In diesem Beitrag möchte ich zunächst hervorheben, dass es inzwischen ein breites Spektrum islamischer Strömungen unter der Geistlichkeit gibt, deren ausgeprägte polaren Traditionslinien auf der einen Seite konservative Islamisten und auf der anderen Seite modern-liberale Muslime sind. Während Islamisten den Islam mit Scharia gleichsetzen und ihn als Kodex präziser Rechts- und Verhaltensvorschriften begreifen, der die politisch relevanten Normen und Institutionen bindend festlegt, was einer demokratischen Grundordnung widerspricht; strebt die modernisierte Geistlichkeit danach, die Kompatibilität von Islam und institutioneller Demokratisierung dadurch herzustellen, indem sie die Scharia ethisiert und als Kanon grundlegender Maximen und Werte versteht, die den Menschen die Freiheit vernunftgeleiteter Deutung und Anwendung der heiligen Texte lassen und damit tendenziell eine Autonomisierung der „politischen Sphäre“ erlauben.
Diese Formalisierungs- bzw. Ethisierungstendenzen des Islams sind die beiden dominanten Entwicklungstendenzen des Islam, der wie jeder andere soziale Prozess zwar reversibel ist, aber eine gerichtete Entwicklung aufweist. Dessen Entwicklung ist aber ein Teilaspekt einer gesamtgesellschaftlichen Transformation, d.h. einer Veränderung der Sozial- und Persönlichkeitsstruktur der involvierten Menschen. Mit diesen Transformationsprozessen geht einher eine gerichtete Veränderung der Selbstwahrnehmung der Menschen hin zu einem zunehmend individualisierten, d.h. autonomeren und selbstwirksameren Selbstbild. Dieses Selbstbild ist die Manifestation der Verschiebung der Balance von Fremdzwängen und Selbstzwängen und damit auch der Balance von Trieb- und Selbstzwängen und der Veränderung der Art des individuellen Einbaus der letzteren im Laufe ihres Zivilisierungsprozesses. Denn Menschen sind von Natur aus nicht zivilisiert, aber sie haben von Natur aus eine Anlage, die unter bestimmten Bedingungen eine Zivilisierung, also eine individuelle Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung von den primären auf sekundäre Zielen hin und gegebenenfalls auch deren sublimatorische Umgestaltung, möglich machen.
Mit diesem zivilisatorischen Transformationsprozess des Selbstbildes der Menschen geht einher eine Transformation ihres Gottesbildes, das seine furchterregende Funktion als Stütze einer relativ gebrechlichen Selbstregulierung niemals verliert. Mit der zunehmenden Individualisierung des Menschen geht einher nicht nur der zunehmende Funktionsverlust Gottes als Ersatz für die sich zunehmend entwickelnden individuellen Gewissen und den Verstand. Er zivilisiert sich auch in der Vorstellung der Menschen. Er erscheint ihnen weniger leidenschaftlich, wild, und unberechenbar. Er ist nicht mehr heute menschenfreundlich und voller Wohlwollen, morgen grausam, voller Hass und zerstörerisch wie sehr mächtige Menschen und ungezähmte Naturgewalten, weil sich die schwankenden natürlichen und sozialen Gefahrenniveaus reduziert haben.
Diese interdependenten Selbst- und Gottesbilder der Menschen bestimmen als soziale a’priorien die Gerichtetheit ihrer gesamten Wahrnehmung. Aus diesem Grunde sind diese unterschiedlichen Lesarten von Koran und Sunna weniger diesen Texten selbst geschuldet als vielmehr diesen textfremden interdependenten Selbst- und Gottesbildern der Menschen. Als ihre Glaubensaxiome und Werthaltungen manifestieren sie ein Zivilisationsdifferential unterschiedlicher Menschen, bestimmen aber auch die Gerichtetheit ihrer Wahrnehmung der heiligen Texte und ihrer formalisierten und ethisierten Lesarten.
