesentlichen Vorbedingungen hätte sie eines spezifischen Sets von sozialen Werten und Verhaltensnormen bedurft.(vgl. Millward, 13ff) Vor allem hätte sich das Leistungsprinzip als zentrales Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft durch Verinnerlichung der Normen abstrakter Arbeit gesellschaftlich, also auch die soziale Mobilität bedingend, Geltung verschaffen müssen. Die Durchsetzung dieses zentralen Prinzips geriet jedoch im Prozeß kapitalistischer Entwicklung im Iran in einen permanenten Konflikt mit einer Anzahl weiterhin relevanter, prä-existenter sozialer Werte, die auf dem Primat der Verwandtschaftsbeziehung und -verpflichtung als einer moralischen Tugend basierten, so daß nicht einmal der politische Staat - als Vermittler dieser Entwicklung - sich vom Nepotismus befreien konnte.

 

Obwohl private Kapitalakkumulation zu einer wesentlichen Stütze der iranischen "Wirtschaftsphilosophie" geworden war und die sich hauptsächlich aus ehemaligen Grundbesitzern und Kaufleuten rekrutierenden Industrieunternehmer ihr Geldkapital in staatlich unterstützte Projekte investierten, blieb ihr Geschäftsverhalten zumindest in Übereinstimmung mit den traditionellen tradierten ökonomischen Normen. Die widersprüchlichen Anforderungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems einerseits und der tradierte zwischenmenschliche Umgang andererseits stellten sie vor Konflikte, die, gerade weil sie weniger bewußt blieben, nicht zu lösen waren, da sie eine unmögliche Synthese zwischen Profitgier und Desinteresse an Geld hätten vollziehen müssen.

 

Ein derartiger Nachhinkeffekt des sozialen Habitus machte nicht allein die Durchsetzung des Leistungslohns und der Durchschnittsprofitrate als kapitalistische Verteilungsprinzipien des gesellschaftlichen Reichtums zu einem ernsthaftem Problem; sie produzierte nicht nur enttäuschte Erwartungen bei der Arbeiterschaft, sie ließ auch jene ökonomische Krise entstehen, die zum Teil aus dem permanenten Konflikt zwischen widersprüchlichen Handlungsperspektiven zu erklären ist und die sich im Zuge der kapitalistischen Entwicklung zunehmend verstärkte und einen der Aspekte des Entstehungszusammenhangs der Revolution bildete.

 

Auf die Genese des "Fundamentalismus" wiesen allerdings schon viel früher diverse Indikatoren der "sozialen Pathologie" in den Elendsvierteln Irans hin, wie beispielsweise gestiegene Selbstmordraten, vermehrter Alkoholismus und Drogenabhängigkeit; all dies sind Formen der Autodestruktion, die aus der mit Integrierungskonflikten und -spannungen einhergehenden Ängste der Menschen resultieren.

 

Eine solche Angst, die den Islam als entsprechendes Wunschbild verstärkte, läßt sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen aufzeigen; so vollzog sich in der Strukur der Familie vor allem ein äußerlicher Wandel, ohne die reale Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft grundlegend zu verändern. Weder der Zerfall der Großfamilie, noch die unter Rezah Schah eingeleiteten Maßnahmen zur "Frauenemanzipation" vermochten solch eine Änderung herbeizuführen.

 

Während die Zwangsentschleierung der Frauen für weite Teile der traditionell sozialisierten weiblichen Bevölkerung eher ein grundlegendes Schockerlebnis als den Anfang ihrer "Befreiung" darstellte, zeigten die gesetzlichen Änderungen der Frauenrechte in der Praxis kaum Auswirkungen, selbst die zunehmende Zahl der erwerbstätigen Frauen vermochte nur ansatzweise ihre reale Stellung zu ändern.