Es ist dieser veränderte Wahrnehmungseffekt der zivilisierten Gottes- und Menschenbilder der Geistlichkeit und ihrer Klientel, der sich in Ethisierung des Islam manifestiert und den Menschen die Hauptrolle in der Gestaltung ihres sozialen Lebens einräumt; während ihre Formalisierung als Scharia diese Gestaltungschance untersagt. Dabei ist die Formalisierungstendenz des dominanten Teils der Geistlichkeit und ihrer Klientel ein Nachhinkeffekt ihres sozialen Habitus. Als ein zivilisatorischer Gegenprozess ist diese letztgenannte Tendenz dominant geworden im Zusammenhang mit dem erhöhten Gefahrenniveau, das sie als Funktion der Modernisierung der Gesellschaft erfahren haben. Es sind ihre relativ triebdurchlässigen, labilen und weniger autonomen Selbstzwangsinstanzen, die sich in ihrem Bedürfnis nach ständiger Unterstützung und Verstärkung durch Fremdzwänge manifestiert. Zu diesen Fremdzwängen gehören u. a. die Zwänge kollektiver Phantasien und ein Gottesbild, das als ihr forensisches Gewissen funktioniert. Zu deren Funktionen gehört die Hilfestellung und Verstärkung ihrer relativ fragilen persönlichen Selbstzwangsinstanzen. Diese Fragilität der eigenen Selbstzwangsinstanzen manifestiert sich in ein Bild von Menschen, die scheinbar ihres Glücks unkundig, ihren rebellischen Trieben unterlegen und zur normativen Strukturierung ihres sozialen, ökonomischen und politischen Lebens unfähig sind, für die Gott als Kompensation Gesetze erlässt. Angesichts dieser Gesetzesunkundigkeit der Menschen bestehe die Sendung des Propheten in der Übermittlung der ewig geltenden göttlichen Gesetze. Aus diesem Grunde dreht sich für sie die Offenbarung Gottes nur um Gesetzgebung, während die göttlichen Gesetze das Herzstück des Islams bilden. Dabei begreift die konservative Geistlichkeit Gottesgesetzgebung im geläufigen Sinne und das Gesetz als Verkörperung der absolut geltenden Werte unter besonderen äußeren Bedingungen. Diesem Gottesbild als Gesetzgeber entspricht ihr interdependentes Menschenbild. Es ist das Bild eines in der Pflicht stehenden Wesens und unmündigen Menschen, ohne jeglichen Rechtsanspruch. Er ist Bewahrer der Gottessendung. Seine Pflicht ist nur begrenzt durch allgemeine Bedingungen wie die Machtverhältnisse und Vernunft.
Demgegenüber begreift der zivilisiertere Teil der Geistlichkeit die Gesetzgebung Gottes im Sinne von Erlassen und Bestätigung ewig gültiger Werte. Für sie ist Gott kein Gesetzgeber sondern in erster Linie der Garant der ethischen Grundsätze als Orientierungsmittel für Menschen. Demnach ist Gott der „Sinnstifter der Werte“, während die Sendung der Propheten in der Etablierung der ethischen Grundlagen der irdischen Gesetzgebung besteht.
Die anthropologische Voraussetzung dieses Gottesbildes ist der historisch konkrete Mensch, der Gott als eine forensische Gewisseninstanz weitgehend verinnerlicht hat - im Sinne Jesus Christus, der sagt: "das wahre Reich Gottes ist inwendig". Für diesen Menschen ist die Religiosität ein mystisches Gefühl und Nachleben der göttlichen Moral und humanes Verhalten. Demnach habe die Geistlichkeit die Aufgabe, die sinnstiftenden Wertprobleme der Menschen als ihr zentrales Problem zu lösen. Für diese Geistlichkeit sind es diese historisch bedingten Menschen, die Gott mit seiner Offenbarung der ewig gültigen Wertmaßstäbe anspricht und die sich ihm gegenüber moralisch verpflichtet wissen. Von daher erwarten sie in dem heiligen Text keineswegs absolut gültige Modelle der sozialen, ökonomischen und politischen Ordnung zu finden. Sie erwarten nur, die allgemeinen Gebote und absolut gültigen Werte für die sich permanent wandelnde Gesellschaft der Menschen zu finden – so Mohammed Mudjtahed Schabestari.
Folglich sind es weniger die statisch gedachten Islam und Demokratie, deren Kompatibilität oder Inkompatibilität festgestellt werden sollen, als vielmehr mit einander konkurrierende, graduell unterschiedlich zivilisierte Muslime mit unterschiedlichen Lesarten ihrer heiligen Texte. Das Ergebnis dieser Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe ist zwar die Folge einer kognitiven Umstrukturierung der islamisch geprägten Menschen. Doch diese Umstrukturierung selbst hängt ab von der sich verschiebenden Balance zwischen Engagement und Distanzierung der involvierten Menschen, wie sie sich aus dem empfundenen Gefahrenniveau ergibt. Letztere ist aber Funktion der globalen und nationalen Ziel- und Interessenkonflikte und der Art ihrer Austragung.
Zu den kommunikationspsychologischen Aspekten des Korans als unabdingbare Bedingung der Vermeidung von Missverständnissen bezüglich des heiligen Buches der Muslime .
"Man kann nicht nicht kommunizieren"(P.Watzlawick)
Neben diesen polaren Positionen der Geistlichkeit entstand nach der "Islamischen Revolution" im Iran eine zunehmend größere Gruppe von Islamwissenschaftlern, die sich auf eine neue Lesart des Korans als der einzigen Quelle der Glaubensaxiome und Werthaltung der Muslime konzentrieren. Zu diesen Islamwissenschaftlern gehört auch Dr. Azmayesh, dessen Forschungsergebnisse in seinem 2016 erschienen Buch vorliegen.2
Doch bevor ich auf die innovativen Aspekte seiner Forschungsergebnisse über „Koran und Islam“ als ein Gegengift zum Islamismus eingehe, möchte ich zunächst thesenartig auf einen Zivilisierungsschub der religiösen Orientierung im nachrevolutionären Iran hinweisen, die ich als eine der unbeabsichtigten Folgen der Islamisierung der dortigen Revolution bezeichne; und als einen Nachholeffekt des sozialen Habitus der involvierten Menschen auffasse. Das bedeutet, dass ich die postrevolutionäre institutionelle Ent-Demokratisierung und den De-Zivilisierungsschub als einen Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Mehrheit der sozialen Träger der Revolution begreife. Als solche ist die „Islamische Republik“ der erste „Islamische Staat“ nach einer langen Modernisierungsphase in jüngster Geschichte, in der die dogmatische Tradition des Islams festgeschrieben wurde.
Da die Glaubensaxiome Setzungen sind, die nicht erkenntnismäßig, sondern bekenntnismäßig festgestellt werden, wurde mit der dogmatischen Tradition des Islams, die als Orientierungsmittel ein Ersatz für fehlende Instinkte der Menschen ist, über Jahrhunderte eine unschöpferische, starre Haltung reproduziert. Diese manifestiert sich in der Gegenwart in Gestalt des Islamismus, welcher einen Zivilisierungsschub auslöste.
Mit dem postrevolutionären Zivilisierungsschub der Glaubensaxiome der Gläubigen geht aber auch eine Transformation ihrer Werthaltungen – als zentrale Elemente der Kultur – einher, die den durch Instinktreduktion und Verhaltensunsicherheit gekennzeichneten Menschen, als generelle Orientierungsstandards dienen.
Diese Zivilisierung der Glaubensaxiome und Werthaltungen wäre aber ohne die traumatischen Erlebnisse der Menschen im nachrevolutionären Iran kaum vorstellbar gewesen. Mit den schmerzhaften Erfahrungen einer religiös legitimierten totalitären Herrschaft entstand ein massenhaftes Bedürfnis nach einer religiösen Umorientierung, das gegenwärtig von den sich als „religiöse Innovatoren“ („Noandischan-e Dini“) bezeichnenden Islamforschern befriedigt wird.