 

Zwar bestimmte idealerweise selbst im traditionellen islamischen Haushalt die Frau "Wie eine Königin" - der die effiziente Haushaltsführung und die Verantwortung der Erziehung der Kinder unterstand - während der Mann im gewissen Sinne" der Gast seiner Frau zu Hause" war (Nasr, S.H., Ideals and Realities of Islam, London, 1966, S.113). Jedoch entsprach in den meisten moslemischen Haushaften die reale Position der Frau nicht einmal diesem traditionellen islamischen Ideal, da die absolute Autorität des Vaters alle innerfamiliären Beziehungen dominierte

 

Dabei trug die autoritäre Verhaltensweise des Familienvaters nicht nur zur Reproduktion des allgemein eingeschränkten sozialen Status der Frau in der Gesellschaft bei, sie nährte auch eine Mentalität, die einer bürgerlichen und liberalen Entwicklung der Gesellschaft und des Staates abträglich war. Kein Wunder, daß das "Familienschutzgesetz", das nach dem Landreformgesetz eines der radikaleren darstellte, ein Spektrum außerparlamentarischer Reaktionen hervorrief, da das Gesetz praktisch das islamische Scheidungsrecht abschaffte und den Männern eine unbegründete Scheidung von ihren Frauen untersagte.

 

War traditionell die Familie diejenige Sozialisationsinstanz, die den Kindern kulturell akzeptierte Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Moralvorstellungen vermittelte, so übernahm in wachsendem Maße der modernisierte Staat diese Rolle, ohne jedoch dem äußerlich modernisierten Gefüge gesellschaftlicher Strukturen Vitalität und Sinngehalt verleihen zu können und damit die Kapazität ihrer Reproduktion zu steigern. Die durch die staatlich kontrollierten Schulen vermittelten moralischen Vorbilder wurden, da sie den zu Hause erlernten traditionellen weitgehend widersprachen, zur permanenten Quelle kindlich-familiärer Konflikte.

 

Ein weiteres Konfliktpotential bestand in der propagierten und sanktionierten nationalstaatlich-orientierten und real-existierenden Ich-Wir-Balance der mehr ethnisch- und/ oder konfessionell-orientierten Menschen im Iran.

 

Ein charakteristisches Merkmal der modernisierten Bildungseinrichtungen war das weitgehende Festhalten an traditionellen Lehr- und Lernmethoden, trotz veränderten Lerninhalten. Der modernisierte und als solcher entturbanisierte Lehrer wurde der Träger dieses Systems, das importierte Wissen sein substanzloser Gehalt. Zwar gehörten nun Physik, Chemie und Mathematik zum Bildungskanon, sie wurden aber genauso formelhaft auswendig gelernt wie vormals Koranverse oder Gedichte.

 

Die traditionelle iranische Ausbildung war stark autoritätsfixiert und legte ausschließlich Wert auf eine möglichst perfekte Imitation im Lernprozeß. Die in prä-modernen Zeiten besonders auf der Elementarstufe von Geistlichen getragene formelle Bildung und Ausbildung betonte religiöse, moralische und didaktische Themen einschließlich des Koran und der Dichtung von Hafes und Saädi. In diesen Maktabs (traditionellen Schulen) stellte Widerholung und Gedächtnistraining die gängige Unterrichtsmethode dar, während die Disziplin durch häufige Anwendung körperlicher Züchtigung aufrechterhalten wurde.( Arasteh , R.; Education and Social Awakening in Iran, Leiden, 1962, S.6). Diese Tradition rein mechanischen Lernens setzte sich in der Sekundarstufe in den religösen Seminaren (Madrase) fort, wo sie auch heute noch als dominante Lehrmethode vorherrscht.

 

Der Ursprung dieser Lern- und Lehrverhaltens liegt zweifellos in der früheren Verbindung von Religion und Wissenschaft als religiös-geprägtem Wissen, sowie den funktionalen Geboten des schi'itischen Islam. Anfänglich hervorgegangen aus dem Streben der frommen Moslems, die Kardinalsünde der Erneuerung oder Häresie (bidah) zu vermeiden, entstand das Prinzip des Taghlid (freiwillige Unterordnung unter den Willen einer qualifizierten geistlichen Autorität), das den Durchschnittsgläubigen der Verantwortung, in Fragen der Religion und des Alltagsverhaltens selbständig Entscheidungen treffen zu müssen, enthob. Mit allen, das Glaubensbekenntnis übersteigenden Fragen wandte er sich an den mardja-e taghlid, einen führenden faghih oder mudjtahed und handelte dann entsprechend dessen Anordnungen. Auch in den Schulen, in denen normalerweise ein Mullah oder Akhund lehrte, herrschte dieses Prinzip vor, das den Schüler streng in die religiöse Verpflichtung einband und das Gesagte Wort für Wort, ohne Frage zu stellen, zu akzeptieren verpflichtete. Obwohl auf diese Weise die Merkfähigkeit trainiert und das Risiko der bidah verringert wurde, nahm zugleich die Neigung des Schülers, eigene Denkfähigkeiten, symbolische Verknüpfungen der Ereignisse, Interpretationen und Wertungen zu entwickeln, mehr und mehr ab. Die Koexistenz von traditionellen, nur reproduktiven Lehrmethoden und modernen Inhalten kennzeichnete auch die universitäre Unterrichtsstruktur und setzte die Studenten einer permanenten Konfliktsituation aus. So produzierte dieses modernisierte Bildungssystem vor allem eine gesteigerte Angst bei den Studierenden, da sie den durch wissenschaftliche Standards geweckten Erwartungen mit Hilfe der von ihnen erlernten, rein reproduktiven, nicht zu selbständigem Denken befähigenden Lehrmethoden kaum gerecht werden konnten. Sowohl die "verantwortliche" Intelligenz, die die "Verwestlichung" ablehnte, als auch die •Technokraten", die als Verwalter auswendig gelernten Wissensstoffes nur in der Lage waren, wissenschaftliche Erkenntnisse passiv zu konsumieren und zu horten, ohne die Implikationen einer Wissensentwicklung - die Entwicklung des Wissens von Objekten, des Wissens, wie Wissen zu erlangen ist, des Wissens, wie Wissen von Objekten voranzutreiben ist, und des Wissens über Mittel des Wissenserwerbs - reflektieren zu können, waren Produkte solch einer Institution. Diese Institution verkörperte eine höchst widersprüchliche Symbiose zweier Erfahrungsweisen, zweier Welten, der mythisch-religiösen und der wissenschaftlichen. Trotz erheblicher Schwierigkeiten einer institutionellen Kommunikation zwischen Wissen mit einem relativ hohen emotionalen Phantasiegehalt, was einen hohen Grad an Engagement impliziert und Wissen mit einem relativ hohen Wirklichkeitsanteil, welches wiederum einen hohen Grad an Distanzierung darstellt, entwickelten sich doch Kontaktzonen, die jedoch durch Konfusion der symbolischen Repräsentanzen der Realität gekennzeichnet waren. Diese kennzeichnet jenen Prozeß einer weniger bewußten Verwestlichung, die als Individualisierung einer sozialisierten Ungleichzeitigkeit von mehr subjektzentriertem, mehr emotionalem nicht-wissenschaftlichem Wissen von Gesellschaft genauso wie der gleichermaßen subjektzentrierten und emotionalen nicht-wissenschaftlichen Arten von Wissen über die "Natur" (24f,Ü) einerseits und Wissen mit einem vergleichsweise hohen Grad an Objektorientierung, an Angemessenheit in bezug auf ihre Objekte, an Autonomie gegenüber den fluktuierenden Geschicken ihrer Subjekte (25Ü), zu begreifen ist. Durch die Integrierungsspannungen dieser zwei Erfahrungsweisen, dieser Zwei Arten, Geschehnisse zu verknüpfen (34Ü), wird jede Einstellung, jedes Denken und Verhalten zur Inkubation von noch nicht aktualisierten Möglichkeiten, zur passiven, formbaren Materie und daher leicht prägbar durch "Ideologien"; Vielmehr entstehen auch diese "Ideologien", die unter einer scheinbaren Angemessenheit eine nur simplifizierte Weltsicht vermitteln. Diese Art von Ideologien ist scheinbar die einzige Form geworden, in der sich das importierte Denken an eine kulturell andere Welt assimilieren kann, die von der weitgehenderen wissenschaftlich-technischen Welt ausgeschlossen bleibt.