Diese Zivilisierung des Islamverständnisses, die sich in einer religiösen Umorientierung manifestiert, ergab sich aus den Reformierungsversuchen des Islams u.a. durch neue hermeneutische Koran-Rezeptionen in seinem historischen Kontext unter Berücksichtigung der linguistischen Aspekte der Koran-Interpretation, da die Sprache die Welt ist, wie die Menschen sie erfahren. Zu diesen Reformationsversuchen gehören auch die Forschungen von Dr. Azmayesh.
Einer der Aspekte der Zivilisierung der religiösen Orientierung offenbart sich vor allem in einem „barmherzigen Gottesbild“ gegenüber dem unbarmherzigen und blutrünstigen Gottesbild der herrschenden Islamisten. Damit wird eine „Religion der Barmherzigkeit“ der „unbarmherzigen Religion“ der Islamisten entgegengesetzt.
Um die Bedeutung der Zivilisierung des Gottesbildes zu begreifen, muss man die Zivilisierung als eine gerichtete Entwicklung individueller Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung auf sekundäre Ziele und deren Sublimierung begreifen. Diese ist eine Veränderung des sozialen Habitus bzw. der Persönlichkeitsstruktur der Menschen in Richtung auf ebenmäßigere, allseitigere und stabilere Selbstkontrollmuster. Dieser gerichtete psychische Transformationsprozess führt zum Strukturwandel des Seelenaufbaus der Menschen, zu dem auch die Gewissensbildung gehört.
Ohne sich je von Fremdzwängen völlig loszulösen, gewinnen außerdem die Selbstzwänge gegenüber den Fremdzwängen größere Autonomie. Zu diesen Fremdzwängen gehören auch die religiösen Phantasien und Mythen sowie Götter: "Nun habt ihr im Koran einen klaren Beweis von eurem Herren, eine Rechtleitung und Barmherzigkeit".(Der Koran, Sure 6, Vers 157)
Die Götter haben auf früheren Entwicklungsstufen, also etwa auf den durch Stämme und andere vorstaatliche Überlebenseinheiten repräsentierten Stufen Funktionen, die auf späteren Stufen in weit höherem Maße vom individuellen Gewissen und Verstand erfüllt werden. Für die heutigen gottesfürchtigen Gläubigen hat ihr Gott daher eine gewisse forensische Gewissensteilfunktion, dessen Zivilisierung eine entscheidende Bedeutung zukommt; damit können Menschen mit sich selbst und mit anderen Menschen friedlicher leben.
Dazu kommt einer realitätsangemesseneren Darstellung der Anfangsgeschichte des Islams sowie der Biografie des Gründers des Islam, Mohammed, eine entscheidende Bedeutung zu, weil er und seine tradierten Verhaltens- und Denkweisen für die Gläubigen einen fremdzwangsartigen Vorbildcharakter haben. Eine der wesentlichen innovativen Beiträge von Dr. Azmayesh besteht in seiner neuen Darstellung der Anfangsgeschichte des Islams als Fortsetzung der Abrahamischen Traditionslinie und der Biografie Mohammeds.
Damit werden dem Islamismus als einer globalen Herausforderung alternative Lesarten des Islams als eines Wandlungskontinuums entgegengesetzt. Denn der Koran ist nicht nur geschrieben; er muss auch gelesen werden. Damit wird das nicht mehr lebendige Wort wieder lebendig. Denn Lesen und Denken sind Lebensäußerungen und verleihen den Worten das Leben, das sie verlieren, sobald sie niedergeschrieben worden sind.