 

Selbst die im Ausland ausgebildeten iranischen Intellektuellen, die als "Aufklärer" und später als Hochschullehrer zu personellen Trägem dieser Assimilation wurden, konnten als die verkörperte Negation einer Erfahrungswissenschaft weder historisch entstandene Probleme ihrer Gesellschaft begreifen, die auf dem Höhepunkt ihrer kulturellen Entwicklung keine Zukunftsperspektive mehr bot und in einer historisch einmaligen Situation mit der westlichen Kultur konfrontiert wurde, welche durch die Aufhebung ihrer philosophischen Tradition die wissenschaftliche Grundlage jener technologischen Entwicklung schuf, deren soziale Träger die außereuropäischen Völker vor die Alternative stellten: entweder Bourgeois zu werden oder unterzugehen; noch waren sie imstande, historisch adäquate besondere Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, weil sie durch die radikale Abkehr von ihrer bisherigen Tradition und durch die fetischisierte Entlehnung der äußeren Form westlicher Zivilisation, deren geistig-kulturelles Erbe ihnen unbekannt war, zu Trägem einer Modernisierung wurden, aus der zwei zentrale unheilvolle Probleme des Landes entsprangen: moralische Ambivalenz und geistige Verwirrung.

 

Indem diese Modernisierer die politische Lösung aller Probleme in der Einführung von "Gesetzen" sahen, ohne deren Quellen zu berücksichtigen und die Grundlagen der Gesetzgebung zu reflektieren, übernahmen sie - als schlechte Kopien eines Montesquieu - seit der "konstitutionellen Revolution" die westlichen Gesetzeskodes und verloren durch die Rechtsreform der Gesellschaft ein juristisches System, das fast die ganze islamische Shari'ah außer Kraft setzte. Obwohl das überlebte Vermächtnis der islamischen Gesetze in unterschiedlich starkem Maße bei der Rechtssprechung herangezogen wurde und lokale Sitten immer noch eine große Rolle in rechtlichen Fragen aller Art nicht nur in ländlichen Gebieten spielten, wurde überall dort, wo Institutionen des modernen Staates existierten, zumindest theoretisch das bürgerliche Recht angewandt und vollzogen.( vergl. Millward , S.16 )Mit dieser Entwicklung entstand nicht nur eine Ungleichzeitigkeit zwischen traditionellem Rechtsempfinden und modernisierter Rechtspraxis, darüber hinaus stellte sich mit der Verdrängung der Shari'ah als normativer legaler Struktur der Gesellschaft das praktische Problem, was sie - als Basis ethischer Praxis und moralischen Verhaltens -ersetzen, was den neuen moralischen Imperativ darstellen und welche Sanktionen ihn unterstützen sollten.

 

Die Re-Islamisierung ist eine massenhafte Antwort auf diese Frage. Als ein spezifischer Typus einer selbstauferlegten Regulierung menschlichen Verhaltens und menschlicher Beziehungen ersetzt diese Moral das Ich-Ideal dieser Menschen, indem sie durch ein ihnen vermitteltes tugendhaftes Geborgenheitsgefühl sowie durch ein Gefühl der Freude und Selbstzufriedenheit ihre als Funktion ihrer Außenseiterposition entstandenen "Minderwertigkeitsgefühle" zu überwinden hilft und ihnen ein persönliches Ideal einer individuellen Sinnerfüllung verleiht. Für diese Menschen übernimmt eine solchermaßen idealisierte Moral - die ins Zentrum ihres Selbst-Bildes, ihrer sozialen Glaubensdoktrin und ihrer Wertskala tritt und als Objekt ihrer gemeinsamen Identifizierung zu ihrer Gruppenkohäsion führt und damit zu einer zusätzlichen Machtquelle wird - die gesamte Gewissensfunktion, weil ihre Selbstzwangsinstanzen für die sich aus der sozialen Dynamik resultierende Veränderung der Art und Weise, wie die Menschengruppen aneinander gebunden sind, relativ triebdurchlässig, gebrechlich, labil und weniger autonom sind. Ihre nachhinkenden Selbstzwänge bedürfen in dieser Lage einer ständigen Unterstützung und Verstärkung durch Fremdzwänge.