So kann man die Aussage, Mohammed sei der letzte Gesandte Gottes gruppencharismatisch auslegen und wie die Islamisten „als auserwählte Kinder Gottes“ die Weltherrschaft beanspruchen. Oder sie als Beginn der Aufklärung im Sinne Kants als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ begreifen; und dabei den Wahlspruch der Aufklärung bedienen: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Dabei kann man sich wie Dr. Azmayesh auf den Koran, Sure 21, Verse 51 - 71 beziehen, in dem Abraham die Götzenanbeter fragt: "Wollt ihr euch nicht des Verstandes bedienen?" Wobei Abraham als - mit dem Verstand ausgestattetes - Vorbild eines ritterlich gesinnten Edelmannes für die ganze Menschheit dargestellt wird: "Wir gewährten vordem Abraham Denkvermögen und das Nachdenken über die Wahrheit, und wir wussten Bescheid über ihn." (Sure 21, Vers 51)
Wir lesen, dass wir uns Gottes Gesetze unterwerfen sollen im Sinne der Islamisten als einer Unterwerfung unter die Scharia; oder diese als Naturgesetze entdecken und befolgen; bzw. als soziale Regelmäßigkeiten wie z.B. der Zivilisation erkennen und uns entsprechend den Zivilisationsstandards - als moralphilosophisch begründeten Gebote und Verbote - benehmen. In diesem Sinne folgen wir verantwortungsbewusst den Natur- und Humanwissenschaftlern sowie den Moralphilosophen als neuen Propheten, die durch Paradigmenwechsel immer erneut ersetzt werden können. Dabei können wir im Sinne Aristoteles ein Gebot A nicht als etwas Gutes befolgen, weil es Gott geboten ist; sondern weil das Gebot A im Sinne des Zivilisationsstandards gut ist, uns von Gott auferlegt wurde: "Er hat herab gesandt zu dir das Buch mit der Wahrheit, bestätigend das, was ihm vorausging; und vordem sandte Er herab die Thora und das Evangelium als eine Richtschnur für die Menschen; und Er hat herab gesandt eine Richtschnur für die Menschen; und Er hat herab gesandt die Maßstäbe", (weil sie gut sind) (Der Koran, Sure 3, Vers 1 - 3)
Wir können uns fatalistisch dem von Gott bestimmten Schicksal hingeben oder unser Schicksal als Ergebnis der selbstverantwortlichen Lösung der vom Leben gestellten Aufgaben begreifen: "In der Prophetengeschichte liegt eine Lehre für Menschen, die sich des Verstandes bedienen." (Der Koran, Sure 12, Vers 111)
Wir können Sure 4, Vers 62 im Koran: „Oh ihr, die glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben“ so auslegen, wie die Theologen auffassen, die Jahrhunderte lang die „orientalische Despotie“ als Usurpatoren begriffen, aber trotzdem als „Schatten Gottes auf Erde“ und Garanten der Ordnung und der Unterbindung der Anarchie legitimierten. Oder wie Khomeini als Begründung der Notwendigkeit der Hierokratie heranziehen, weil die Menschen angeblich unmündig seien und eines Vormundes bedürfen. Und solange der entrückte zwölfte Imam Mahdi nicht wieder erscheint, komme diese Aufgabe der Geistlichkeit zu.
Schließlich kann man auch, die Volkssouveränität als Grundprinzip einer demokratisch verfassten Gesellschaft vorausgesetzt, daraus eine Parlamentarische Demokratie legitimieren.
Es ist also nicht nur geschrieben; es muss auch gelesen werden. Darauf kommt es an: "Er ist es, Der dir das Buch herab gesandt hat. Es enthält eindeutige, grundlegend Verse, die den Kern des Buches bilden und Verse, die verschieden gelesen werden können." ( Der Koran, Sure 3, Vers 7)
Was aber die Lesart von Dr. Azmayesh vor allem kennzeichnet, ist eine kommunikationspsychologische Interpretation der Bekenntniszusammenhänge im Koran, wie ich sie verstehe. Dies wäre ohne seine historische Kontextualisierung der in der Regel missverstandenen Wörter im Korans nicht angemessen möglich gewesen, wenn er die vier Dimensionen dieser Kommunikation differenziert aus dem Munde Mohammeds und seiner Adressaten berücksichtigen wollte. Im Unterschied zur sonst üblichen dogmatischen und buchstabentreuen Lesart, die das Buch zu einem Steinbruch verwandeln, aus dem manche das herausholen, was sie wollen; muss die kommunikationsdiagnostische Lesart der Botschaft Mohammeds folgende vier Dimensionen seines Kommunikationszusammenhanges mit seinen Gegnern und den scheinbar Bekehrten berücksichtigen, wie sie im Koran vermittelt werden:
Den inhaltlichen Aspekt, d.h. worüber gegenseitig gesprochen wurde,
Den Selbstoffenbarungsaspekt, d.h. was gegenseitig von sich selbst kundgegeben wurde,
Den Beziehungsaspekt, d.h. was die Kommunikationspartner gegenseitig von einander gehalten haben,
Den Appellaspekt, d.h. wozu sich die Kommunikationspartner veranlassen wollten.
Nur so können die abweichenden Ziel- und Zwecksetzungen der Bekenntnisse Mohammeds und seiner Bekehrungsversuche und der seiner Gegner und der scheinbar Bekehrten aus den Koran-Versen heraus destilliert werden. Dabei können die abweichenden persönlichen Zwecksetzungen der scheinbar Bekehrten und den von Mohammed vorgegebenen Leitbilder der Gläubigen unterstrichen werden, um die weitere Geschichte des Islams als eines Wandlungskontinuums im Sinne der Etablierung eines Herrschaft legitimierenden Dogmas zu begreifen. Denn „man fragt nicht, woher, durch welche Ursache sich das menschliche Handeln bestimmt, sondern man fragt, wozu, im Dienste welches Zweckes verhält sich der Mensch so, wie er sich verhält.“: "...Wir haben dir den Koran nicht herab gesandt, damit du dich über die Ungläubigen grämst, sondern er ist vielmehr eine Ermahnung an die, die Gott fürchten" (Der Koran, Sure 20, Vers 1 - 3)
Einige Thesen zur Entstehung zweier Islamversionen
"Man kann nicht nicht kommunizieren"(P. Watzlawick)
Aus diesen Ziel- und Zweckkonflikten heraus entstanden schon zur Lebzeiten Mohammeds zwei Islamversionen, die über 14 Jahrhunderte die Geschichte des Islams prägten. Schon im Koran, Sure 3, Verse 7 - 8 wird auf die verschiedene Lesart des Koran hingewiesen: "Er ist es, Der dir das Buch herab gesandt hat. Es enthält eindeutige, grundlegende Verse, die den Kern des Buches bilden und Verse, die verschieden gedeutet werden können. Diejenige aber, die abwegige Absichten hegen, befassen sich vorrangig mit den nicht eindeutigen, mit der Absicht, Verwirrung zu stiften und eigene Deutungen zu entwickeln. Die einzig richtige Deutung weiß nur Gott allein." Daraus geht hervor, dass schon seit Muhammed zwei Islamversionen gegeben hat.
Diese Entstehung zweier Islamversionen kann u.a. auf einige mögliche kommunikative Missverständnisse der Konvertierten zurückgeführt werden, wenn man einen bewussten Betrugsversuch der scheinbar "Bekehrten" ausschließen will. Dies vor allem, wenn man die Kommunikationsverflechtungen in Koran berücksichtigt.
Eine der Quellen der Missverständnisse liegt in der Kommunikationsdiagnose der involvierten Menschen; denn eine Nachricht enthält viele Botschaften. Deswegen ist immer eine Kommunikationsdiagnose notwendig, um das Botschaftsgeflecht zu begreifen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass genauso, wie man mit den eigenen Augen schaut, aber mit den Augen des Kollektivs sieht; hört man auch zwar mit den eigenen Ohren, vernimmt man aber mit den Ohren des Kollektivs. Mit dieser gerichteten Wahrnehmung ist die von Mohammed abweichende Lesart auf einen Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Beduinen zurück zu führen, mit deren stammesgeschitlich geprägtem Denken, fühlen und Handeln. So entstehen inkongruente Botschaften, die zu einer widersprüchlichen Handlungsaufforderung führen können; vor allem, wenn die Mitteilungsebene und die Metaebene nicht übereinstimmen.