 

Überfordert durch die realen Zwänge sowohl der eigenen und nicht-menschlichen Naturgewalten als auch der anderer Gesellschaftsmitglieder und als feindlich empfundenen Gruppen flüchten sie in die "Zwänge der Phantasie", um den Abbau ihrer eigenen unerträglich erscheinenden Spannungen, d.h. den Konflikt zwischen den als Selbstzwänge angezüchteten gesellschaftlichen Geboten und Verboten und den zurückgehaltenen spontanen Handlungsimpulsen (N. Elias, 1987a, S.168), im Sinne einer "Heilssicherung" zur "normativen Zielfunktion" ihres Staates zu machen. Getrieben von diesem Phantasiebezug erstürmen sie die Staatsmacht, um sie nach der Eroberung einer religiösen Elite zur Verfügung zu stellen, die sie selbst ausdrücklich für unmündig erklärt (Ay. Khomeini, 1983) und die im Namen Gottes auszuübende Macht ausschließlich als ihr eigenes Monopol beansprucht.

 

Die Grundlage der Akzeptanz, die Volkssouveränität durch die Souveränität Gottes zu ersetzen, dessen Gebote "weise und gerechte Rechtsgelehrte" als geltendes Recht auslegen und sanktionieren, ist die indirekte Anerkennung der Gebrechlichkeit der eigenen Selbstregulierung und der damit einhergehenden Angst vor "individueller Freiheit" als Verschiebung der Balance zwischen Fremd- und Selbstbestimmung zugunsten der ersteren. Weil diese Menschen nicht über relativ angemessen starke und gleichmäßige Selbststeuerungsmittel verfügen, soll die "Islamisierung" des Alltagslebens, z.B. der weiblichen Kleiderordnung, die scheinbaren Reiz- und Spannungsquellen verschleiern, desgleichen soll der Ideen- und Gruppenmonismus ihre durch relativ unangemessene Distanzierungsfähigkeit ausgelöste Verunsicherung durch den sich anbahnenden Pluralismus verhindern.

 

Weil sie keinen Zugang zu einer Erfahrungsform und einer Vorstellung haben, die es Menschen möglich macht, sich ihrer selbst zugleich auch außerhalb und unabhängig von der eigenen Gruppe, als einer der eigenen Gruppe gewissermaßen gegenüberstehende Person bewußt zu werden, werden sie nicht nur durch jeden institutionellen Ausdruck einer Verringerung der Machtdifferentiale zwischen allen Gruppen und allen einzelnen Individuen im Zuge der wachsenden Spezialisierung oder Differenzierung aller gesellschaftlichen Betätigungen verunsichert. Die geringe Selbstdistanzierungsfähigkeit, dieses Ausmaß und Muster der Individualisierung, manifestiert sich zudem als eine relativ weniger entwickelte Konflikt- und Konsensfähigkeit zu einer Vorstellung vom Wesen der Politik, die anstatt eines "täglichen Streites um das jeweils Richtige" den "Vollzug göttlichen Willens, orientiert an der Durchsetzung der Schari'a" (Rene Klaff, 1987, S, 47) zur Handlungsmaxime macht.

 

Diese institutionelle Entdemokratisierung ist nur verständlich, wenn man berücksichtigt, daß jedes menschliche Verhalten gegenüber sich selbst, gegenüber anderen Menschen und gegenüber den nicht-menschlichen Naturprozessen nur steuerbar ist durch die sozial vermittelten und als solche emotional verankerten Vorstellungen von sich selbst, von anderen Menschen und von nicht-menschlichen Naturprozessen. Diese symbolischen Repräsentanten der Realität als "soziale A'priori" (N. Elias, 1989) sind mit entsprechenden Denkweisen als gemeinsam kommunizierbare Orientierungs- und Kontrollmittel zwar einer ständigen Veränderung unterworfen, weisen aber auch eine gewisse Kontinuität auf. Gemessen an individuellen Zeitdimensionen erscheinen sie den Menschen entweder als unveränderbare Natur- oder göttliche Konstante, weil und solange sie von ihnen einverleibt und zu ihrer "zweiten Natur" geworden sind. Als "soziale A'priori" prägen sie das individuelle Verhalten durch die verschiedenen Sozialisationsinstanzen. Dieser Sozialisierungsprozeß ist aber nur möglich durch die Individualisierung dieser Verhaltens­und Erlebensmuster: als Bedingung der Möglichkeit der Reproduktion bzw. als Grundmechanismus der relativen Stabilisierung der menschlichen Gesellschaft.

 

Der Überlebenswert dieser gesellschaftlichen Prägung individuellen Verhaltens und Erlebens liegt jedoch in einer angemessenen Balance zwischen Veränderung und Kontinuität der Verhaltens- und Erlebensmuster. Die Kontinuität dieser Muster verliert als ein rigider "Wiederholungszwang" ihre sich aus der natürlichen Konstitutionsbedingung der menschlichen Gesellschaft erworbene lebenserhaltende Funktion, wenn sie der unbeabsichtigten Dynamik der sozialen Entwicklung zu sehr nachhinkt und so zu Verhaltens- und Empfindungsfehlsteuerungen führt. Als unangemessenes Reaktionsmuster ist der soziale Habitus dann verantwortlich für eine unkontrollierbare Dynamik sozialer Prozesse und damit für die Erhöhung der menschlichen Unsicherheit gegenüber der "Natur", gegenüber sich selbst und gegenüber sozialen Prozessen.

 

Mit dieser Verunsicherung steigt erneut der Grad des Engagements, der mit einem erneuten Grad der affekt- und triebgesteuerten Wahrnehmung zu einer Eskalation des Doppelbinderprozesses, "des Teufelskreises" mit entsprechenden Wunsch- und Furchtbildern beiträgt.

 

Die institutionelle Entdemokratisierung, die mit der Re-Islamisierung einherging ist in diesem Sinne Symptom für eine solche, aus dieser Doppelbinderfiguration resultierende Mentalität. Als eine Art Revivalismus ist diese Persönlichkeitsstruktur, diese Glaubens- und Werthaltung und Affektlage u.s.w. Funktion einer "Modernisierung", die als eine wachstumsorientierte ökonomische Entwicklung zur Desintegration früherer Integrationseinheiten, z.B. Stämme, Sippen, Großfamilien, Dörfer u.s.w., und damit einhergehenden traumatischen sozialen Auf- und Abstiegsprozessen führt, ohne daß die aus diesen Zusammenhängen entrissenen Menschen in eine nächste Integrationsstufe angemessen integriert werden können. Die mit dieser Vereinzelung der Menschen einhergehende "Entwurzelung" führt nicht notwendig und gleichzeitig zu weiteren Individualisierungsschüben, d.h. zu einer stärkeren Betonung der Ich-Identität des einzelnen Menschen und dessen emotionaler Loslösung von den traditionellen Verbänden und einer damit einhergehenden Verschiebung ihrer Wir-Ich-Balance. Eine wesentliche Rolle dabei könnten geregelte Mittel und Wege der Artikulation und eine entsprechende Vermittlung der innergesellschaftlichen Unabgestimmtheiten spielen. Sie könnten möglicherweise das Mißverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Ausrichtung des individuellen Strebens und den gesellschaftlichen Möglichkeiten seiner Erfüllung reduzieren und die wahrgenommene Trennung von "Individuum" und "Gesellschaft" bzw. vom Einzelnen und einer sich verstaatlichenden sozialen Großeinheit versöhnen und verbinden helfen.