Um das Schicksal der Lehren Mohammeds zu begreifen, kann man auf das Schicksal der von Marx in seinen Frühschriften nieder gelegten Gedanken hinweisen, die schließlich zum Stalinismus geführt haben. So verselbständigen sich die Gedanken in der Regel als herrschaftslegitimierende Dogmen, wie wohl auch Mohammeds Glaubensaxiome und Werthaltungen schon früh zum Islamismus geführt haben.
Außerdem ist die von Mohammed sehr oft im Koran beklagte „Scheinheiligkeit“ auch auf die systemimmanent vorliegende Möglichkeit der Verwechslung der „fiktiven Grundlage“ der von Mohammed verkündeten Sittlichkeit mit der „hypothetischen“ Grundlage derselben zurückzuführen, als die Verwechslung zwischen „kategorischen Imperativen“ und „hypothetischen Imperativen“ im Sinne Kants: Die eigentliche Sittlichkeit ist nur dann vorhanden, wenn sie auf einer fiktiven Grundlage ruht, wie Gott, Unsterblichkeit, Lohn, Strafe usw.: d.h. wir sollen wohl so handeln, als ob es unsere von Gott auferlegte Pflicht wäre (also aus Achtung vor dieser Pflicht), als ob wir dafür zur Rechenschaft gezogen würden, als ob wir für Unsittlichkeit bestraft würden: mit derselben Pünktlichkeit und mit dem selben Ernst,– also nach kategorischem Imperativ.
Aber alle hypothetischen Grundlagen derselben - Gott, Unsterblichkeit, Lohn, Strafe usw. – zerstören ihren sittlichen Charakter, und es ist niederer, gemeiner, bloßer merkantiler Egozentrismus im Sinne eines Tauschhandels mit Gott. Dies geschieht sobald „als ob“ sich in ein „weil“ verwandelt: d.h. wir sollen wohl so handeln, weil es unsere von Gott auferlegte Pflicht wäre (also Pflichtgemäß, als Mittel zum Zweck), weil wir dafür zur Rechenschaft gezogen würden, weil wir für Unsittlichkeit bestraft würden: also nach hypothetischem Imperativ.
Der Unterschied zwischen Fiktionen als zivilisatorisch nützlichen Phantasieprodukten und Hypothesen besteht darin, dass Fiktionen sowohl der Wirklichkeit widersprechen als auch in sich selbst widersprüchlich sind, während die Hypothesen nur der Wirklichkeit widersprechen können.
Im Gebet z.B., wenigstens im Islam und im Christentum, besteht ein unlösbarer Widerspruch zwischen der Allmacht Gottes, welche das Gebet erhören kann, und seiner allesvorauswissender Weltherrschaft, abgesehen von den Widersprüchen, in welche sich der Gebetsbegriff mit den Naturgesetzen verwickelt.
Fiktionen sind also Wunsch- und Furchtbilder, wie Freiheit, „personifizierte Gottheit“ oder analoge Verhältnisfiktionen, wie das Verhältnis Gott zum Christus als Vater-Sohn-Verhältnis; oder „ Herr- und Knechtschaftsverhältnis“ von Gott und seinen Untertanen im Islam. Zu diesen „praktischen“ bzw. ethischen Funktionen gehört eine Reihe moralischer Begriffe und Postulate; wie z.B. der Begriff der Pflicht, der Unsterblichkeit usw.
Sie sind nicht beweisbar, aber als Ausgangspunkt notwendige, unentbehrliche Voraussetzung eines Gedankenganges dienende Annahmen; sie sind zivilisatorisch notwendige Glaubensaxiome und Werthaltungen der Menschen.
Außerdem entstehen bei Bekehrungen zuweilen solche Übergangsspannungen und -Konflikte, die als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Bekehrten interpretiert werden können. Dabei ist die "institutionelle Islamisierung" noch nicht tief genug emotional verankert, so dass die tradierten Verhaltens- und Erlebensmuster immer noch handlungs- und erlebenssteuernd dominieren, wie bei den heutigen Modernisierungsproblemen, die zu Islamismus führen.