 

Die sich selbst zusätzlich aus dem Ost-West-Konflikt speisenden Integrierungsspannungen und -konflikte, die neben "ökonomischen" vor allem Habitusprobleme waren, führten - statt zu einer Herausbildung entsprechender Mittel und Wege der gesellschaftlichen Kommunikation und Koordination - zur massiven Unterdrückung solchermaßen sich herausbildender demokratischer Institutionen, die als partikulare interessenvertretende und koordinierende Organe nicht nur soziale Aufstiegsfunktionen für die beteiligten Menschen, sondern auch gesamtgesellschaftliche Erhaltungsfunktionen hätten übernehmen können.

 

Ihre Erhaltungsfunktion bestünde vor allem in einer sozial angemesseneren Sozialisierung der "entwurzelten" Menschen, indem sie ihre Desorientierung durch angemessenere Repräsentanten der Realität ersetzt und sie sozial angemessener integriert.

 

Ohne solche institutionellen Formen der Partizipation werden die für die neuen Beziehungen erforderlichen Einstellungen bzw. Verhaltens- und Erlebensmuster entweder überhaupt nicht angeeignet, oder sie bleiben oberflächlich, bilden eine emotional nicht tief genug verankerte Schicht des sozialen Habitus bzw. der Persönlichkeit.

 

Ohne eine stärkere und stabilere Differenzierung des Seelenhaushalts, durch die unmittelbar nach außen gerichteten psychischen Funktionen den Charakter eines relativ trieb- und affektfreieren, eines "rationaler" funktionierenden Bewußtseins annehmen könnten (vergl. N.Elias, 1976), handelt der "entwurzelte" Mensch, dem nur frühere Schichten seines sozialen Habitus als Repräsentanten früherer Integrationsstufen bzw. früherer Führungsschichten zur Verfügung stehen, relativ orientierungslos.

 

Verunsichert durch die sozialen Wandlungsprozesse, die ihn vor immer neue Herausforderungen stellen, ist er für sein Überleben in seiner neuen sozialen Funktion und Position unbedingt auf die zuverlässige, unlustvermeidende Übernahme und Wiederholung bestimmter sozialer Verhaltensnormen angewiesen, die sich ihm in Gestalt der ihm vertrauten und seit Ewigkeiten als gültig erscheinenden Verhaltensvorschriften und Glaubenssysteme und/oder in Gestalt "charismatischer Persönlichkeiten" als lebendiges Vorbild idealisiert anbieten.

 

Durch die narzißtischen Verschmelzungsphantasien solchermaßen "entwurzelter" Menschen erhalten Glaubenssysteme (z.B. "der" Islam) und charismatische Führerpersönlichkeiten (z.B. Aj. Chomeint) ihre Macht, d.h. ihre gesellschaftlichen Chancen der Verhaltenssteuerung.

 

So kann die (etwa als "der" Islam) idealisierte frühere Schicht des sozialen Habitus der weniger individualisierten Menschen zum "Zentrum und Kernstück des Staates" (R. Klaff, S. 23) erhoben werden, während deren Personifizierung zum uneingeschränkten bzw. absoluten Herrscher aufsteigt.

 

Die charismatischen Führerpersönlichkeiten solcher sozialer Bewegungen rekrutieren sich in der Regel aus dem Kreis jener Menschen, die neben plagenden Habitusproblemen außerdem aufgrund ihrer schmerzhaften Erfahrung der sozialen Entfunktionalisierung und Entwertung und damit einhergehendem relativem Macht- und Prestigeverlust der realen Entwicklung der Gesellschaft massiven Widerstand entgegensetzen. Die Kerntruppe solcher Führer teilt trotz einer möglichen ökonomischen Partizipation an der Modernisierung ähnliche Erfahrungen und Ideale, die durch massenhafte Identifizierung einen Massencharakter erhalten.

 

Die massenhafte Identifizierung konstituiert einen charismatischen Typ von Herrschaft, der sich als ein Aufstiegstyp der Herrschaft in der Regel aus der sich aus dem Nachhinkeffekt ergebenden Krise speist.

 

Aus diesem Grund trachtet solcher, jeglicher demokratischen Institution gegenüber feindlich eingestellte- Typ der Herrschaft nicht nur danach, das staatliche Regelnetz, sondern auch das gesamte Alltagsleben zu kontrollieren (bzw. zu "islamisieren").