Darüber hinaus können je nach den Charakterzügen der Scheinbekehrten verschiedene Handlungsmotive wie Gier, Hab- und Machtsucht, Geltungsbedürfnis, Angst und Zorn verhaltenssteuernd gewesen sein und Verflechtungsdynamiken in Gang gesetzt und erhalten haben, die zum heutigen Islamismus geführt haben.
Aber die Psychogenese der Scheinbekehrten ergibt sich u.a., auch wenn man die Scheinbekehrung vor allem als inkongruente Nachricht begreift und danach fragt, welchen Vorteil ein solches Verhalten mit sich bringen könnte?3:
Ihre inkongruente Nachrichten können den Vorteil haben, dass sie sich nicht ganz festlegen, indem sie ihr Bekenntnis zu Gott und Mohammed als seinem Botschafter äußern.
Eine solche Kommunikation mit doppeltem Boden der Scheinbekehrten braucht nicht bewusst zu sein - oft sind es ihre unbewussten, uneingestandenen Wünsche, die sich durch den nicht-sprachlichen Kanal zur Geltung bringen.
Als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus, die mit Übergangsspannungen und -Konflikte einher gehen, verweisen sie auf "zwei Seelen in einer Brust", weil der scheinbar Bekehrte mit sich selber nicht ganz im Reinen ist - so wie ursprünglich "Verwestlichte" in islamisch geprägten Gesellschaften, die zu Islamisten mutierten. Dabei zielen verschiedene Bestrebungen und Gefühle nicht am gleichen Strang. Es herrscht also ein inneres Durcheinander. Ihr Scheinbekenntnis zum Islam erweist sich so als ein Verschmelzungsprodukt aus zwei Botschaften.
Die inkongruenten Nachrichten der "Bekehrten" entstehen also vorzugsweise dann, wenn ihre Selbstklärung noch nicht zum Abschluss gekommen ist, sie sich aber trotzdem zu einem Bekenntnis veranlasst fühlen. Dies ergibt sich durch die Eroberung Mekkas durch Mohammed und der sich damit verschobenen Machtbalance, die sie als ehemalige Etablierten zu Außenseitern werden lässt.
Außerdem kann jeder "Bekenner" zugleich ein Empfänger sein, der es verfehlt, seine eigenen unterschiedlichen inneren Reaktionen auf Mohammeds Botschaft für sich selbst klar zu bekommen; bei dieser verfehlten Selbstklärung "des Bekenners", kann er auch nicht klar nach außen reagieren.4 Seine Scheinheiligkeit ist also Funktion einer kognitiven und emotionalen Dissonanz und Ausdruck der Verhaltenskomponente seiner Einstellung gegenüber der Botschaft und als solches ein Nachhinkeffekt seines sozialen Habitus.
In diesem Sinne sind die heutigen Islamisten und die "Scheinbekehrten" das Ergebnis der Ungleichzeitigkeit der institutionellen und sozial habituellen Entwicklung der Gesellschaften, die zur Entstehung eines dogmatischen Islams als Legitimationsgrundlage der Kalifate führen.
Ein Nachholen des sozialen Habitus bedeutet dann, die relativ rückständigen kognitiven, emotionalen und Verhaltenstendenzen ihrer Einstellung zu überwinden, d.h. realitätsangemessener zu denken, zu fühlen und zu handeln lernen. Dazu kann der Umorientierungsvorschlag von Dr. Azmayesh erheblich beitragen.
1 Nachwort zu: Seyed Mostafa Azmayesh, "Neue Forschungen zum Koran - Wie und warum es zu zwei gegensätzlichen Islam Versionen gekommen ist", Hannover 2016.
2 Seyed Mostafa Azmayesh, "Neue Forschungen zum Koran - Wie und warum es zu zwei gegensätzlichen Islam Versionen gekommen ist", Hannover 2016.
3 Vergl. Friedmann Schulz von Thun, Miteinander reden, Störung und Klärungen, Reinbek bei Hamburg, 200439, S. 31 ff.